Autoren
Der promovierte Neurowissenschaftler Sebastian Dieguez forscht am Labor für kognitive und neurologische Wissenschaften der Universität Freiburg (Schweiz). sebastian.dieguez@unifr.ch
Der promovierte Sozialwissenschaftler Laurent Cordonier ist Forscher an der Fondation Descartes (Paris) sowie externer wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Lausanne. laurent.cordonier@gmail.com
Die Beziehungen zwischen Rassismus und Verschwörungsideologie sind komplex. Beiden gemeinsam sind problematische Haltungen zu Fragen von Macht, Ausgrenzung, Misstrauen, Gewalt, Hass, Angst, Stereotypen, Ungleichheit und Ungerechtigkeit, ohne dass dies immer deutlich zutage tritt. Wir gehen in den folgenden zwei Artikeln dieser Problematik nach, indem wir die beiden Seiten dieser verhängnisvollen Komplizenschaft darstellen.
Zunächst zeigen wir auf, dass Verschwörungsideologie als starke Triebkraft für rassistische Ideologien, Haltungen und Bewegungen dienen kann. Rassismus besteht im Wesentlichen darin, Gruppen von Individuen auf ihre äusseren Merkmale und ihre Herkunft zu reduzieren, um sie gegenüber anderen sozialen Gruppen herabzusetzen. Damit Essentialisierung und Inferiorisierung ihre Wirkung entfalten können, müssen sie auch auf psychologische und moralische Faktoren zielen, die aus den bezeichneten Gruppen eine potenzielle Gefahr machen. Verschwörungsideologie bedient und rechtfertigt den Rassismus: Die «anderen» sind nicht nur klar minderwertig, sondern auch gefährlich. Sie sind falsch und schlau und hegen uns gegenüber böse Absichten, sie hecken heimlich etwas aus, sie spannen zusammen und haben es auf «unsere» Lebensart abgesehen. Ohne diesen Mechanismus bleibt der Rassismus gewissermassen eine theoretische Haltung, eine vage, irrationale Abscheu vor der Andersartigkeit, eine diffuse, kaum kanalisierte Furcht. Wer also voll und ganz rassistisch ist, muss auch der Verschwörungsideologie verfallen.
Im zweiten Text betrachten wir die Verschwörungsideologie als «Waffe der Minderheiten». Rassismus als System der Unterdrückung hat schwere Folgen für diejenigen, die ihn erleiden. Er führt seinerseits bei den betroffenen Minderheiten zu Misstrauen und eigenen, besonderen Überzeugungen. So kann Verschwörungsideologie den Opfern als Verteidigungsmechanismus dienen, um auf ihre Stellung aufmerksam zu machen und Bewältigungsstrategien zu entwickeln.
Vorerst gilt es, die Begriffe «Verschwörungstheorie» und «Verschwörungsideologie» zu unterscheiden, die im aktuellen Diskurs häufig vermischt werden. Diese Unterscheidung ist wichtig, denn dadurch können Missverständnisse aus dem Weg geräumt werden. Eine Verschwörungstheorie liefert die Erklärung für ein Ereignis, das die Öffentlichkeit bewegt (z. B. ein Attentat, die Ermordung einer öffentlichen Person, das Aufkommen einer Pandemie oder ein Industrieunfall), von dem behauptet wird, dass es aufgrund einer Verschwörung geschehen ist, das heisst, aufgrund eines von einer bösen Macht – im Allgemeinen einer Gruppe mächtiger Individuen, die sich verbündet haben – heimlich ausgeheckten Plans. Solche «Theorien» überlagern häufig die «offizielle» Erklärung des betreffenden Ereignisses, und die jeweiligen Schlussfolgerungen sind denn auch völlig verschieden.
Einige Verschwörungstheorien sind sehr verbreitet, wie diejenigen über die Ermordung von J.F. Kennedy, die Attentate am 11. September 2001 oder auch jene über die sogenannten Chemtrails am Himmel. Sie betreffen somit vereinzelte Themen und treten sporadisch im Zuge aktueller Ereignissen auf, wobei oft ziemlich vage Erklärungen geliefert werden, die die Behörden oder die wahren Verantwortlichen «uns zu verheimlichen» versuchen.
Der Begriff «Verschwörungsideologie» hingegen bezeichnet eine übergeordnete, allgemeinere Bereitschaft, Verschwörungen als Erklärung für das Weltgeschehen zu betrachten. Die Geschichte selbst wird im weiten Sinne als ein endloser Ablauf von Verschwörungen wahrgenommen, wobei angeblich jeweils kleine Gruppen von Individuen «hinter den Kulissen die Fäden ziehen» und «uns die Wahrheit verheimlichen». Forschende bezeichnen diese besondere Geisteshaltung als «konspirative Mentalität», «konspiratives Denken» oder «paranoiden Stil». Léon Poliakov beschrieb sie in seinen Studien über die Geschichte des Antisemitismus als Konzept der «diabolischen Kausalität», das heisst als Tendenz, den Lauf der Dinge auf eine einzige Absicht zurückzuführen, die letztlich nichts anderes wäre als das absolute Böse, eine Unheil bringende und entschlossene Macht, die ihre Ziele immer erreicht, ohne je sichtbar zu werden.
In einer verschwörungsideologischen Weltsicht zählen damit weniger die genauen Einzelheiten dieser oder jener «Verschwörungstheorie» als vielmehr die vorgefasste Überzeugung von der Existenz einer konspirativen Kraft, unabhängig davon, was sie genau tut und was sie genau will. Somit lässt sich am besten erkennen, ob jemand an eine bestimmte Verschwörungstheorie glaubt oder nicht, wenn man in die Betrachtung einbezieht, ob er oder sie auch an andere Verschwörungstheorien glaubt, vor allem, wenn diese keinen direkten Bezug zueinander haben und völlig unterschiedliche Bereiche betreffen.
Der Begriff «Verschwörungsideologie» hat eine negative Konnotation, die genauer betrachtet werden sollte. In den 1950er- und 1960er-Jahren haben insbesondere zwei Autoren diese Art der Weltdeutung identifiziert und dekonstruiert. Zum einen war dies der Philosoph Karl Popper, der 1952 das Konzept der «conspiracy theory of society (Verschwörungstheorie der Gesellschaft)» einführte, und zum andern der Historiker Richard Hofstadter, der 1964 in seinem Essay «The Paranoid Style in American Politics» den paranoiden Stil in der amerikanischen Politik untersuchte. Diese beiden Analysen schliessen an die Studien von Leo Löwenthal und Norbert Guterman an, die erkannt hatten, dass die «Agitatoren» der faschistischen Politik als «Propheten der Lüge» den Begriff der Verschwörung ideologisch verwendeten, um Hass zu schüren. Ihre Arbeiten haben gezeigt, wie irrational und unmoralisch die masslosen Beschuldigungen der Verschwörungsideologie sind. Seither gilt eine solche Ideologie in der öffentlichen Meinung als inakzeptabel und schändlich.
Das Anprangern und Stigmatisieren der Verschwörungsideologie ist also durchaus nichts Neues, wie dies, unter anderem von schlecht informierten Forschenden, immer wieder behauptet wird. Der Begriff der «Verschwörungsideologie» ist negativ besetzt, weil er eine seit langem verrufene Form der Realitätswahrnehmung und des Denkens bezeichnet, die nicht nur unproduktiv ist, sondern gefährlich werden kann. Dabei ist die Verschwörungsideologie übrigens keine einseitige, verzerrte Weltsicht, sondern sie entspricht einer Haltung, die ihre eigene Stigmatisierung gutheisst. Es ist nicht so, dass sich die Leute einer bestimmten Idee anschliessen und dann später mit Schrecken feststellen, dass es sich um eine Verschwörungstheorie gehandelt hat. Heute glaubt man verschwörungsideologischen Inhalten, gerade weil sie verschwörerisch sind und weil man sich gerne einbildet, dadurch ein verbotenes, aufregendes und von den Eliten bewusst vorenthaltenes Wissen zu erlangen.
Wie andere Autoren hatte auch Poliakov die zerstörerische Kraft einer solchen Weltanschauung erkannt. Denn die Verschwörungsideologie ist nicht nur eine fixe Idee oder ein vages Misstrauen gegenüber den «offiziellen» Erklärungen eines bestimmten Ereignisses, sondern sie verteufelt buchstäblich den Feind bzw. soziale Gruppen. Sie unterstellt ihnen böse Absichten und schreibt ihnen die Macht zu, diese auch auszuführen, was im Gegenzug erklärt und rechtfertigt, dass man sie hassen und sich verteidigen muss. Damit wird deutlich, wie wenig die Verschwörungsideologie mit einer echten Auseinandersetzung mit Verschwörungsgeschichten zu tun hat, die man überprüfen und verurteilen müsste. Es geht vielmehr darum, immer wieder den nötigen Treibstoff für ungezügelten Hass zu liefern, der sonst rasch verpuffen würde. Um effektiv zu sein, müssen totalitäre Regime, Gewaltherrschaften, völkermordende Gruppierungen und Volksverhetzer ihre Gegner – seien sie echt oder frei erfundene Sündenböcke – so darstellen, als hätten sie die böse Absicht, einen geheimen Feldzug gegen die Bevölkerung zu führen.
So lässt sich auch die unglaubliche Langlebigkeit des Antisemitismus nur mit diesem Beitrag der Verschwörungsideologie erklären. Unserer Ansicht nach ist es unmöglich, antisemitisch zu sein, ohne die Idee einer jüdischen Weltverschwörung im Hinterkopf zu haben. Von den Satansmessen über die Fantastereien über George Soros und die vergifteten Brunnen zur Idee der Neuen Weltordnung haben Misstrauen und Hass gegenüber den Juden nur deshalb so dauerhaft überlebt, weil sie Teil einer manipulativen Mythologie sind, die ihnen eine Verschwörung mit dem Ziel der Weltherrschaft unterstellt.
Verschwörungsideologie ist nicht einfach das unbeholfene, unglückliche Bekenntnis zu ein paar wirren Ideen von ein paar leichtgläubigen, schlecht informierten Individuen. Sie ist eine opportunistische, strategische und ideologische Entscheidung, aufgrund derer ein Feindbild geschaffen wird, das all unser Unglück erklären, Hass schüren und die Täter zu Opfern machen soll. Diese der Verschwörungsideologie eigene Opferhaltungsdynamik ist eine besonders gefährliche Triebkraft von Rassismus (und Unterdrückung im Allgemeinen) und sie zeigt sich auch als unproduktives Ressentiment von Minderheiten und besonders Benachteiligten. Diese andere Seite der Verschwörungsideologie ist Gegenstand des folgenden Artikels.
Bibliografie:
Dieguez, S. & Delouvée, S. (à paraître). Le complotisme : cognition, culture, société. Bruxelles : Mardaga.
Hofstadter, R. (1964). The Paranoid Style in American Politics. New York : Harvard University Press.
Poliakov, L. (1980). La causalité diabolique (vol. 1). Paris : Calmann-Lévy.
Popper, K. (1963). Conjectures et réfutations : la croissance du savoir scientifique. Paris : Payot.