TANGRAM 35 Bulletin der EKR Juni 2015 - page 36

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Diskriminierungsschutz als zentrales AnliegenderMenschenrechte
Laprotection contre ladiscriminationau cœur des droits humains
La tuteladalladiscriminazione al centrodei diritti umani
TANGRAM 35
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6/2015
| Urs Güney | Rassismus bedrohtMenschenrechte
deutungslos. Unsere Freiheit, religiös zu sein
oderdenKirchendenRückenzukehren, stellt
niemand in Frage, und sogar im Fall einer un-
gerechtfertigten Strafanzeige vertrauen die
meisten von uns darauf, ein faires Verfahren
zu bekommen. Der hohe Grad anMenschen-
rechtschutz in der Schweiz bedeutet, dass die
Menschenrechte für die grosse Mehrheit der
Schweizerinnen und Schweizer im Alltagsle-
ben irrelevant geworden sind.
Wer ist aus dieser Mehrheit ausgeschlos-
sen?
Urteile des Bundesgerichts und des Euro-
päischen Gerichtshofs für Menschenrechte
werden in der Öffentlichkeit vor allem the-
matisiert, wenn es um Angehörige religiöser
Minderheiten,AusländerinnenundAusländer
oder Familien geht, die als Folge der Auswei-
sung eines kriminellen Angehörigen ausein-
andergerissen würden. Das weckt bei einem
wachsenden Teil der Bevölkerungdas Gefühl,
Menschenrechte seien nicht für «uns», son-
dern für Menschen, die nicht wirklich zu uns
gehören. Das ist natürlich falsch. Menschen-
rechte sinddieGrundlage für Freiheit, Gleich-
heitundSicherheit vonunsallen.Aberbei uns
sind sie zu selbstverständlich geworden, als
dass ihregrosseBedeutungerkanntwürde.
In welchem Verhältnis stehen Rassismus
undMenschenrechte?
Zuerst einmal ist der Anspruch auf Schutz
vor Rassismus und Rassendiskriminierung
selbst ein Menschenrecht. Dies ist nicht nur
in der Anti-Rassismuskonvention der UNO
so verankert, sondern auch in anderen Men-
schenrechtsverträgen. Gleichzeitig kann, wer
Opfer von Rassismus ist, andere Menschen-
rechtenichtwahrnehmen. Es ist nachvollzieh-
bar, dass Opfer von alltäglichem Rassismus
oft eingeschüchtert sind und nicht wagen,
ihre eigeneMeinung zu äussern. Wer wegen
seiner Herkunft keine Lehrstelle findet, ist in
Rassismus bedrohtMenschenrechte
Walter Kälin imGesprächmit Urs Güney
Der weitreichende Menschenrechtschutz
in der Schweiz führt dazu, dass viele Schwei-
zerinnen und Schweizer die Bedeutung der
Menschenrechte unterschätzen. Wer glaubt,
diese seiennur für«dieanderen», liegt falsch.
Walter Kälin erklärt, wie Diskriminierung die
Grundrechteuntergräbt.
Kommt die Rede auf Verletzungen von
Menschenrechten, denkt kaum jemand zuerst
andie Schweiz. ZuRecht?
Ja und nein. Ja, weil die Schweiz nicht
nur im Vergleichmit Staatenwie Syrien oder
Libyen, sondern auch mit demokratischen
Ländern einen ausserordentlich hohen Men-
schenrechtsstandard besitzt. Nein, insoweit
als auch unser Land in verschiedenen Berei-
chen Menschenrechte nicht voll verwirklicht
und punktuell im Vergleich zu anderen Staa-
ten Nachholbedarf aufweist. Gerade im Be-
reich des Diskriminierungsschutzes sind uns
verschiedeneeuropäische Staaten voraus.
Einerseits sind dieMenschenrechte fest in
unserem Staat verankert, anderseits wurden
sie in den vergangenen Jahren im politischen
Diskurs immerwieder inFragegestellt.Woher
kommt dieserWiderspruch?
Menschenrechte sind etwas Paradoxes:
Sie gelten für alle Menschen vorbehaltlos,
werden für die Einzelnen aber erst wirklich
wichtig, wenn sie bedroht sind. Da ich nicht
befürchten muss, wegen Kritik am Bundes-
rat verhaftet und misshandelt zu werden, ist
das Folterverbot für mich als Individuum be-
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