TANGRAM 49

Editorial

Ursula Schneider Schüttel
Präsidentin der EKR

Artikel 7 der Bundesverfassung (BV) lautet: Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen. Die Schweiz bekennt sich damit ausdrücklich zum Schutz der Menschenwürde und deklariert ihn als wesentliches Ziel unserer Gesellschaft. Was Menschenwürde genau beinhaltet, wird im Verfassungsartikel nicht definiert. Es ist aber allgemein anerkannt, dass die Menschenwürde Ausgangspunkt für die Konkretisierung der weiteren Grundrechte ist, die einem Menschen zugestanden werden müssen.
Achtung der Menschenwürde heisst, dass ein Mensch keiner Herabwürdigung ausgesetzt sein darf. Er soll nicht aufgrund von bestimmten Merkmalen anders behandelt werden als andere Menschen. Im Alltag verbinde ich mit dem Begriff Menschenwürde die Art und Weise, wie wir, ich oder meine Umgebung, anderen Menschen begegnen. Menschenwürde heisst für mich, mein Gegenüber zu achten, zu respektieren, respektvoll mit ihm oder ihr umzugehen. Das heisst auch, das Prinzip der Gleichberechtigung, der Gleichbehandlung, hochzuhalten – und das heisst für mich, mich gegen Diskriminierung jeglicher Art zu engagieren.
Rassismus in all seinen Formen ist eine sehr weit gehende Herabwürdigung von Mitmenschen, er bedeutet eine grundlegende Missachtung der Rechte von Menschen. Eine Gesellschaft wie die unsere, welche den Schutz der Menschenwürde auf Verfassungsebene nicht nur deklariert, ist gehalten, rassistische Diskriminierungen zu verhindern. In unserer Gesellschaft hat Rassismus keinen Platz.
In der Arbeit der EKR ist der Schutz der Menschenwürde ein zentrales Element. In diesem Jahr 2025 feiern wir das 30-jährige Jubiläum des Engagements gegen Rassismus. Einerseits ein schönes Jubiläum, das mich im Blick auf eine gut aufgestellte und funktionierende Organisation – wenn auch mit beschränkten Ressourcen – mit Stolz erfüllt und wofür ich meiner Vorgängerin und meinem Vorgänger für deren grosses Engagement dankbar bin. Andererseits gibt es mit Blick auf die Zukunft doch grosse Bedenken. Rassismus ist in der Schweiz immer noch allgegenwärtig, auch wenn er, z. B. als struktureller Rassismus, oft weniger sichtbar ist. Seien wir realistisch: Das Engagement der EKR wird auch in den nächsten Jahrzehnten weiterhin notwendig sein. Gerade während der letzten Jahre haben Kriege und andere Grausamkeiten nur zu deutlich gemacht, dass das Ziel eines friedlichen, gleichberechtigten Zusammenlebens in einer pluralen Gesellschaft immer wieder mit Herausforderungen konfrontiert sein wird. Die geopolitische Lage heute, die geprägt ist von Konflikten und starken Spannungen, hat direkte Auswirkungen in unserem Land: Sie steht für den Anstieg von antimuslimischem Rassismus, Antisemitismus und anderen Formen der Ablehnung. Dies führt einmal mehr vor Augen, wie unerlässlich der Kampf gegen polarisierende Diskurse ist.
Die Sensibilisierung für derartige Diskurse und vorherrschende Diskriminierungen, die den sozialen Zusammenhalt in Frage stellen, wird daher weiterhin zentrale Aufgabe der EKR bleiben. In einem pluralistischen, diversen Gesellschaftsraum braucht gleichberechtigtes Zusammenleben auf dem Schutz und der Achtung der Menschenwürde. Gleichbehandlung ist die Basis einer demokratischen, rechtsstaatlichen und starken Gesellschaft. Mit dieser Überzeugung hat die EKR zu ihrem Jubiläum ein Manifest für ein gleiches, gleichbehandelndes System lanciert. Dieses umfassende Gesetz, das alle Formen von Diskriminierung einheitlich fasst und davor schützt, soll für Rechts¬sicherheit sorgen, gesellschaftliche Teilhabe und gleichberechtigtes Zusammenleben fördern. Es stärkt somit den Schutz der Würde jeder und jedes Einzelnen, mit dem Ziel der tatsächlichen Gleichbehandlung aller Menschen in unserem Land.
Die vorliegende Ausgabe von Tangram geht der Rolle von Recht, Demokratie, Ethik und auch von Religionsgemeinschaften im Kampf gegen Rassismus und bei der Wiederherstellung der Menschenwürde nach. Die Herausgebenden wie unterschiedliche Perspektiven verdeutlichen, dass die Würde des Menschen sowohl ein Prinzip, wie immer auch eine kollektive Verantwortung ist.
Menschenwürde ist nicht nur Aufgabe und Angelegenheit von Institutionen: Sie gehört jede und jedem von uns an. Nehmen wir gemeinsam diese Verantwortung wahr, um eine Gesellschaft zu gestalten, die auf Respekt, Gleichheit und Gerechtigkeit beruht.