Isabella Huser
In der Schweiz findet gerade ein Kampf zwischen ungleichen Kräften statt
Bundesrat gegen Jenische. Es geht um die gemeinsame Geschichte. Gemäss Völkerrecht liegt ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor, begangen an den Schweizer Jenischen. Die Landesregierung, um das Ansehen der Nation bemüht, bekundet in dieser schwierigen Situation: Keine Sorge, nichts Neues, alles längst geregelt! Wir haben uns bereits entschuldigt, vor Jahren schon!
Wofür? Und wofür nicht?
Was soll im Dunkeln bleiben? Und was hat das mit der Würde von uns Menschen zu tun?
Sehen wir uns das an.
Ich kämpfe seit Jahren, und andere Jenische kämpfen seit Jahrzehnten um die Anerkennung einer Geschichte, die historisch belegt ist. Wir führen vernünftige, faktenbasierte Argumente an – was denn sonst, wenn wir Jenischen die wechselnden Funktionsträgerinnen und Funktionsträger an den immer gleichen Regierungs- und Behördenstellen von der Tragweite dieser Geschichte überzeugen wollen – einer Geschichte, die von niemandem bezweifelt wird, keine Frage. Sie nicken, besänftigend. Immerzu nicken sie, und am liebsten würden sie uns übers Haar streichen – es sind aufgeklärte Leute, Stockhiebe waren gestern. Sie nicken und verweigern die eingeforderte Anerkennung. Dann sagen sie: Gut, wenn es denn so wichtig für euch ist.
Sie laden uns zur Zeremonie. Wir sitzen im Publikum, erste Reihe. Mitten im behäbigen Saal vorn auf der Bühne steht die Geschichte. Sie umringen die Geschichte. Dann beginnen sie ihr Werk. Das geht ganz ohne Gewaltanwendung. Eine solche Geschichte lebt ja nicht. Sie ist ja nur eine Attrappe. Man muss sie nicht erst erschlagen. Man kann sie, so wie sie dasteht, sezieren. Sie amputieren manche Glieder. Sie ziehen etwas aus dem aufgeschnittenen Torso, der nun ganz blutig, als wär’s ein menschlicher Körper, am Boden liegt. Organe. Sie werfen alles, angeekelt, auf zwei Haufen. Sie umrunden einen der beiden. Gliederteile liegen dort ineinandergeschoben, wie wir jetzt erkennen, da sie sich mit geneigten Köpfen zum Halbkreis gruppieren, damit wir, die wir auf den Zuschauerstühlen festkleben, erste Reihe, wo sie uns eingereiht haben – damit wir, und so auch das übrige Publikum hinter uns im Parkett, mitbekommen, was jetzt geschieht, denn jetzt, begreifen wir, kommt der feierliche Moment. Sie lassen die Köpfe tiefer sinken, Blick auf die polierten Schuhe. Es sind hohe Häupter des Landes, die dort beisammenstehen, sie und ihre wichtigsten Beamtinnen und Beamten. Einer, von dem wir wissen, dass er – oder vielleicht sie – eine höchste Stellung einnimmt unter den Hohen, sich im Übrigen durch nichts von den Nebenstehenden unterscheidet, ja es ist, als wäre diese höchste Person aus Bestandteilen der Beistehenden zusammengesetzt, murmelt: Das hätte so nicht kommen dürfen. Wir entschuldigen uns nochmals für dieses Leid, fügt die Respektsperson hinzu. Sie hält abrupt inne. Was ist ihr? Die höchste Person wirft einen verstörten Blick zur nebenstehenden Chefbeamtin, die – ein unbedachter Moment, nicht vorgesehen – zögert, dann jedoch aus steifem Nacken kurz und bestimmt nickt. Die Chefbeamtin nickt. Da schrecken wir auf. Wir, in unserer ersten Sitzreihe, stossen einander an, und jemand sagt: Und alles andere? Ausgesondert, nicht mehr da, verschwunden, von unsichtbarer Hand weggefegt. Letzte entschlossene Wischbewegungen fliegender Besen, und wo nichts übrigbleibt als schmierige Spuren, wird dampfendes Wasser über die Planken geschüttet. Wir sind aufgesprungen, fast alle von uns. Was tun? Der Rest der Geschichte: nicht mehr da. Einige von uns schreien, auch ich schreie: Halt! Andere wenden sich ab, kopfschüttelnd, ein Stuhl fällt. Vorne läuft noch immer die Zeremonie. Und von der Höhe ihrer Bühne nehmen uns einzelne Herren und Damen vorwurfsvoll in den Blick. Habt ihr denn keine Erziehung? Keinen Anstand? Jemand zischt Pscht, Pscht! Ein hohes Haupt oder ein Berater, es ist verwirrlich, wer wer ist, greift einlenkend ein, die Stimme lieb: Vielleicht habt ihr es nicht verstanden, es ist doch jetzt vollbracht.
Was soll im Dunkeln bleiben? Und was hat das mit der Würde von uns Menschen zu tun?
Alle Augen nun auf uns gerichtet. Aus dem Publikum rechts und links und hinter uns kommen Stimmen: Ruhe! Ihr stört die Veranstaltung! Weist diese Leute doch aus dem Saal! Von vorn, von der Bühne her, starren uns dunkle Gesichter an, indigniert: Ihr müsst schon guten Willen zeigen! Was seid ihr nur für ein Volk!, sagen die Gesichter. Wisst ihr denn, was das heisst, spricht eine tragende Stimme – wer, von wo? – aus den Kulissen, ruhig, aber staccato, in fragendem Ton: Ent – schul – di – gung? Für – das – Leid?
Was wollt ihr denn noch? Ich sage: Die andere Hälfte!
Wir sagen: Und kommt uns nicht mit dem Leid!
Welche andere Hälfte?, fragen die Gesichter.
In diesen Tagen, da ich dies schreibe, ist die Zeremonie erneut aufgeführt worden, veranlasst durch eine Prüfung nach Völkerrecht, von der Landesregierung selbst in Auftrag gegeben – ja, klar, wie könnte es anders sein: auf Druck von Jenischen. Seit die konzertierte Verfolgungsaktion der Pro Juventute aufflog, 1972 war das, musste jeder Fortschritt von jenischen Gemeinschaften erkämpft werden. Als ginge dieses Stück Schweizer Geschichte nur uns etwas an. So auch hier. Jenische hatten – einmal mehr – die Prüfung nach Völkerrecht verlangt: Liegt ein Genozid vor? Bundesrat Berset, dann (2024) die Nachfolgerin im Innenministerium, Bundesrätin Baume-Schneider, lenkten ein. Der Bund gab beim Völkerrechtsprofessor Oliver Diggelmann, Uni Zürich, ein Gutachten in Auftrag.
Es geht um die Verfolgung der Jenischen im 20. Jahrhundert. Angestossen von der Stiftung Pro Juventute, wurden von 1926 bis in die 1970er-Jahre hinein jenische Familien planmässig verfolgt und diffamiert, jenische Väter und Mütter entrechtet und herabgesetzt, Kinder aus ihrer Familie gerissen, in fremde Häuser gezwungen, Familien zerstört, jenische Jugendliche in Anstalten gesperrt, gequält, geplagt, erniedrigt, jungen jenischen Frauen die Eileiter durchtrennt, junge Männer zeugungsunfähig operiert.
Mit der Verfolgung ging eine Rassifizierung einher, Jenische wurden stigmatisiert, wo immer möglich gedemütigt, in ihrer Würde verletzt. Ist Rassismus im Spiel, wird die Würde angegriffen, immer. Pro Juventute, Behörden und weitere Organisationen wie das Seraphische Liebeswerk setzten genozidäre Massnahmen ein, wie das Gutachten festhält.
Der Bund hielt das Gutachten geheim, fünf Monate lang, prüfte, wägte in der departementübergreifenden Ämterkonsultation ab, welche Haltung die Schweiz, sprich der Bundesrat, einnehmen soll.
24 Stunden vor der Veröffentlichung im Februar 2025 wurde das Gutachten uns Jenischen eröffnet, wir erfuhren: Es benennt die Geschichte – die ganze – als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit». Und der Bundesrat anerkennt das Verdikt.
Aber wer, wie ich, glaubte, die Schweiz werde sich diese Geschichte nun vergegenwärtigen, irrte:
Der Bundesrat beschwichtigte. Er liess uns und die Öffentlichkeit wissen: Zwar Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ja. Doch alles längst geregelt und erledigt! Und entschuldigt: 2013 sei eine Entschuldigung für Opfer «administrativer Versorgungen» ergangen. Die zweite, erfuhren wir, folgte 2014, diesmal für Opfer «fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen». Wir Jenischen, schrieb uns der Bundesrat ganz ohne Scham, seien zwar nicht explizit genannt – doch wir seien mitgemeint.
Die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens im Land wurden verpestet, die Tragweite ist bislang nicht erkannt.
«Zwangsmassnahmen»? Ein Rechtsbegriff. Gemeint (und nicht nur mitgemeint) sind Menschen, die in der Schweiz ohne Rechtsverfahren weggesperrt oder zu Zwangsarbeit verpflichtet oder als Kind verdinglicht wurden («Verdingkinder») – Opfer von Schandtaten der allgemeinen schweizerischen Sozialpolitik bis 1981.
Beim «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» an den Jenischen sieht der Bundesrat allein dort ein Problem, wo es den Tätern gelang, eine ihrer «Massnahmen» auch umzusetzen: Vollzogene Kindswegnahmen, Inhaftierungen, Sterilisierungen lassen sich offenbar im rechtlichen Sinn unter Zwangsmassnahmen einreihen, wie sie (seit 2017) im Bundesgesetz für deren Aufarbeitung geregelt sind. Kein Grund für eine Entschuldigung – und somit Vergegenwärtigung der Geschichte – sieht der Bundesrat bei der planmässigen Verfolgung der jenischen Volksgruppe.
Die rassistisch motivierte Verfolgung will der Bundesrat nicht wahrhaben, weder die institutionelle Entwürdigung und seelische Grausamkeit gegen die Menschen noch die angerichtete Zerstörung – Zerstörung von Familien, aber auch Zerstörung einer Kultur.
Die rassistische Verfolgung, von der das Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt, dauerte fast 50 Jahre. Für zehntausende Familien wurde es in dieser Zeit zu gefährlich, die jenische Kultur zu leben. Die meisten, auch meine jenische Herkunftsfamilie, haben Grundbegriffe der eigenen Kultur verloren. Nur, indem sie diese aufgaben, konnten sie ihre Haut und ihre Kinder retten – und ihre Würde vor weiterem Schaden schützen.
Viel jenisches Kulturgut wurde zerstört. Die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens im Land wurden verpestet, die Tragweite ist bislang nicht erkannt. Darüber sollte die Schweiz reden.
«Jenisch» ist keine soziale Kategorie. Wir sind eine Volksgruppe, auch Ethnie genannt, mit eigener Kultur und Sprache, dem Jenischen. Die Schweizer Jenischen, Teil der alteingesessenen Bevölkerung, sind als nationale Minderheit anerkannt.
Dass wir als Sozialfälle dargestellt werden, hat Tradition. Immer wieder im Lauf der Geschichte verwies – oder stiess – man uns in die unterste soziale Klasse, sprach uns so die kulturelle Identität ab. Das Verfolgungsprogramm der Pro Juventute war zum einen darauf ausgelegt, der Gesellschaft Schreckens- und Elendsbilder vorzugaukeln, um die Kriminalisierung des jenischen Bevölkerungsteils glaubhaft zu machen und die institutionellen Demütigungen zu rechtfertigen. Ziel war, uns als Volksgruppe auszulöschen.
Zum anderen sollte unsere Selbstachtung in Trümmer gehen, wir sollten gebrochen und gefügig gemacht werden.
Allen Eliminierungsversuchen zum Trotz gibt es uns noch immer. Einige Tausend Schweizer Jenische leben bis heute traditionell reisend – eine halbnomadische Form des Reisens –, sprechen die jenische Sprache, praktizieren die überlieferte oder auch eine neu belebte Kultur, geben den spezifischen Wissens- und Erinnerungsschatz ihrer Gemeinschaften an die Kinder weiter.
Pro Juventute griff 1926 auf die konventionelle Lüge der sozialen Elendsklasse zurück. Im 19. Jahrhundert, im Entstehen der neuen bundesstaatlichen Strukturen, waren die Jenischen an den Rand gedrängt und massiv behindert worden. Dass jenische Familien kraft der rechtlichen Hürden tatsächlich in die Armut gestossen wurden, liegt auf der Hand, ist jedoch, wie so vieles in dieser Geschichte, nicht erforscht.
Die Pro Juventute – 1912 gegründet, Spitzen aus Politik und Wirtschaft sassen im Stiftungsrat – unterfütterte die alten Bilder mit rassenhygienischen Theorien. Die angesehene Stiftung brachte entwürdigende Bilder in Umlauf. Schon der Name des Programms «Kinder der Landstrasse» gab ein wirkmächtiges Bild ab: Kinder in der Gosse, vernachlässigt, dreckig, die Eltern unfähig, unwürdig. Die Bilder wurden auf alle Jenische projiziert, ohne Ansehen der Person, wie im Rassismus geläufig.
Hier setzt das Gutachten an: Die Pro Juventute erstellte Listen und Stammbäume – auch von meiner Familie. Ein Elternteil genügte, ein jenischer Familienname genügte.
Wie die Familie lebte, spielte keine Rolle. Pro Juventute klebte ihr jeweils die Labels auf, die für den Entzug des Sorgerechts sprachen. Standard war die Zuschreibung, die Eltern vagierten herum – das alte Bild.
Historiker*innen sind sich einig, dass die grosse Mehrheit der Familien, denen man die Kinder entführte, sesshaft war.
Schon im 20. Jahrhundert lebten die Jenischen, wie andere Leute auch, in einer Wohnung oder einem Haus. Das Vagantenbild hatte und hat nichts mit der Realität zu tun. Niemand reist oder reiste ziellos im Land herum. Traditionell hat jede Familie ihre Reise- und Handelsroute. Dort kennt man die Kunden, weiss, wo man unterkommt.
Wer noch immer – wie meine Vorfahren im 19. Jahrhundert – grossräumig reiste, zog im Frühling los. Wer kleinräumig unterwegs war, verbrachte ein paar Tage oder Wochen auf der Reise. Oder, wie Verwandte meiner Grosseltern, denen man die Kinder nahm: Das Elternpaar – Kleinhändler, Seilflechter – zog morgens los, kam abends zurück.
Auch dies ist dokumentiert: Die Kinder gingen zur Schule, für die Kleinen war ein Kindermädchen da. Zwei Jahre lang floh die Familie, kleinräumig, über die Kantonsgrenze hin, wieder zurück. Bis die Pro Juventute sie in einer Gemeinde mit dem sinnigen Namen Hundwil zu fassen kriegte. Der Gemeinderat führte aus, was die Stiftung diktierte. Er entzog den Eltern das Sorgerecht. Begründung: fortwährender Wohnortswechsel, keine Schulbildung möglich.
Die Pro Juventute stellte den Vormund, schaffte die Kinder weg, trennte die Geschwister, verwischte Spuren – denn künftig sollte, so die Doktrin, jede Verbindung zur eigenen Herkunft und Kultur gekappt werden, für immer. Getreu dem Ziel, die Jenischen als Volksgruppe auszulöschen.
Als jenische Person oder als Sinti, mit Jenischen liiert, wusste man von der drohenden Gefahr. Wer sich retten wollte, musste das Jenischsein verbergen. Oder fliehen und untertauchen wie meine Grosseltern, die weiträumig flüchteten und als Musikerfamilie in der unbekannten Region ein Auskommen finden konnten. «Sprecht nicht mehr Jenisch!», sagte meine Grossmutter ihren Kindern, «es ist gefährlich.» Unserer Familie, die sich hat retten können vor dem Zugriff der Pro Juventute, ging die Sprache verloren. Die Jenischen mussten sich unsichtbar machen, 50 Jahre lang.
Es gibt ein Recht auf Wahrheit.
Würde der Bundesrat die ganze Geschichte anerkennen: Er könnte die gezielte Verfolgung und den rassistischen Angriff auf die Würde der Menschen nicht mehr als Massnahme der Sozialpolitik abtun. Er müsste das Spezifische des Verbrechens gegen die Menschlichkeit eingestehen. Es sich vergegenwärtigen. Das wäre ein Novum.
Es ist eine Voraussetzung, damit sich auch die Gesellschaft die Geschichte vergegenwärtigt, endlich erkennt, dass – hier in der Schweiz – die Grundlagen der menschlichen Gemeinschaft missachtet wurden.
Die Medien würden berichten.
Der Bundesrat müsste Forschungsgelder sprechen (den im Gutachten hervorgehobenen schlechten Forschungsstand beheben); die desolate Raumfrage für reisende Jenische anpacken (wo längst Handlungspflicht besteht).
Er müsste seine (seit Jahren von Jenischen beanstandeten) Verlautbarungen zur Geschichte neu ausrichten, auf den Websites, im Umgang mit uns Betroffenen, in der Aussenpolitik, im Europarat.
Belässt der Bundesrat das Verbrechen gegen die Menschlichkeit hingegen in der Schublade «fürsorgerische Zwangsmassnahmen», bleibt die Geschichte des Landes ein Lügengespinst. Es gibt keine Aufarbeitung, und, ja, auch wenig Aufwand und kaum Kosten.
Seit 2017 ist die Aufarbeitung «fürsorgerischer Zwangsmassnahmen» gesetzlich geregelt, Opfer können «Solidaritätsbeiträge» beantragen. Bisher wurden 11 000 Gesuche genehmigt; nur 3 bis 4 Prozent sollen einen «jenischen Kontext» haben – gemäss einem Papier der Ämterkonsultation, die der Veröffentlichung des Gutachtens vorausging.
Keine neue Regelung und keine Mehrkosten also, wenn die Landesregierung das Spezifische dieser Geschichte weiterhin missachtet.
Indes gibt es ein Recht auf Wahrheit. Die politische Schweiz, so tut sie stolz auf ihrer Website kund, engagiert sich seit 2003 im Menschenrechtsrat dafür. 2016 hat sie dort eine Resolution zur Förderung der Vergangenheitsarbeit durchgebracht. Das EDA, damals unter Bundesrat Didier Burkhalter, hielt fest: «[Wir sehen] eine Reihe kombinierter Massnahmen vor und zwar in den Bereichen Recht auf Wahrheit, Recht auf Gerechtigkeit, Recht auf Wiedergutmachung und der Garantie der Nichtwiederholung.»
Doch die «Ehre der Nation», in welcher Gestalt auch immer sie daherkommt, das Gewand beschmutzt, gilt der Schweiz womöglich bis heute mehr als das Recht auf Wahrheit und die Würde des Einzelnen. Die Tradition der weissen Weste hat eine lange Geschichte. Im Gegensatz zur Würde der Menschen, die erst 1999 Einlass in die Schweizerische Bundesverfassung fand, ist die Ehre der Nation schon 1848 bei der Gründung des Bundesstaats prominent platziert. Die Eidgenossenschaft habe die Verfassung in der Absicht angenommen, so heisst es im einleitenden Satz, «die Einheit, Kraft und Ehre der schweizerischen Nation zu erhalten und zu fördern».
Die Ehre verteidigt ihren Platz durch alle Anpassungen der Bundesverfassung, hält sich auch bei der Totalrevision von 1874. Erst 1999 muss sie weichen. Bei der Gesamtrevision im Jahr vor der Jahrtausendwende ist sie tatsächlich rausgefallen. 1999 wurde die Würde in die Verfassung aufgenommen – nicht anstelle der Ehre, eigenständig, und wie gesagt auf den Menschen, nicht auf die Nation bezogen. Artikel 7, unter dem Titel «Menschenwürde» besagt, schlicht: «Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen.»