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Humor, Satireund Ironie
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L’humour, la satireet l’ironie
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Umorismo, satira e ironia
Humor undReligionen
Humour et religions
Umorismo e religioni
Essay vonCharles Lewinsky | Der jüdischeHumor – einNachruf
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12/2014
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TANGRAM 34
nicht mehr selbstverständlich, dass man als
Jude automatisch auf denuntersten Platz der
gesellschaftlichen Stufenleiter abonniert war.
Veränderung war möglich. Aus Veränderung
entstehen Gegensätze, und aus Gegensätzen
entsteht Humor.
Sobald ein wohlhabender oder sogar rei-
cher Jude keine absolute Ausnahmeerschei-
nungmehrwar,mussten sichdieanderen, die
diesen sozialenAufstiegnicht
geschafft hatten, mit dem
neuen Phänomen auseinan-
dersetzen. Und so entstanden
all die «Kommt ein Schnorrer
zu Rothschild»-Witze. (Nein,
ich werde hier keinen zitie-
ren. Sie kennen eh schon alle.
Aber Siedürfen trotzdem ver-
ständnisvoll schmunzeln.)
Ein weiterer Kontrast in-
nerhalb der jüdischen Gesell-
schaft entstand – und damit
sindwir schonwieder beiMo-
ses Mendelssohn – aus dem Gegensatz zwi-
schen Haskala und Chassidismus. Sollte man
sich vom Verstand leiten lassen (in «Haskala»
steckt die Sprachwurzel von Sechel) oder war
das Heil in intensivster Frömmigkeit zu su-
chen? Aus diesem Widerspruch entstanden
all die Wunderrabbi-Witze, die heute noch
dieAnthologien füllen. Nur haben sie so, wie
sie heute rezipiert werden, ihren ursprüngli-
chen Charakter verloren. Als sie entstanden,
waren sie keine niedlichen Schmunzelanek-
doten sondern Kampfpointen. Man zog mit
der Waffe der Lächerlichkeit gegeneinander
indenKrieg. (Inder gleichenArt, wie sichum
1900 die orthodoxen und die liberalen Juden
mitWitzenbekämpften.)
Nein, auch die brillantesten Pointen – und
einige der klassischen jüdischen Geschichten
erfreulich ausgegangen, dass er wohl nicht
mehr dazu gekommen wäre, jemandem von
seinem Triumph zu berichten. Oder er hat sie
nicht verstanden. Dann war die Pointe völlig
wirkungslos.
Dieses Pointenschema wird im klassischen
jüdischen Witz oft verwendet: Der gesell-
schaftlich und körperlich unterlegene Jude
setzt eine Art geistiges Jiu-Jitsu ein, um den
Sieg über einen übermächti-
gen Gegner zu erringen. Nur:
DieseWitze sind nicht typisch
jüdisch. Sie sind nur typisch
für einegesellschaftlicheKon-
stellation, in der eine unter-
drückte Minderheit sich der
unterdrückenden Mehrheit
intellektuell überlegen fühlt,
diese Überlegenheit aber nur
in Geschichten, nicht in der
Realität, auszuspielen wagt.
GleicheSituation, gleicheWit-
ze. Es ist kein Zufall, dassman
indenkurdischenGeschichten
vonNasreddinHodschanur dieNamen verän-
dernundTürkendurchPolenersetzenmüsste,
und schongingen sie als typisch jüdischer Hu-
mor durch. Genauwiedie irischenWitzeüber
die Engländer. (Nur dass dort mehr Whiskey
vorkommt.)
Witze – und ich kenne keine deutliche-
re Ausdrucksform des allgemeinen Humors
– entstehen immer in Umbruchsituationen.
Gesellschaftlich völlig stabile Gesellschaften
sind weitgehend humorlos. Die «Zeit, in der
die JudenHumor hatten», konnte erst begin-
nen, als die über Jahrhunderte festgemauer-
ten sozialen Strukturen durch dieAufklärung
erste Risse bekamen. Es gibt keine jüdischen
Pointen aus demMittelalter. Nicht einmal die
überlieferten Purimspiele sind komisch. Aber
jetzt, im 18. Jahrhundert, war es plötzlich
Witze – und ich
kennekeine
deutlichere
Ausdrucksform
des allgemeinen
Humors – entstehen
immer in
Umbruchsituationen.