TANGRAM 35 Bulletin der EKR Juni 2015 - page 52

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StrafnormgegenRassendiskriminierung: unverzichtbar, aber ungenügend
Lanormepénale contre le racisme : indispensablemais insuffisante
Lanormapenale contro ladiscriminazione razziale: indispensabile,ma insufficiente
TANGRAM 35
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6/2015
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TarekNaguib undGiulia Reimann | 20 Jahre Rassismusstrafnorm – einBlick in die Rechtspraxis
oder ein Twitter-Account öffentlich oder pri-
vat ist. Die Tendenz der Gerichtspraxis spricht
auch hier für Öffentlichkeit.
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Privat wäre eine Facebook-
Timeline erst dann, wenn
die betroffene Person ihre
«Posts» nur mit Freunden tei-
lenwürde und diese Freunde
wiederum alle durch persön-
liche Beziehungen miteinan-
der verbundenwären. IndiesemSinn«privat»
sind SocialMediaAccounts heute jedocheher
der Ausnahmefall.
Wer ist vonder Strafnormgeschützt?
Artikel 261
bis
StGB schützt Personen oder
Gruppen, die «wegen ihrer Rasse, Ethnie
oder Religion» diskriminiert werden
25
. In der
Praxis besteht vereinzelt Unsicherheit, was
genau dazugehört. Schwierig ist zum einen
die Abgrenzung von Religionen und Sek-
ten.
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Zum anderen lässt sich nicht immer so
einfach beantworten, was unter den Begriff
«Ethnie» fällt.
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«Personen aus dem Balkan»
wurden einmal als Ethnie verstanden
28
, ein
anderesMal nicht
29
. Unklar ist auchdieDiffe-
renzierung zwischen«Ethnie»und«Nationa-
lität».Wörtlich genommen ist nämlich durch
Artikel 261
bis
StGB nicht geschützt, wer auf-
grund seiner Nationalität diskriminiert wird,
da die Nationalität (z.B. «Schweizer»
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oder
«Türken») hier primär ein rechtlicher Status
ist, der nicht durch die Rassismusstrafnorm
erfasstwird.
In der Regel ebenfalls nicht strafbar sind
diskriminierende Äusserungen über «Auslän-
der»oder«Asylsuchende».Diesbestätigtedas
Bundesgericht im Jahre 2014 in einem Fall, in
dem es die Beschimpfungen «Drecksasylant»
und «Sauausländer» als nicht rassistisch im
strafrechtlichen Sinne und als blosse «Missfal-
lenskundgebungen» qualifizierte.
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Das Urteil
wurde jedoch kritisiert. Die Meinung in der
Bundesgerichts aus dem Jahre 2004 gilt eine
Handlung oder Äusserung nach Artikel 261
bis
StGB als öffentlich «wenn sie
von unbestimmt vielen Perso-
nen oder von einem grösse-
ren, nicht durch persönliche
Beziehungen zusammenhän-
genden Personenkreis wahr-
genommen werden kann».
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Drei Jahre später befand das
Bundesgericht zudem, dass es bereits genü-
ge, wenn die «konkrete Möglichkeit einer
Wahrnehmung des Vorfalls durch unbeteilig-
te Dritte bestehe».
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Im Fall von 2004 stellte
sich die Frage, ob ein «Skinhead»-Treffen in
einer Waldhütte, an dem nur geladene Gäs-
te teilnehmen konnten, privat oder öffentlich
sei. Das Bundesgericht war der Auffassung,
dass der Anlass im Sinne der Strafnorm als
«öffentlich» gilt, da die Teilnehmer nicht alle
«durch persönliche Beziehungenmiteinander
verbunden»waren.
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Oft wird kritisiert, Artikel 261
bis
StGB grei-
fe zu sehr in die Privatsphäre ein. Künftig
dürfe ja nicht einmal mehr an Stammtischen
frei gesprochen werden. Allerdings waren
Stammtisch-Gespräche schon früher «so öf-
fentlich, wie sie es heute sind, sofern sie von
Dritten wahrgenommen werden können».
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Aussagen «im Familien- und Freundeskreis
oder sonst in einem durch persönliche Bezie-
hungenoderbesonderesVertrauengeprägtes
Umfeld» bleiben jedoch stets Privatsache und
werden vonArtikel 261
bis
StGB nicht erfasst.
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Für die Geschädigten ist dies allerdings nicht
immer befriedigend.
Aufgrund zunehmenden Gebrauchs von
sozialen Medien wie Facebook, Twitter oder
YouTube erstaunt es nicht, dass auf diesen
Plattformen vermehrt auch rassistischeÄusse-
rungen auftauchen. Dabei stellt sich die Fra-
ge, ob beispielsweise eine Facebook-Timeline
Das primär
geschützteRechtsgut
der Strafnorm ist die
Menschenwürde.
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