Peter G. Kirchschläger
Professor für Theologische Ethik und Leiter des Instituts für Sozialethik ISE der Universität Luzern
Was macht den Menschen zum Menschen, und wie lässt sich die Menschenwürde ethisch begründen? Diesen Fragen widmet sich der nachfolgende Beitrag. Darüber hinaus zeigt er auf, weshalb Menschenwürde und Freiheit als ethische Prinzipien aller Prinzipien jegliche Legitimität von Rassismus ausschliessen.
Peter G. Kirchschläger
Der Theologe und Philosoph Peter G. Kirch- schläger ist Professor für Theologische Ethik und Leiter des Instituts für Sozialethik ISE der Universität Luzern sowie Gastprofessor an der ETH Zürich.
Was ist Menschenwürde? Sie kann zunächst einmal so umschrieben werden, dass sie den Menschen zum Menschen macht und dass sie die Abgrenzung der Menschen von anderen Lebewesen und von materialen Objekten markiert. Dieser Versuch, Menschenwürde inhaltlich zu erfassen, bleibt jedoch im Kreis gefangen. Ein weiterer Ansatz der begrifflichen Festlegung könnte darin bestehen, positiv zu bestimmen, was den Menschen auszeichnet, und die Menschenwürde an Fähigkeiten wie Vernunft oder Merkmale wie Anerkennung zu knüpfen. Dieser Weg der Bedeutungsklärung birgt jedoch das Risiko einer diskriminierenden Wirkung. Zum Beispiel dann, wenn man – wie Immanuel Kant – die Menschenwürde an der Vernunftbegabung, Moralfähigkeit und Autonomie des Menschen festmacht. Wer in diesen Fähigkeiten eingeschränkt ist, diese nicht aktiv nutzen kann oder gar nicht darüber verfügt – etwa Menschen mit Behinderungen, Komapatientinnen und -patienten oder Embryos – könnte diskriminiert werden. Weil die Menschenwürde jegliches Diskriminierungspotenzial ausschliesst, ist eine hohe Sensibilität für mögliche diskriminierende Elemente in der theoretischen Auseinandersetzung mit Menschenwürde bedeutend.
Negative Bestimmungen von Menschenwürde, die von der Verletzung der Menschenwürde ausgehen, können hingegen begriffliche Orientierung bieten, ohne dabei in die Falle des Risikos einer potenziellen Diskriminierung zu tappen. Ein negativer Menschenwürdebegriff muss keine Auskunft darüber geben, welche Fähigkeiten oder welche Eigenschaften den Menschen zum Träger von Menschenwürde machen. Vielmehr baut der negative Zugang zur Menschenwürde auf den Verletzungen von Menschenwürde auf, welche die Menschen erleiden bzw. erleiden könnten und welche beendet, unterbunden und verhindert werden müssen. Negative Menschenwürdekonzepte teilen mit positiven Ansätzen ihr konzises und materiell bestimmtes Verständnis von Menschenwürde. Dabei bleiben sie bewusst zurückhaltend – aus Achtung vor der kulturellen, philosophischen, religiösen und weltanschaulichen Vielfalt. Diese manifestiert sich unter anderem im Menschenrecht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie im Menschenrecht auf Nichtdiskriminierung. Entsprechend belassen es negative Bestimmungen von Menschenwürde meist dabei, sie in formalen Aussagen begrifflich zu umreissen.
Ethische Begründung der Menschenwürde
Solche begrifflichen Konturenskizzen lassen eine ethische Begründung der Menschenwürde mit dem Prinzip der Verletzbarkeit erahnen. Diese beinhaltet erstens die Selbstwahrnehmung der Menschen in ihrer eigenen Verletzbarkeit: So wissen beispielsweise gesunde Menschen, dass sie in der Zukunft krank werden könnten.
Zweitens eröffnet sich den Menschen, wenn ihre eigene Verletzbarkeit für sie präsent wird, ex negativo die «Erste-Person-Perspektive» und das «Selbstverhältnis». Die Erste-Person-Perspektive zeigt den Menschen, dass sie als «Ich» Subjekt der Selbstwahrnehmung sind, die ihnen einen Zugang zu ihrer Verletzbarkeit bietet. Diese anthropologische Grundsituation der Verletzbarkeit erleben sie jeweils als das Ich-Subjekt, also der ersten Person Singular. Darüber hinaus interpretieren die Menschen diese Situation so, dass ihre Handlungen, Entscheidungen, ihr Leiden und ihr Leben auf sie selbst als jeweiliges Ich-Subjekt zurückgehen. Die Menschen verhalten sich zu sich selbst. Das Selbstverhältnis beschreibt die Fähigkeit, sich zu sich selbst in Beziehung setzen zu können.
Drittens erschliesst sich den Menschen, dass auch die Erste-Person-Perspektive selbst und das Selbstverhältnis von der Verletzbarkeit dominiert werden. Wenn beispielsweise ein Mensch stirbt, bedeutet dies auch das Ende der Ersten-Person-Perspektive und des Selbstverhältnisses.
Viertens geht es auf diesen Bewusstwerdungsprozess ihrer Verletzbarkeit und ihrer Erste-Person-Perspektive zurück, dass sich die Menschen in einem Selbstverhältnis und in einem Verhältnis zu allen anderen Menschen verorten können. Dabei wird ihnen klar, dass nicht nur sie verletzbar sind, sondern dass sie diese Verletzbarkeit mit allen anderen Menschen teilen.
Fünftens ist dies der Schlüssel dafür, dass Menschen durch das Bewusstsein der eigenen Verletzbarkeit und der aller anderen erkennen, was sie verbindet: Sie teilen nicht nur die Verletzbarkeit, sondern auch die je individuelle Erste-Person-Perspektive sowie das je individuelle Selbstverhältnis: Jeder Mensch ist Subjekt seines Lebens. Als Folge erschliesst sich den Menschen die Gleichheit aller Menschen – in ihrer Verletzbarkeit, ihrer Erste-Person-Perspektive und ihrem Selbstverhältnis. Die Erste-Person-Perspektive und das Selbstverhältnis erkennen die Menschen damit als Bedingung dafür, überhaupt als Mensch leben zu können.
Sechstens sind sich Menschen ihrer Verletzbarkeit bewusst, wissen aber gleichzeitig nicht, ob und wann sich diese Verletzbarkeit manifestiert und in eine konkrete Verletzung oder Übertretung umschlägt. Deshalb sind sie bereit, allen Menschen die Erste-Person-Perspektive und das Selbstverhältnis auf der Grundlage der Gleichheit aller Menschen zuzugestehen, weil dies für sie die rationalste, klügste und vorteilhafteste Lösung im Dienst ihrer eigenen Interessen darstellt. Anders gesagt: Sie gestehen allen Menschen Würde zu, um sich selbst und alle anderen zu schützen, weil die Verletzbarkeit auch die Erste-Person-Perspektive und das Selbstverhältnis betrifft. Diese Achtung der Menschenwürde soll einerseits die Transformation der Verletzbarkeit in eine konkrete Verletzung vermeiden und andererseits – im Falle einer solchen Transformation – eine Wiedergutmachung ermöglichen. Die Menschen sind sich dabei bewusst, dass die Achtung der Menschenwürde auch entsprechende Pflichten umfasst, denn es handelt sich nicht um einen exklusiven Anspruch (zum Beispiel «Peter G. Kirchschläger-Würde»), sondern um die Würde, die allen Menschen gleichermassen zusteht.
Siebtens lässt sich erkennen, dass die Verletzbarkeit an sich keine moralische Qualität aufweist, sondern dass das Prinzip der Verletzbarkeit mit der Erste-Person-Perspektive und dem Selbstverhältnis als moralischem Anspruch normativ geladen ist. Es betrifft alle Menschen und unterscheidet sie von allen anderen Lebewesen. Im Prinzip der Verletzbarkeit erschliesst sich die Menschenwürde, die sich die Menschen gegenseitig zusprechen. Daher besitzen Menschen ihre Würde nicht aufgrund ihrer Verletzbarkeit, sondern weil sie sich mit ihr und ihrer Relevanz auseinandersetzen, weil sie sich der Erste-Person-Perspektive und des Selbstverhältnisses von sich und allen anderen bewusst werden und diese als Bedingung der Möglichkeit eines Lebens als Mensch erkennen – im Sinne des Prinzips der Verletzbarkeit.
Nach diesem Prinzip lässt sich die Menschenwürde begrifflich erfassen und begründen, ohne darlegen zu müssen, welche Eigenschaften allen Menschen Achtung verschaffen, d. h. welche Eigenschaften den Menschen als solchen ausmachen. Zudem kann dieses Begründungsfundament mit Verletzungserfahrungen verbunden werden, die neu entstehen – etwa durch technologischen Fortschritt – oder in unterschiedlichen Kulturen, Traditionen, Philosophien, Religionen und Weltanschauungen auftreten. Das Prinzip der Verletzbarkeit bietet dabei vielfältige und vielschichtige Anknüpfungspunkte. So erweist sich dieses Begründungsfundament ex negativo als anschlussfähig sowohl für religiöse als auch für säkulare Konzeptionen von Menschenwürde.
Funktionen der Menschenwürde und Prinzipien der Ethik
Eine begriffliche Annäherung an die Menschenwürde kann auch dadurch gelingen, indem man sich die Funktionen der Menschenwürde vor Augen führt – beispielsweise durch dass Bewusstmachen der Voraussetzungen für die Beschäftigung mit ethischen Fragen. In jenem Moment, in dem Ethik ein Thema wird – etwa, wenn ein moralisches Problem auftritt – sollten bei den an dem Diskurs über Ethik Beteiligten zwei Vorbedingungen gedacht werden:
1. Die Gesprächsteilnehmenden sollten mit Freiheit gedacht werden, weil sonst die Auseinandersetzung mit Ethik und mit ethischen Themen keinen Sinn ergibt: Ohne Freiheit stellt sich die Frage nach dem, was wir tun sollen, gar nicht. Das ethische Prinzip der Freiheit macht Normen notwendig. Die Freiheit, zwischen ethisch richtig und falsch bzw. ethisch gut und schlecht zu wählen, begründet die Moralfähigkeit der Menschen sowie die Notwendigkeit von Ethik und Recht. Anders gesagt: In dem Moment, in dem man über ethische Fragen nachzudenken oder zu sprechen beginnt, sollte man die Gesprächsteilnehmenden bereits mit Freiheit denken.
2. Die Gesprächsteilnehmenden sollten als Menschen – als Trägerinnen und Träger von Menschenwürde – gedacht werden. Nur das ethische Prinzip der Menschenwürde verleiht dem Diskurs und der Reflexion über Ethik Basis und Rahmen zugleich. Dies, indem es die Einzigartigkeit von Menschen festschreibt, sie von materiellen Objekten und anderen Lebensformen unterscheidet und es absolut verbietet, Menschen ein Preisschild anzuheften und sie als reine Mittel zu einem anderen Zweck zu instrumentalisieren. «Everybody matters» – jeder Mensch zählt!
Zur Veranschaulichung dieser zweiten Vorbedingung soll Folgendes dienen, das drei konzeptionelle Vorausbeschränkungen kennt (erstens denkt hier ein Mensch aus menschlicher Perspektive über Tiere nach; zweitens bewegen sich diese Überlegungen innerhalb der Grenzen menschlicher Vernunft; drittens bildet dies den heutigen Stand der Forschung ab): In der Regel diskutieren wir ethische Fragen beispielsweise nicht mit einem Goldfisch… Ethik macht keinen Sinn, ohne das Gegenüber als Menschen – also mit Menschenwürde – wahrzunehmen.
Ethik macht keinen Sinn, ohne das Gegenüber als Menschen – also mit Menschenwürde – wahrzunehmen.
Rassismus als Attacke auf die Menschenwürde
Die bisherigen Überlegungen erlauben eine Skizze des Verhältnisses zwischen Menschenwürde und Rassismus aus ethischer Sicht. Amnesty International definiert Rassismus wie folgt: «Rassismus ist ein Angriff auf die universellen Menschenrechte an sich. Er verleugnet eines der Grundprinzipien der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – nämlich, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind. Rassismus verweigert Menschen systematisch die Ausübung ihrer Grundrechte unter dem Vorwand der Hautfarbe, der ‹Rasse› oder ethnischen Herkunft, der nationalen oder auch der sozialen Herkunft. Deshalb ist Rassismus eine Bedrohung für alle Menschenrechte – seien es die bürgerlichen und politischen oder die wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Rechte.» In anderen Worten: Rassismus erweist sich als eine Attacke auf die Menschenwürde, da er danach strebt, einen Keil zwischen Menschen zu treiben und eine Ungleichheit unter Menschen an einer Stelle vertreten zu können, wo aber alle Menschen gleich sind: in ihrem Menschsein. Die Menschenrechte geben mit ihrem Prinzip der Unteilbarkeit eindeutig vor, dass alle Menschenrechte optimal zu realisieren sind, da sie zum Schutz des physischen Überlebens und der Menschenwürde beitragen. Ein Menschenrecht darf nicht so ausgeübt werden, dass es ein anderes Menschenrecht untergräbt. So darf das Menschenrecht auf Meinungsäusserungsfreiheit nicht zur rassistischen Diskriminierung missbraucht und somit das Menschenrecht auf Nichtdiskriminierung verletzt werden, sondern die spezifischen Menschenrechte müssen Hand in Hand gehen und sind miteinander zu denken.
Die oben eingeführte Begründung der Menschenwürde auf der Basis des Prinzips der Verletzbarkeit verunmöglicht es, Menschen im Hinblick auf ihren Anspruch auf Würde unterschiedlich zu bewerten. Denn bei der Auseinandersetzung mit der jeweils eigenen Verletzbarkeit drängt sich aufgrund der damit verbundenen Ungewissheiten der Schutz der Würde aller Menschen als klügste und rationalste Option auf, um die eigenen Interessen zu verfolgen. Hier bleiben weder Gründe noch Platz für Rassismus.
Die begriffliche Annäherung über Funktionen der Menschenwürde als eines der beiden Prinzipien aller Prinzipien der Ethik zeigt deutlich: Die zwei genannten Grundvoraussetzungen für einen Ethikdiskurs erfordern eine Ausweitung von den Diskursbeteiligten hin zu allen Menschen bzw. eine Unterbindung von rassistisch motivierter Ungleichheit: Alle Menschen sind mit Freiheit und als Träger von Menschenwürde zu denken.
Dies ist notwendig, weil, durch die Umkehr der Beweislast,
• keine «guten Gründe» aufgeführt werden können, warum die an dem Ethikdiskurs beteiligten Menschen von allen anderen Menschen hinsichtlich des Besitzes von Freiheit zu differenzieren wären;
• keine «guten Gründe» aufgeführt werden können, warum die an dem Ethikdiskurs beteiligten Menschen von allen anderen Menschen hinsichtlich der Menschenwürde abzugrenzen wären.
Vom Gegenüber im Diskurs werden also «gute Gründe» verlangt, die gegen diese Ausweitung der «Freiheit der am Ethikdiskurs Beteiligten» sowie der «Menschenwürde der am Ethikdiskurs Beteiligten» auf die Freiheit und Menschenwürde aller Menschen sprechen würden. «Gute Gründe» bedeutet, dass es denkbar sein muss, dass alle Menschen in ihrer effektiven Freiheit und Autonomie sowie in ihrer vollen Gleichheit diesen Gründen zustimmen würden – innerhalb eines Denkmodells und nicht innerhalb einer realen weltweiten Volksabstimmung. Es erweist sich als unmöglich, entsprechende «gute Gründe» gegen diese Ausweitung auf alle Menschen zu finden. Freiheit und Menschenwürde aller Menschen sind demnach als Bedingungen der Möglichkeit von Ethik zu verstehen – als die zwei Prinzipien aller Prinzipien – was eine mögliche ethische Legitimität von Rassismus verneint.
Menschenwürde als kategorisches Rechtsprinzip
Über die Ethik hinaus wirkt die Menschenwürde auf das Recht. Die Menschenwürde bildet nicht nur den Rahmen für positives Recht, sondern stellt auch die Grundbedingung für seine Legitimität dar. Die Menschenwürde als kategorisches Rechtsprinzip schafft konstitutive Vor- und Rahmenbedingungen, damit aus Verschiedenheit auch Wirklichkeit und damit auch gegen Widerstand legitime Vielfalt wird – insbesondere durch die Delegitimierung und Unterbindung von Rassismus.
Innerhalb der Ethik kommt der Menschenwürde eine besondere Rolle bei der Interaktion zwischen Ethik und Recht zu. Dieses Zusammenspiel ist davon geprägt, dass Ethik in Recht gegossen werden kann, Recht auf ethische Begründung angewiesen ist und schliesslich die kontinuierliche kritische Überprüfung durch die Ethik braucht, um nicht nur legal, sondern auch legitim zu sein und zu bleiben. Der Philosoph Arnd Pollmann hält dazu fest: «Die politischen Leitideen der Menschenrechte und der Menschenwürde sind der Welt nicht einfach fraglos vorgegeben. Vielmehr müssen sie stets aufs Neue gegen staatliche Willkürherrschaft, autoritäre Abwehr und bisweilen eben auch gegen akademisch-intellektuelle Nekrologe verteidigt und hochgehalten werden – nur dann kommt diesen Ideen auch weiterhin politische Realität zu.»