Davide Rodogno - Seit 2014 Ordinarius am Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung (lnstitut de hautes études internationales et du développement, IHEID) in Genf. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des Humanitarismus, der Menschenrechte und des Rassismus, der internationalen Organisationen, der philanthropischen Stiftungen sowie der internationalen öffentlichen Gesundheit seit dem 19. Jahrhundert. Er war 2008 Mitbegründer des History of International Organizations Network, begann eine Zusam- menarbeit mit dem Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondmuseum und gründete ein Podcast-Start-up in Partnerschaft mit dem Festival du film et forum international des droits humains (FIFDH). Seit 2020 ist er Leiter der interdisziplinären Programme am IHEID. Zusammen mit Prof. Mohamed Mahmoud Mohamedou publizierte er 2022 eine von der Stadt Genf in Auftrag gegebene Studie über Rassismus im öffentlichen Raum.
Eine einleitende Frage: Was versteht man unter «Multilateralismus» aus historischer und politischer
Sicht?
Davide Rodogno: Historisch betrachtet bedeutet Multilateralismus den Willen souveräner Staaten, sich an einen Tisch zu setzen, um gemeinsam Probleme von allgemeinem, gemeinsamem Interesse zu lösen. Im Bereich der internationalen Beziehungen wird Multilateralismus als zwischenstaatliche Form der Organisation definiert, häufig als internationale Institution, mit dem Ziel, gemeinsam, gleichberechtigt und dauerhaft globale Herausforderungen zu bewältigen. Multilateralismus setzt die Kooperation von mindestens drei Staaten voraus, die auf der Basis gemeinsamer Regeln zusammenarbeiten.
Seit wann spricht man von Multilateralismus?
Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Meinung gibt es Multilateralismus nicht erst seit dem 20. Jahrhundert. In Europa entsteht er schrittweise mit der Konsolidierung souveräner Staaten und den ersten Bemühungen um transnationale Zusammenarbeit. Der Wiener Kongress von 1815, der nach den Napoleonischen Kriegen die politische Landkarte Europas neu zeichnet, und die zahlreichen Verträge und Abkommen des 19. Jahrhunderts über Post, Handel, Menschenrechte, öffentliche Gesundheit oder Seerecht zeugen von einem sich herausbildenden, den westlichen Mächten vorbehaltenen Multilateralismus. Ein Wendepunkt war die Gründung des Völkerbundes 1919, der erste institutionelle Multilateralismus-Rahmen auf globaler Ebene. Der Völkerbund hatte das Ziel, Kriege auf dem Verhandlungsweg zu verhindern und ein System der kollektiven Sicherheit einzuführen. Er legte damit den Grundstein des modernen Multilateralismus. Auch nichtstaatliche und nicht-supranationale philanthropische und humanitäre Akteure wie die Rockefeller-Stiftung oder das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) traten aufs Parkett und fügten sich in das multilaterale System ein. Der Grundstein des modernen Multilateralismus wurde jedoch 1945 mit der Gründung der Vereinten Nationen (UNO) durch 51 Länder gelegt. Die UNO trat an die Stelle des Völkerbundes, der als Friedensstifter gescheitert war. Das Ziel blieb weiterhin, einen neuen globalen Konflikt zu verhindern. Die UNO steht für eine institutionalisierte, globale Ausformung des Multilateralismus, beruhend auf der Charta der Vereinten Nationen, der Souveränität der Staaten und einer Reihe von Sonderorganisationen (WHO, FAO, IWF usw.). Der Multilateralismus ist so zu einem strukturierten, kodifizierten, globalen System geworden.
Welchen konkreten Zweck erfüllt der Multilateralismus?
Er regelt internationale Beziehungen, verhindert Konflikte, fördert den wirtschaftlichen und zwischenmenschlichen Austausch, regelt die Gemeingüter und legitimiert die Weltordnung. Multilateralismus beruht auf einer einfachen Feststellung: Kein Staat kann Herausforderungen wie den Klimawandel, die Gesundheit oder die kollektive Sicherheit allein bewältigen.
Gab es ein goldenes Zeitalter des Multilateralismus?
Man muss wohl eher von Sternstunden als von einem längeren und dauerhaften goldenen Zeitalter sprechen. Denn das Ideal der Kooperation musste sich oft nationalen Interessen und regionalen Dynamiken beugen. Zu den guten, hoffnungsvollen Momenten gehörten sicher die 1920er-Jahre, insbesondere die Verträge von Locarno 1925, mit denen die kollektive Sicherheit in Europa gewährleistet und die Grenzen Deutschlands festgelegt werden sollten. Oder auch die 1960er-Jahre, als sich ein gewisser Konsens zwischen den Grossmächten herausbildete. Die ausgereifteste Form des Multilateralismus hätte sich in den 1970er-Jahren mit dem Abschluss des Dekolonialisierungsprozesses verwirklichen lassen. Leider scheiterte dies am fehlenden Willen, die neuen unabhängigen Staaten gleichberechtigt zu integrieren. Das Ende des Kalten Krieges (1990–1992) war eine kurze Zeit des Optimismus und des wiedererwachten Glaubens an die Institutionen und die Menschenrechte. Doch die Konflikte in Somalia und in Jugoslawien und der Völkermord in Ruanda zeigten auf brutale Weise die Grenzen des Systems. Kurz gesagt: Der Multilateralismus war nie vollkommen universell und nie vor dem Recht des Stärkeren geschützt.
Stehen die Menschenrechte im Zentrum des Multilateralismus oder sind sie nur Fassade?
Wir haben es schon erwähnt: Der Multilateralismus entstand aus dem Willen, Frieden und damit einen gewissen wirtschaftlichen Wohlstand zu schaffen. Er hatte organisatorische Herausforderungen zu bewältigen, beispielsweise in den Bereichen Handel, Sicherheit und geistiges Eigentum. Ethik und Menschenrechte kamen schrittweise hinzu, vor allem nach 1945. Der Multilateralismus – insbesondere verkörpert durch die UNO und den Menschenrechtsrat – richtete sich weiter auf die Ablehnung der Barbarei und das Streben nach einer Weltordnung aus, die sich unter anderem auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) und das humanitäre Völkerrecht stützt. Diese Regelwerke haben der multilateralen Ordnung eine moralische Legitimität verliehen. Doch in der Realität bewegt sie sich ständig zwischen ethischem Ideal und strategischer Logik. Man kann sagen, dass die Menschenrechte das Herzstück und das gute Gewissen des Multilateralismus bilden.
Spiegelt der aktuell geltende Rahmen des Multilateralismus eine allzu westliche Sicht der Menschenrechte wider?
Ja, das kann man schon so sehen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte – unbestritten ein grosses Werk – ist in einem von den West- und Kolonialmächten dominierten Kontext entstanden. Ihr ideologisches Fundament ist von der europäischen Aufklärung inspiriert und stellt vor allem liberale und individualistische Werte in den Vordergrund. Zu den Unterzeichnenden der Erklärung gehörten viele Kolonialmächte mit einem Zweiklassensystem: In ihren Kolonien galten die Menschenrechte nicht. Die neuen unabhängigen Staaten schlossen sich der Erklärung schrittweise an und anerkannten ihren Wert trotz westlicher Prägung. Es hat sich ein Minimalkonsens durchgesetzt: Wir sind die Gemeinschaft der Menschen, und unsere Grundrechte dürfen nicht von unserer geografischen Herkunft abhängen. Man muss also einerseits die unvollkommene Universalität dieser Rechte und andererseits ihren positiven Beitrag zum Multilateralismus anerkennen.
Finden die Länder des globalen Südens in den internationalen Gremien ausreichend Gehör?
Noch nicht. Diese Länder bilden weltweit die demografische Mehrheit, doch bei Entscheidungsfindungen werden sie allzu oft marginalisiert, obwohl sie von den grossen Herausforderungen unserer Zeit (Klima, Armut, Ernährungssicherheit) am stärksten betroffen sind. Ihre regelmäßig erhobenen Forderungen nach einer neuen, gerechteren Weltordnung werden häufig ignoriert oder verwässert. Viele Länder des globalen Südens haben Einsitz in der Generalversammlung der UNO. Dennoch werden sie bei der Entscheidungsbefugnis des Sicherheitsrats, der immer noch von der Weltordnung von 1945 dominiert wird, auf eine weitgehend symbolische Rolle verwiesen. So ist beispielsweise kein afrikanisches oder lateinamerikanisches Land ständiges Mitglied dieses strategischen Gremiums. Auch bei wirtschaftlichen Interessen bleiben die globalen Governance-Strukturen wie der IWF oder die Weltbank in den Händen der Länder des Nordens, die Bedingungen auferlegen, die weit von den gesellschaftlichen und historischen Realitäten der neuen unabhängigen Staaten entfernt sind. Diese strukturelle Ungleichheit hat zu wachsender Frustration und einem dauerhaften Gefühl der Ausgrenzung geführt.
Welche Rolle spielt das postkoloniale Erbe in der multilateralen Architektur?
Die internationalen Beziehungen bleiben geprägt von kolonialen Hierarchien. Selbst internationale Gremien – die UNO und das humanitäre System nicht ausgenommen – reproduzieren, oft unbewusst, Muster der Ungleichheit. Die Länder des Südens fordern seit Jahrzehnten eine Dekolonisierung der internationalen Institutionen in ihrer Funktionsweise und ihrer Kultur. Doch das gegenwärtige System schreibt die hierarchischen Strukturen fort und schadet so der Legitimität und der Effizienz des Multilateralismus. Auch in seiner symbolischen Dimension wurde die Erinnerung an den Kolonialismus weder korrigiert noch ins globale Narrativ integriert. Das Gefühl der Ungerechtigkeit und des strukturellen Ungleichgewichts bleibt bestehen. Es ist nicht nur ein moralisches Gebot, diese Stimmen gleichberechtigt einzubeziehen, sondern es ist eine unverzichtbare Bedingung für das Überleben des Multilateralismus selbst.
Wird der Aspekt der rassistischen Ungleichheit in den internationalen Beziehungen hinreichend berücksichtigt?
Nur am Rande. Auch wenn diese Themen in den letzten Jahren an Sichtbarkeit gewonnen haben, insbesondere durch globale Bewegungen wie Black Lives Matter seit 2020, bleiben sie in den diplomatischen Debatten, den multilateralen Institutionen und der internationalen Politik weitgehend marginalisiert. Dass sie so wenig Beachtung finden, ist auf eine unbequeme Tatsache zurückzuführen: Rassismus gibt es überall auf der Welt, auch in den Ländern des globalen Südens. Zu denken, dass die Gesellschaften des globalen Südens frei davon wären, ist ein grosser Irrtum. Nur wenige Staaten im Norden wie im Süden sind bereit, sich dieser Problematik zu stellen, denn dies würde bedeuten, dass sie sich mit ihren eigenen historischen, gesellschaftlichen und politischen Widersprüchen auseinandersetzen müssten.
Könnte der Multilateralismus trotz allem eines Tages ein Instrument im Kampf gegen Rassismus werden?
Ehrlich gesagt, glaube ich das nicht. Zumindest ist er bisher auf diesem Gebiet gescheitert. Die UNO hat bei der Bekämpfung des strukturellen Rassismus nie eine zentrale Rolle gespielt. Selbst auf die Zeit der von Martin Luther King angeführten Bürgerrechtsbewegungen in den USA, als man auf eine stärkere Beteiligung multilateraler Gremien hoffen konnte, folgte nichts Konkretes. Und heute ist der Multilateralismus nicht nur keine Waffe gegen Diskriminierung, sondern selbst ein Akteur des strukturellen Rassismus. Um dies zu ändern und systemische Ungleichheiten zu bekämpfen, bräuchte es tiefgreifende Veränderungen der Institutionen, auch in ihrer internen Kultur. Damit das Thema Rassismus tatsächlich in die globale Menschenrechtsagenda aufgenommen würde, müsste erst das Bewusstsein dafür geschaffen werden – insbesondere seitens der ehemaligen Kolonialmächte. Und dies müsste sich in konkreten Massnahmen niederschlagen: Prioritär ginge es um die Anerkennung der historischen Verantwortung, die Wiedergutmachung vergangenen Unrechts (durch Sklaverei und Ausbeutung von Ressourcen), die Reflexion der Machtverhältnisse und die Verankerung des Kampfes gegen systemischen Rassismus.
Heute beobachten wir einen Zerfall des Multilateralismus. Sprechen wir von einer Krise oder einem Wandel?
In seinen gegenwärtigen Formen befindet er sich zweifellos in einer Krise. Das seit 1945 geltende System ist überholt, insbesondere angesichts des wiederaufkommenden Nationalismus. Aber als Methode der Zusammenarbeit ist der Multilateralismus nicht gestorben, vielmehr ist er im Wandel. Er passt sich an, bezieht neue Akteure ein, überlegt sich andere Architekturen und Allianzen. Die UNO bleibt eine tragende Säule und Garantin für Stabilität in der Welt, insbesondere dank ihren nach wie vor unverzichtbaren Agenturen. Sie könnte allerdings geschwächt werden, falls sie das Vertrauen und die Finanzierung gewisser Mitglieder verliert. Will sie weiterhin eine zentrale Rolle spielen, muss sie in erster Linie ihren Sicherheitsrat von Grund auf reformieren.
Muss mit einer Erosion der Menschenrechte gerechnet werden?
Ja. Die Menschenrechte und die internationale Zusammenarbeit verlieren global an Boden. Der Aufstieg autoritärer Regime, die Schwächung der multilateralen Institutionen sowie identitäre Bewegungen sind Symptome dafür. Diese Erosion ist überall auf der Welt zu beobachten, angefangen bei den USA und den Konflikten im Nahen Osten, in der Ukraine und in Afrika. Sie zeigt sich auch in der zunehmend unmenschlichen, unterschwellig rassistischen Behandlung der Migrantinnen und Migranten, insbesondere im Mittelmeerraum. Nur schon die Idee universeller Werte, sozialer Errungenschaften und Grundsätze des kollektiven Schutzes werden in Frage gestellt, obwohl sie eher noch gestärkt werden müssten.
Welche Reformen bräuchte es, damit der Multilateralismus besser legitimiert und gerechter würde?
Die bestehenden Institutionen müssen grundlegend reformiert werden, sowohl in ihrer Zusammensetzung als auch in ihrer Funktionsweise und ihrer Art, die Welt zu sehen. Der Multilateralismus muss repräsentativer, vertrauenswürdiger und solidarischer werden, was eine ganze Reihe von Veränderungen erfordert: repräsentativere Institutionen (u. a. durch eine stärkere Einbindung des globalen Südens); verbindliche Mechanismen, um Entscheidungen durchzusetzen; mit Rechtsmitteln ausgestattete Institutionen, um Verstösse zu ahnden (Menschenrechte, Klima, Gesundheit usw.), und wirklich unabhängige Kontrollorgane. Ich bin überzeugt, dass Multilateralismus der beste Weg ist, um gemeinsame Herausforderungen zu bewältigen, sofern alle Akteure, die dies wünschen, gleichberechtigt einbezogen werden. Staaten, die sich vom Multilateralismus abwenden, wie die USA und gewisse europäische Länder, werden letztlich den Preis dafür zahlen müssen. Die Abkehr einiger Partner ist kein Grund für Stillstand oder das Ende des multilateralen Projekts, das mit viel Geduld und Bedacht aufgebaut wurde. Diejenigen, die bleiben, haben die Verantwortung, eine neue, eine gerechtere Ordnung aufzubauen. Von selbst kommen diese Reformen aber nicht: Es braucht einen globalen politischen Willen und auch einen stärkeren Druck der Zivilgesellschaften und der Staaten des globalen Südens, um ein neues internationales Gleichgewicht einzufordern.
Welche Rolle könnte die Schweiz dabei spielen?
Die Schweiz ist zwar ein kleiner Staat, aber sie spielt international eine Rolle, die weit über ihre geografische Grösse hinausgeht. Sie ist ein Nervenzentrum des Multilateralismus (UNO, WHO, WTO, IKRK, OHCHR usw.). Sie praktiziert eine aktive Neutralitätspolitik und verfügt über anerkannte Expertise in Vermittlung, Verhandlung und guten Diensten. Sie ist Depositarstaat der Genfer Konventionen von 1949, der Grundlage des humanitären Völkerrechts. Sie verfügt über ein ausgedehntes diplomatisches Netzwerk und eine einzigartige Position auf der internationalen Bühne. Und sie hat eine moralische, politische, rechtliche und humanitäre Legitimation. Das überträgt ihr eine besondere Verantwortung: Sie muss aktiv zur Neugründung eines gerechteren Multilateralismus beitragen, der die Menschenrechte stärker einbezieht. Auch die Bürgerinnen und Bürger müssen die Regierung an dieses Erbe und diesen Auftrag erinnern, der Teil der DNA der Schweiz ist.