TANGRAM 49

Religion und Spiritualität:
Ambivalente Ressourcen in der Rassismusbekämpfung

Maike Schöttner Sieler

Religiöse oder spirituelle Räume können Orte sein, an denen ein gutes Miteinander als erstrebenswertes Ideal nach innen und aussen gelebt wird. Auf der anderen Seite können sie auch Räume der Ausgrenzung sein gegenüber Menschen, die nicht dem Ideal der Gruppe entsprechen oder die als fremd eingestuft werden. Im Beitrag zeigt die Autorin auf, inwiefern religiöse und spirituelle Gruppen eine Ressource im Kampf gegen Rassismus sein können.

Maike Schöttner Sieler

Die Schweiz verfügt über ein breites religiöses Feld. Angefangen bei verschiedenen christlichen Richtungen bis hin zu jenen, die vom Bundesamt für Statistik als «andere» aufgeführt werden (Bundesamt für Statistik 2023). «Andere» können zum Beispiel Menschen sein, die sich einer buddhistischen oder hinduistischen Strömung zugehörig fühlen. Neben den religiösen Traditionen, die häufig als die «fünf Weltreligionen» betitelt werden, existieren in der Schweiz eine Vielzahl von Menschen, die sich eher mit dem Begriff Spiritualität identifizieren. Oftmals stellen diese Menschen ihre Lebensphilosophien aus verschiedenen Quellen individuell zusammen. Die Schweizer Religionslandschaft ist also plural, auch dank vielseitiger migrantischer Einflüsse. Für viele Menschen, die sich als religiös oder spirituell bezeichnen, dient ihr Glaubenssystem als ethischer Handlungskompass und die zugehörige Gemeinschaft als soziale Ressource. So stiftet die Gemeinschaft nach innen Identität und dient nach aussen als Unterscheidungsmerkmal. Gerade deswegen stellt sich die Frage, wie sich religiöse und spirituelle Gruppen in der Schweiz zum Thema Ausgrenzung und Rassismus positionieren. Und wie so häufig ist diese Frage komplexer, als sich vielleicht anfangs vermuten lässt.
In diesem Beitrag möchte ich aus einer religionswissenschaftlichen Perspektive darauf eingehen, wie religiöse und spirituelle Gruppen in der Schweiz auf Rassismusproblematiken einwirken. Dabei setze ich mich mit Aus- und Abgrenzungsdiskussionen auseinander und zeige auf, inwiefern religiöse und spirituelle Gruppen eine Ressource im Kampf gegen Rassismus sein können.

Spannungsfeld Religion und Rassismus

Auch wenn sich die Kirchenaustritte häufen, versteht sich die Schweiz auch heute noch als ein kulturell christlich geprägtes Land (Asad 2003, 164–165). Dieses identitätsstiftende Element bringt auch eine gewisse Abgrenzung zu anderen Glaubensgemeinschaften mit sich, die als nicht Teil der hiesigen Kultur verstanden werden. Abgrenzungen zu Musliminnen und Muslimen basieren häufig auf stereotypen Vorstellungen von Rückständigkeit, Terrorismus und von als unterdrückt wahrgenommenen Frauen. Besonders deutlich wurden diese Abgrenzungen im Kontext der Abstimmungen zum Minarettverbot 2011 und zum Verhüllungsverbot 2021, bei denen stereotypisierende und rassistische Bilder den Abstimmungswahlkampf prägten.
Im Einsatz gegen antimuslimische Ausgrenzungen wirken islamische Gemeinden in der Schweiz, wie etwa die Ahmadiyya Muslim Jamaat, und bieten Tage der offenen Tür an, um Vorurteile abzubauen. Neben Musliminnen und Muslimen sind auch Jüdinnen und Juden von Rassismus in der Gesellschaft betroffen. Der Fall eines jüdisch-orthodoxen Mannes, der im März 2024 in der Zürcher Innenstadt von einem Jugendlichen mit einem Messer attackiert wurde, zeigt die alarmierenden Dimensionen von antisemitischen Übergriffen in der Schweiz. Diese stiegen zahlenmässig seit dem 7. Oktober 2023 und dem Israel-Gaza-Krieg immens an (Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund SIG und GRA 2024, 21–22), was an der polarisierenden Dynamik des Nahostkonflikts liegt. Um in diesem Bereich Religion als verbindende und dialogfördernde Ressource einzusetzen gibt es etwa Stammtische wie den Runden Tisch der Religionen (Runder Tisch 2025) und Initiativen wie Respect – Muslim- und Judenfeindlichkeit gemeinsam überwinden (NCBI Schweiz 2022).
Trotzdem bleibt Antisemitismus eine Herausforderung für die Schweizer Gesellschaft. An den oben genannten Beispielen von antimuslimischem Rassismus und Antisemitismus wird deutlich, dass Religion dann als Ressource im Kampf gegen Rassismus und Ausgrenzung dient, wenn sie Brücken zu anderen religiösen Akteurinnen und Akteuren baut. Nach dem Motto «Nicht übereinander, sondern miteinander reden» kann so mehr gegenseitiges Verständnis für ein gutes Zusammenleben gefördert werden.
Religion kann auch im Hinblick auf Selbstermächtigung eine Ressource darstellen. Das bedeutet, dass Religion dabei helfen kann, sich selbstbewusst in der eigenen Identität zu verorten. Christliche Migrationskirchen, die ihre Mitglieder auch bei der Integration unterstützen, sind ein typisches Beispiel hierfür. Mitglieder können mithilfe ihrer Religion und der dazugehörigen Gemeinschaft lernen, ihre negative Erfahrungen zu verarbeiten, sowie Antworten und Hilfestellungen für ihre Situation finden. Religion kann somit ein Faktor sein, der Menschen in ihrem Selbstbewusstsein stärken oder Leute dazu motivieren kann, sich im Dialog für eine harmonische Gesellschaft einzusetzen. Jedoch kann das Identitätsmerkmal Religion auch Differenzen schaffen und ausgrenzend wirken. Dies ist vor allem bei Gemeinschaften der Fall, die eine Ungleichbehandlung von Aussenstehenden theologisch legitimieren. Ein Beispiel hierfür ist die Anastasia-Bewegung, die sich vor allem in der Ostschweiz angesiedelt hat und dem völkischen, rechts-esoterischen Milieu zuzuordnen ist. Ihre Mitglieder, die sich von der «Kraft der Ahnen» leiten lassen und sich wohl eher als spirituell denn als religiös bezeichnen würden, vertreten rassistische, antisemitische, antifeministische, queerfeindliche, verschwörungstheoretische, wissenschaftsfeindliche und antidemokratische Grundsätze (Lochau 2022). Am Beispiel der Anastasia-Bewegung – deren Name auf eine blonde und blauäugige Romanfigur namens Anastasia zurückgeht, die mit Tieren kommuniziert – zeigt sich, dass rassistische Ideologien häufig unweigerlich mit anderen Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit einhergehen.
Religiöse oder spirituelle Räume können also beides sein: Auf der einen Seite Orte, an denen ein gutes Miteinander als erstrebenswertes Ideal nach innen und aussen gelebt wird. Oder auf der anderen Seite können sie auch Räume der Ausgrenzung sein, in denen Menschen, die nicht dem Ideal der Gruppe entsprechen, Diskriminierung und Ausgrenzung erfahren können: Frauen, Menschen der LGBTQIA*-Community, Menschen mit Behinderungen oder Menschen, die als fremd eingestuft werden.
In der Schweiz geht von vielen Religionsgemeinschaften eine gesellschaftsfördernde Energie aus.

Religionswissenschaftliche Analyseansätze zu Religion und Rassismus

Religiöse oder spirituelle Gruppen können ganz unterschiedliche Positionen zum Thema gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit haben. Daher ist es in der religionswissenschaftlichen Analyse zentral, darauf zu schauen, wie sich die Gruppe selbst und Aussenstehende wahrnimmt. Falls eine Gemeinschaft sich auf eine Hierarchie bezieht, liegt der analytische Fokus darauf, wie diese Hierarchie legitimiert wird und ob mit dieser eine Ungleichbehandlung anderer einhergeht. Wichtig ist zu beachten, dass es zwar vergleichbare Elemente zwischen verschiedenen Gemeinschaften gibt, aber nicht jede religiöse oder spirituelle Gruppe nach denselben Werten und Mustern organisiert ist. Das heisst: Auch wenn eine religiöse Gruppe Begriffe wie Menschenwürde nicht nutzt, kann sie diese Werte trotzdem verkörpern. Ausserdem gibt es innerhalb von Religionssystemen häufig viele verschiedene Ausrichtungen – ein Umstand, der für interreligiöse Dialoge herausfordernd sein kann. Im gesellschaftlichen Dialog sind daher Offenheit und Reflexionswille Werte, die sich positiv auf ein gemeinsames Miteinander auswirken und im Kampf gegen Rassismus und Ausgrenzung als hilfreich wahrgenommen werden.

Fazit und Ausblick: Religion als ambivalente Ressource

Zusammenfassend ist zu sagen, dass Religionen und spirituelle Gruppen nie statisch oder per se rassistisch oder antirassistisch sind. Stattdessen bieten sie Aushandlungsräume, in denen die Bedeutungen und religiös legitimierten Verhältnisse von Eigen- und Fremdgruppe ausgehandelt werden. Daher können sie sowohl eine Bereicherung für die Gesellschaft darstellen, oder auch ein Hindernis für diese sein. Wenn religiöse und spirituelle Gruppen sich als Ressource verstehen möchten, zeichnen sich diese Gruppen häufig durch die folgenden Punkte aus: gesellschaftliches Engagement, eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit und internen Machtverhältnissen sowie eine liberale Haltung gegenüber Nichtmitgliedern. In der Schweiz geht von vielen Religionsgemeinschaften eine gesellschaftsfördernde Energie aus. Jedoch sind Gleichberechtigung und gegenseitiger Respekt nie Selbstverständlichkeiten, sondern Werte, die aktiv gefördert werden müssen.