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Humor, Satireund Ironie
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L’humour, la satire et l’ironie
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Umorismo, satirae ironia
Humor undReligionen
Humour et religions
Umorismoe religioni
TANGRAM 34
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12/2014
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Essay vonCharles Lewinsky | Der jüdischeHumor – einNachruf
sel auf denGrabstein einer untergegangenen
Kultur.
Denn natürlich gab es einmal eine Zeit, in
der die JudenHumor hatten. Sogar, unglaub-
licherweise, diedeutschsprachigen Juden. Die
Ära begann imOktober 1743 und endete im
Januar 1933.Warum ichdieZeitspanne soauf
denMonatgenaubeziffernkann?Nun, imOk-
tober1743kamMosesMendelssohnnachBer-
lin. Das Protokoll darüber ist erhalten: «Heute
passierten das Rosenthaler Tor sechs Ochsen,
sieben Schweine, ein Jude.» Und im Januar
1933 übernahmen die Nazis in Deutschland
dieRegierung. Anfangund Ende.
Natürlich, wie könnte es anders sein, ge-
hört zu jedem dieser Daten ein Witz. Sie
kennen bestimmt beide. (Und wenn nicht:
Machen Sie trotzdembeim Lesen ein andäch-
tiges Gesicht. Man könnte sonst meinen, Sie
hättenkeinGefühl für Tradition.) 1743:Moses
Mendelssohn stösst auf der Strasse in Berlin
mit einem preussischen Offizier zusammen.
Der schreit ihn an: «Ochse!» Mendelssohn
verneigt sich und antwortet: «Mendelssohn.»
Und 1933: Ein Jude wird von einem Trupp
SA-Leute eingekreist und gefragt: «Wer ist
der Untergang Deutschlands?» Er antwortet:
«Die JudenunddieRadfahrer.» –«Warumdie
Radfahrer?», will man von ihmwissen und er
fragt zurück: «Warumdie Juden?»
Beiden Witzen ist gemeinsam, dass sie
reine Phantasiegebilde sind. Denn selbstver-
ständlich hat sich weder die eine noch die
andere Geschichte tatsächlich ereignet. Und
wenn, hat sie bestimmt nicht mit dem verba-
len Sieg geendet, den wir so nostalgisch be-
lächeln. Denn es gibt ja nur zwei Möglichkei-
ten: EntwederhatderGegner, obpreussischer
Offizieroder SA-Mann, diePointeverstanden.
Dann ist die Geschichte für den jüdischen
Protagonisten wahrscheinlich so extrem un-
Der jüdischeHumor – einNachruf
Essay vonCharles Lewinsky
JudenhabenkeinenHumor. Punkt.
Der goldene jüdische Humor, der so gern
zitiertwird, isteinKompendium traditioneller
Witze. Immerderselben. Es ist völligegal,wel-
che der ständig neu produzierten Anthologi-
enman sichkauft – sieenthaltenalledieglei-
chen Geschichtchen. Ein ganz klein bisschen
anders istnurdas klassischeKompendium von
Salcia Landmann. Dort stehen zwar auch die-
selben Lozelachs drin, aber bei den meisten
sind die Pointen so verhatscht, dass man sich
wenigstensmitdemVersuchvergnügenkann,
die ursprüngliche Geschichte im Kopf zu re-
konstruieren.
Dieser rein historische Charakter des jüdi-
schen Humors zeigt sich am deutlichsten da-
rin, wie wir darauf reagieren, wenn jemand
anfängt Witze vom Wunderrabbi oder von
Hersch Ostropoler zu erzählen. Für gewöhn-
lich läuft der Austausch komischer Geschich-
ten doch so ab: Wenn einer zu einemWitz
ansetzt, den der andere schon kennt, wird er
nach zwei Sätzen unterbrochen.«Den kenn
ich», sagt der andere. Und wenn man dann
nicht sofort einen anderen, unverbrauchten
Witz auf Lager hat, ist der humoristische Ruf
gründlich ruiniert.Bei jüdischenWitzen istder
Ablauf ein anderer. Der eine setzt zu einem
Witz an, der andere kennt ihn schon (jeder
kennt jeden jüdischenWitz), aberderErzähler
wird nicht etwa unterbrochen. Nein, sein Zu-
hörer macht ein verklärtes Gesicht – mindes-
tens so verklärt, als obman ihm gerade eine
PortiongefilltenFischnachdemRezept seiner
heissgeliebtenGrossmuttervorgesetzthätte–
und sagt: «Ja, der ist gut. Den musst du un-
bedingt erzählen.»Unddannhört er sichden
Witz, den er schon kennt, so ehrfürchtig an,
als ob Schofar geblasenwürde.
Jüdische Witze zu erzählen ist ein Ritual.
Mit jederWiederholung legenwir einen Kie-