Autor
Dirk Baier ist Professor an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und leitet im Departement Soziale Arbeit das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention. Dirk.Baier@zhaw.ch
In der Schweiz wies 2018 jeder dritte Erwachsene eine Verschwörungsmentalität auf. Die Corona-Pandemie hat diesen Anteil nicht gesteigert, möglicherweise aber zur Radikalisierung verschwörungstheoretisch denkender Menschen beigetragen.
Selten standen Verschwörungstheorien so im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit wie in der Corona-Pandemiezeit. Verschiedene Verschwörungstheorien wurden in Umlauf gebracht und knüpften dabei teilweise an bereits existierende Theorien z. B. aus dem Bereich des Antisemitismus an: Typische Beispiele lauteten, dass das Covid19-Virus von Menschen gezüchtet worden sei, als Biowaffe eingesetzt werden solle, von mächtigen Akteuren zur Einschränkung von Demokratie und Grundrechten in Umlauf gebracht worden sei oder von Geschäftsleuten genutzt werde, um mit Impfungen Geld zu verdienen.
Verschwörungstheorien haben dabei Folgendes gemeinsam: Sie gehen davon aus, dass ein gesellschaftliches Ereignis (zu Naturkatastrophen werden gewöhnlich keine solchen Theorien entwickelt) von einigermassen grosser Reichweite ursächlich auf den geheimen Plan von einigen wenigen, mächtigen Personen zurückgeht, die sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichern wollen. Statt von Verschwörungstheorien zu sprechen, wird in der Forschung mittlerweile vermehrt auf den Begriff des Verschwörungsmythos oder der Verschwörungserzählung zurückgegriffen, um deutlich zu machen, dass diese Theorien nichts mit wissenschaftlichen Theorien zu tun haben, bei denen es um empirische Überprüfbarkeit und Falsifikation geht.
Wenn Menschen Verschwörungserzählungen zustimmen, so weisen sie eine Verschwörungsmentalität auf. Diese stellt nach Imhof eine «politische Einstellung» dar, die die Wahrnehmung beinhaltet, dass die Welt «durch im Geheimen ausgeheckte Pläne und Verabredungen» gekennzeichnet ist. Hierbei handelt es sich um eine mehr oder weniger stabile Persönlichkeitseigenschaft, die über Befragungen gemessen werden kann. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, inwieweit eine solche Mentalität mit der Befürwortung für extremistische Positionen zusammenhängt.
Verschwörungserzählungen erhalten insbesondere in Krisenzeiten Aufwind. Die Menschen suchen nach Erklärungen für die stattfindenden Ereignisse. Dass zum Beispiel eine Pandemie zufällig zustande gekommen ist, ist für viele nicht vorstellbar. Menschen sind zufallsaversiv, weil eine Erklärung mit Verweis auf den Zufall bedeuten würde, dass Ereignisse nicht kontrollierbar wären. Eine Verschwörungsmentalität hilft dabei, Sicherheit in Zeiten eines Kontrollverlusts wiederzugewinnen.
Eine solche Flucht in haltgebende Verschwörungserzählungen könnte auf den ersten Blick als unproblematisch eingestuft werden. Verschwörungserzählungen sind in verschiedener Hinsicht funktional: Sie helfen, der Kontingenz von gesellschaftlichen Ereignissen einen Sinn zu verleihen; sie reduzieren dabei die Komplexität solcher Veränderungen und stiften Identität und Gemeinschaft, weil man den Glauben an die Erzählungen meist mit anderen teilt.
Auf den zweiten Blick haben Verschwörungserzählungen allerdings meist eine Struktur, die Bezüge zu extremistischen Positionen aufweist. Verschwörungserzählungen greifen auf Dichotomien zurück, die ein Freund-Feind-Denken beinhalten. So werden bestimmte Personen oder Gruppen zum Urheber eines Ereignisses gemacht und als Feind konstruiert. Die Erzählung, dass die Covid-Pandemie absichtlich in China ausgelöst wurde, impliziert eine Akzentuierung der Differenz zwischen der einheimischen und der asiatischen Bevölkerung, mit der Folge, dass Hassverbrechen gegen die asiatische Bevölkerung legitimiert werden und letztlich zunehmen. Das Denken in Freund-Feind-Kategorien ist ein zentraler Schritt dahingehend, die Feinde abzuwerten und Gewalt ihnen gegenüber zu rechtfertigen. In Verschwörungstheorien ist damit z. T. die Befürwortung von Gewalt immanent. Diese kann in dem Fall, in dem sich die konstruierten Feindbilder mit denjenigen bestimmter Extremismen decken, auch den Weg in den gewalttätigen Extremismus ebnen.
Als «extremistisch» werden gewöhnlich jene Positionen bezeichnet, die durch eine Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner Grundwerte bzw. Grundrechte gekennzeichnet sind und die anstreben, diesen – auch unter Anwendung von Gewalt – zu überwinden. Jeder Extremismus hat dabei eine spezifische Ideologie, die eine Vorstellung über die anzustrebende Gesellschaft beinhaltet und die deutlich zwischen Freund und Feind unterscheidet. Werden asiatische Menschen im Besonderen, Ausländer im Allgemeinen oder die jüdische Bevölkerung zu Verursachern der Corona-Pandemie in Verschwörungserzählungen erklärt, decken sich diese Feindgruppen mit denen des Rechtsextremismus; werden global tätige Geschäftsleute als Verursachende der Pandemie eingestuft, ergeben sich Überschneidungen mit Feindbildern des Linksextremismus (Antikapitalismus). Insofern kann erwartet werden, dass Menschen, die eine Verschwörungsmentalität aufrechterhalten, auch mit rechtem, ggf. aber auch mit linkem Gedankengut sympathisieren.
Die wissenschaftliche Forschung stützt diese Vermutung. So zeigen Krouwel et al. anhand einer schwedischen Befragung, dass politisch extremere Einstellungen und Verschwörungsmentalitäten korrelieren; dies gilt sowohl für links- wie für rechtsextreme politische Positionen. Auch Rottweiler und Gill bestätigen, dass Personen mit Verschwörungsmentalität stärker extremistischer Gewalt zustimmen; die Autoren greifen hierfür auf eine Repräsentativbefragung aus Deutschland zurück. Mit Lamberty lässt sich daher folgern, dass «erste Indizien zur Rolle von Verschwörungstheorien für Radikalisierungsprozesse existieren», dass aber gleichzeitig «die empirische Basis […] noch lange nicht zufriedenstellend ist».
Für die Schweiz haben Baier und Manzoni erste Befunde zur Verbreitung von Verschwörungsmentalitäten in der Schweizer Bevölkerung sowie zum Zusammenhang mit extremistischen Einstellungen vorgelegt, die sich auf eine Repräsentativbefragung aus dem Jahr 2018 beziehen. Zwei Ergebnisse sind dabei erwähnenswert: Erstens liegt der Anteil an Erwachsenen, die eine Verschwörungsmentalität aufweisen, bei 35,9 Prozent. Dies ist kein ungewöhnlich hoher Anteil: Rees und Lamberty berichten unter Verwendung einer Stichprobe aus Deutschland, dass 38,5 Prozent der Befragten Verschwörungstheorien eher zustimmen. Zweitens bestätigen die Auswertungen von Baier und Manzoni, dass zwischen der Verschwörungsmentalität und extremistischen Einstellungen ein mittelhoher Zusammenhang besteht. Allerdings wurde in diesen Analysen nicht zwischen links- und rechtsextremen Orientierungen unterschieden.
Um entsprechend differenzierende Aussagen treffen zu können, wird nachfolgend auf eine Ende Mai/Anfang Juni 2021 durchgeführte schweizweite Repräsentativbefragung der 16- bis 79-jährigen Bevölkerung zurückgegriffen. Diese wurde mittels des LINK-Panels als Online-Befragung durchgeführt. Erreicht wurden 3010 Befragte bei einer Rücklaufquote von 16,1Prozent%. Aufgrund einer Anpassungsgewichtung entspricht die Stichprobe hinsichtlich der Alters- und Geschlechtsverteilung der Schweizer Bevölkerung (49,1 % weibliche Befragte; 35,7 % Befragte im Alter zwischen 16 und 36 Jahren, 21,7 % im Alter zwischen 59 und 79 Jahren).
Die Verschwörungsmentalität wurde über die Zustimmung («1 – stimmt gar nicht» bis «6 – stimmt völlig») zu folgenden drei Aussagen erhoben: «Die meisten Menschen erkennen nicht, in welchem Ausmass unser Leben durch Verschwörungen bestimmt wird, die im Geheimen ausgeheckt werden», «Es gibt geheime Organisationen, die grossen Einfluss auf politische Entscheidungen haben» und «Politiker und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte».
Die Antworten zu den drei Aussagen hängen eng miteinander zusammen, sodass der Mittelwert gebildet werden konnte. Befragte mit einem Mittelwert über 3,5 werden als zustimmend eingestuft. Dies sind, wie Tabelle 1 zeigt, 27,1 Prozent; d. h. der Anteil fällt etwas geringer aus als in der Befragung von 2018. Von einem zunehmenden Anteil verschwörungstheoretisch denkender Personen kann also nicht ausgegangen werden. Die Corona-Pandemie und die mediale Thematisierung verschwörungstheoretischen Denkens haben möglicherweise dazu geführt, dass sich ein Teil der Menschen von solchen Weltbildern distanziert; andere halten zugleich weiterhin daran fest und eventuell noch intensiver als vorher. Die Pandemie könnte in diesem Sinn zu einer Radikalisierung verschwörungstheoretisch denkender Personen beigetragen haben – was sich allerdings mit den Daten nicht untersuchen lässt. Lamberty und Rees bestätigen anhand einer deutschen Stichprobe, dass nicht davon gesprochen werden kann, dass aufgrund von Corona mehr Menschen an Verschwörungen glauben. «Es kann aber sein, dass sich der Glaube an Verschwörungserzählungen in einzelnen Gruppen verstärkt hat und für sie handlungsleitender geworden ist».
Tabelle 1 berichtet zudem die Zustimmung zur Verschwörungsmentalität für jene sozio-demografische Gruppen, für die sich in der Befragung 2021 bedeutsame Unterschiede ergeben haben. Nicht dargestellt sind das Geschlecht, das Alter und die Herkunft (Schweiz bzw. Migrationshintergrund), weil sich für die Subgruppen keine Unterschiede in der Zustimmung zeigten. Demgegenüber gilt, dass Bildung ein wichtiger Schutzfaktor ist: Befragte mit hoher Bildung (Tertiärstufe) stimmten nur zu 22,7 Prozent zu, Befragte mit tiefer Bildung (obligatorische Schule) hingegen zu 41,8 Prozent. Auch zwischen den Regionen der Schweiz finden sich Unterschiede, wonach die Zustimmung am höchsten in der italienischsprachigen Schweiz ausfällt. Zudem zeigt sich, dass Befragte, die arbeitslos sind bzw. Arbeitslosengeld/Sozialhilfe beziehen, deutlich häufiger zustimmen als Befragte ohne solch einen Bezug staatlicher Transferleistungen. In ländlichen Gebieten fällt die Zustimmung etwas höher aus als in städtischen Gebieten.
Zusätzlich zur Verschwörungsmentalität wurden in der Befragung die Zustimmung zu linksextremen und rechtsextremen Orientierungen erfasst. Erstere wurden mit Aussagen wie «Wir brauchen keinen Staat und keine Parteien; wir können uns selbst am besten regieren.» oder «Wirklich frei können wir nur dann sein, wenn der ganze Staat abgeschafft wird.» gemessen. Rechtsextreme Orientierungen wurden mit sechs Aussagen wie «Die Schweiz sollte allein den Schweizern gehören, die schon seit vielen Generationen hier leben.», «Muslimen sollte jede Form der Religionsausübung in der Schweiz untersagt werden.» oder «Es leben zu viele Ausländer in der Schweiz.» erfasst.
Abbildung 1 stellt den Zusammenhang zwischen der Verschwörungsmentalität und extremen Orientierungen dar. Dabei werden die Auswertungen einmal für alle Befragten und einmal für eine Auswahl an Befragten präsentiert. Weil sich in Tabelle 1 deutliche Unterschiede zwischen Befragtengruppen gezeigt hatten, wurden die verschiedenen Merkmale konstant gehalten, insofern diese ggf. auch mit den Orientierungen in Zusammenhang stehen. Die Auswertungen auf der rechten Seite der Abbildung 1, die sich auf Befragte mittlerer Bildung in der deutsch-/französischsprachigen Schweiz ohne Bezug von Transferleistungen beziehen, führen aber zu identischen Ergebnissen, weshalb an dieser Stelle nur die Befunde zur Gesamtstichprobe betrachtet werden.
Diese zeigen einerseits, dass die Zustimmung zu linksextremen Orientierungen mit 3,9 Prozent niedriger ausfällt als zu rechtsextremen Orientierungen (20,8 %). Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass einem direkten Vergleich Grenzen gesetzt sind, insofern die einzelnen Aussagen zur Erfassung jeweils unterschiedliche Aspekte abbilden. Wichtiger als die Zustimmungsraten sind daher die Vergleiche zwischen den Befragten ohne und mit Verschwörungsmentalität. Die Ergebnisse sind eindeutig: Befragte, die eine Verschwörungsmentalität aufweisen, stimmen den extremen Orientierungen um ein Vielfaches häufiger zu als Befragte ohne solche Mentalität. Dies gilt für linksextreme wie rechtsextreme Orientierungen gleichermassen (die Korrelationen betragen .36 bzw. .43 und fallen für rechtsextreme Orientierungen nur geringfügig höher aus). Obwohl mit den Daten keine Kausalität geprüft werden kann, lässt sich dennoch sagen, dass verschwörungstheoretisches Denken ein Risikofaktor für extremistisches Denken ist; dies ist für links- und rechtsextremes Denken gleichermassen der Fall. Insofern aus der sozialpsychologischen Forschung bekannt ist, dass Orientierungen bzw. Einstellungen wiederum mit Verhalten in Zusammenhang stehen, kann gefolgert werden, dass Verschwörungsmentalitäten auch einen Risikofaktor für Extremismus allgemein, d. h. auch für extremistisches Verhalten darstellen.
Verschwörungstheorien mögen, wenn die Inhalte der z. B. eingangs erwähnten Corona-Pandemie bezogenen Erzählungen betrachtet werden, bisweilen lächerlich wirken. Hinsichtlich der Folgen sind sie es aber, wie anhand der Zusammenhänge mit links- und rechtsextremen Orientierungen aufgezeigt wurde, ganz und gar nicht. Verschwörungstheorien bedrohen in gewisser Weise die Existenz der Demokratie, insofern sie Bewegungen stärken, die um ihre Abschaffung bemüht sind. Zugleich ist es ein konstituierendes Merkmal der Demokratie, dass gängige Erklärungen zu bedeutsamen gesellschaftlichen Ereignissen hinterfragt werden dürfen. Eine «gesunde Skepsis» gegenüber Autoritäten und Institutionen ist in Demokratien erlaubt, ja gewünscht. Die Existenz und Verbreitung von Verschwörungstheorien ist Ausdruck der in Demokratien gewährten Gedankenfreiheit, das Ergreifen von Gegenmassnahmen damit ein schwieriger Balanceakt, der die Freiheit nicht übermässig einschränken darf.
Vor diesem Hintergrund lassen sich keine einfachen Folgerungen dahingehend ableiten, was gegen Verschwörungstheorien getan werden sollte. Aktivitäten sind zugleich notwendig, wenn man berücksichtigt, dass mehr als ein Viertel der Einwohner der Schweiz eine zustimmende Haltung aufweist. Mögliche Aktivitäten sollten sich dabei u. a. auf diese Bereiche fokussieren:
Bibliografie:
Baier, D., Manzoni, P. (2020). Verschwörungsmentalität und Extremismus – Befunde aus Befragungsstudien in der Schweiz. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 103, 83–96.
Imhof, R. (2014). Fragebogen zur Erfassung von Verschwörungsmentalität – Kurzform. In: C.J. Kemper, E. Brähler, M. Zenger (Hrsg.), Psychologische und sozialwissenschaftliche Kurzskalen. Standardisierte Erhebungsinstrumente für Wissenschaft und Praxis. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, S. 334–336.
Krouwel, A., Kutiyski, Y., van Prooijen, J.-W., Martinsson, J., Markstedt, E. (2017). Does Extreme Political Ideology Predict Conspiracy Beliefs, Economic Evaluations and Political Trust? Evidence From Sweden. Journal of Social and Political Psychology 5, 435–462.
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Rottweiler, B., Gill, P. (2020). Conspiracy Beliefs and Violent Extremist Intentions: The Contingent Effects of Self-efficacy, Self-control and Law-related Morality. Terrorism and Political Violence.
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