TANGRAM 45

«Verschwörungsideologen können von den Dynamiken der sozialen Medien profitieren»

Autorin

Katharina Nocun ist Publizistin, Bürgerrechtlerin, Netzaktivistin und studierte Ökonomin. Katharina.nocun@posteo.de Blog: https://kattascha.de

Das Interview führte Theodora Peter

Wie verbreiten sich Verschwörungstheorien in den sozialen Medien? Welche Strategien stecken dahinter? Was lässt sich dagegen tun? Diesen Fragen geht die deutsche Netzaktivistin, Bürgerrechtlerin und Publizistin Katharina Nocun schon länger nach.

Frau Nocun, zuerst eine Begriffsklärung: In Ihren Büchern vermeiden Sie den Begriff Verschwörungstheorie und sprechen insbesondere von Verschwörungserzählungen und Verschwörungsmythen. Weshalb?
Katharina Nocun: Bei Verschwörungserzählungen geht es meist um Behauptungen, die von der Wissenschaft längst widerlegt worden sind – zum Beispiel, die Erde sei flach oder die Mondlandung habe nie stattgefunden. Diese Geschichten sollten nicht noch zusätzlich mit einem Theoriebegriff aufgewertet werden. Im politischen Kontext sprechen wir auch von Verschwörungsideologien, um deutlich zu machen, dass bestimmte Weltbilder dahinterstehen. Ich stelle mich allerdings nicht dogmatisch gegen die Verwendung des Begriffs Verschwörungstheorie. Mich haben die Argumente für die Verwendung anderer Begriffe überzeugt – es handelt sich eben nicht um wissenschaftliche Theorien.

Welche Rolle spielen die sozialen Medien bei der Verbreitung von Verschwörungserzählungen?
Zunächst gilt festzuhalten: Bei Verschwörungserzählungen handelt sich nicht um ein grundsätzlich neues Phänomen. Bereits während der Pest im Mittelalter kursierten zahlreiche antisemitische Verschwörungsmythen. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass in der Zeit des Nationalsozialismus eine Mehrheit in Deutschland an eine jüdische Weltverschwörung glaubte, was letztlich den Weg für den Holocaust bereitete. Das Internet und die sozialen Medien sind ein neues Mittel für Verschwörungsideologen. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Regeln, nach welchen die Plattformen Inhalte ausspielen. So führen Algorithmen auf Youtube dazu, dass Videos vorgeschlagen werden, die Nutzer länger am Bildschirm halten. Dadurch kann es passieren, dass vermehrt verschwörungsideologische oder rechtsextreme Inhalte verbreitet werden. Ähnliches passiert bei Plattformen wie Facebook, Instagram oder Tiktok, die sich stark danach ausrichten, ob ein Beitrag viele Interaktionen provoziert – also Kommentare, Likes oder Weiterleitungen. Verschwörungsideologen können von diesen Dynamiken profitieren, wenn ihre Inhalte prominenter angezeigt werden.

Sie schreiben, auf den Online-Plattformen hätten sich geradezu eigene Informationsökosysteme gebildet. Was verstehen Sie darunter?
Die verschwörungsideologische Szene formt sozusagen einen eigenen Mikrokosmos mit Influencern, Videokanälen, Online-Shops, Festivals bis hin zu Urlaubsreisen. Wenn man in dieses Milieu abtaucht, findet man zahlreiche Akteure, die damit auch Geld verdienen. Interessant ist, dass die Akteure stark zusammenarbeiten und sich aufeinander beziehen. Influencer mit grosser Reichweite leiten immer wieder Inhalte von anderen Kanälen weiter. Damit schiebt man sich innerhalb der Szene gegenseitig Reichweite zu – eine Strategie, die auch im normalen Influencer-Milieu gang und gäbe ist. Hinzu kommt, dass auch in der Nische eigene Vermarktungsmodelle florieren. Bei Gesundheitsthemen ist das ein riesiges Problem: Wenn Menschen an eine grosse Medizin- und Wissenschaftsverschwörung glauben, dann fallen sie eher auf Scharlatane und Wunderheiler herein. Da werden hohe Summen ausgegeben für Mittel, die im schlimmsten Fall hochgradig schädlich sind – wie zum Beispiel industrielle Chlorbleiche, die angeblich gegen das Coronavirus helfen soll (was nicht stimmt). Verschwörungserzählungen können viel Leid verursachen.

Wie gross schätzen Sie den Anteil rassistischer Inhalte in diesen «Ökosystemen»?
Bereits vor der Corona-Pandemie gab es eine Verbindung zwischen Esoterik, rechtsextremer Szene und verschwörungsideologischem Milieu. Die Überschneidungen sind zum Teil sehr gross. Antisemitische Verschwörungserzählungen waren schon immer Bestandteil rechtsextremer Propaganda und sind nach wie vor verbreitet. Zwar wird heute nicht mehr offen von Judenhass gesprochen, sondern man verwendet Codewörter wie «Globalisten», und behauptet, diese würden die Welt regieren. Auch bei den rechtsextremen Attentaten wie zum Beispiel in Halle, Hanau oder Christchurch haben Verschwörungserzählungen eine Rolle gespielt. Die Täter glauben innerhalb ihres eigenen Narrativs, dass sie sozusagen die Hauptdarsteller ihrer eigenen Heldengeschichte wären und gegen eine grosse Verschwörung kämpfen. Die Ermordung von Unbeteiligten lässt sich in diesem Narrativ als Heldentat framen, und Gewalt wird zur legitimen Option verklärt angesichts einer angeblich alles bedrohenden Verschwörung. Wer ein solches apokalyptisches Schreckensszenario vor Augen hat, ist eher bereit, Dinge zu tun, die ihm sonst zu weit gehen würden. Dazu kommt, dass Verschwörungserzählungen auch Teil einer Immunisierungsstrategie sind: Alle, die einen kritisieren und hinterfragen, werden kurzerhand zum Teil der Verschwörung erklärt. Das ist besonders bequem für rechtsextreme Gruppen oder Parteien mit einem autoritären Politikverständnis.

Welche rassistischen Verschwörungsmythen werden nebst Antisemitismus auch noch verbreitet?
In den letzten Jahren hat sich international das Narrativ des «Great Replacement», des «Grossen Austauschs» stark verbreitet. Diese Verschwörungserzählung stammt ursprünglich aus der neuen Rechten in Frankreich. Es wird dabei behauptet, dass es einen gezielten Plan geben würde, die Bevölkerung in Europa gegen Einwanderer auszutauschen – weshalb, wird nicht weiter begründet. In antisemitischen Varianten wird der amerikanisch-ungarische Investor und Philanthrop George Soros beschuldigt, einen derartigen Plan ausgeheckt zu haben – was natürlich eine Lüge ist. Dieses Narrativ wurde sowohl von der AfD in Deutschland aufgegriffen wie auch von der Identitären Bewegung, die Ableger in verschiedenen Ländern hat. Erschreckend ist, dass das Vokabular der Verschwörungserzählung von einem angeblichen «Bevölkerungsaustausch» inzwischen in die breite gesellschaftliche Debatte eingesickert ist. Wenn ein AfD-Politiker wie Alexander Gauland verkündet, der «Bevölkerungsaustauch in Deutschland laufe auf Hochtouren», dann wurde ganz klar ein Begriff gewählt, der in der rechtsextremen Szene als Unterstützung des Narrativs vom «Grossen Austausch» ausgelegt wird. Man muss sich auch klarmachen, welches Bild dahintersteht: nämlich das einer homogenen Gesellschaft, in der Einwanderung, in ihrer Vielfalt gar nicht stattfinden darf. Im Kern geht es dabei um das alte rechtsextreme Narrativ des angeblichen «White Genocide», was wiederum eine klar rassistische Erzählung ist.

Wie sieht es mit rassistischen Verschwörungsmythen in linken Kreisen aus?
Verschwörungserzählungen sind ein Phänomen, das sich quer durch die ganze Bevölkerung zieht. Bei der Verbreitung spielt die rechtsextreme Szene eine grosse Rolle. In der esoterischen Szene sind Verschwörungserzählungen oft stark wissenschaftsfeindlich konnotiert. Innerhalb der politischen Linken finden sich Verschwörungserzählungen vor allem dort, wo beispielsweise statt struktureller Kapitalismuskritik auf einzelne Personen oder Akteure gezielt wird. Dabei können sogar manchmal antisemitische Klischees eine Rolle spielen. Es gibt aber auch religiös konnotierte Verschwörungserzählungen: Zum Beispiel wird im evangelikalen Milieu in den USA behauptet, satanistische Gruppierungen steuerten insgeheim die Regierung.

Was kann man gegen Verschwörungserzählungen tun?
Wir können alle etwas dazu beitragen, dass sich diese Geschichten weniger stark verbreiten. Dafür braucht es Zivilcourage. Wer solche Narrative in der Familie oder im Freundeskreis hört, sollte dazwischen gehen und klipp und klar sagen, wenn man etwas für falsch hält oder eine Quelle unseriös ist. Oft muss man nicht gross in eine Diskussion einsteigen, sondern es reicht, seine Position klarzumachen. Laut Beratungsstellen spielt das direkte Umfeld eine immens wichtige Rolle, wenn es darum geht, ein völliges Abdriften in ein verschwörungsideologisches Milieu zu verhindern. Dem besten Freund oder der Schwester hören die meisten noch zu, selbst wenn sie an eine grosse Medienverschwörung glauben. Je früher man interveniert, umso besser. In leichten Fällen hilft oft schon ein Faktencheck. Wenn jemand aber schon stark von einer Verschwörungsgeschichte überzeugt ist, dann wird es zunehmend schwieriger, mit Argumenten durchzudringen. Dann kann es hilfreich sein, sich eher auf das Stellen von Fragen zu verlagern oder sich schlicht danach zu erkundigen, wie es der Person geht. Manchmal kann der Glaube an eine Verschwörungserzählung auch aus einer gedanklichen Flucht vor Problemen resultieren. Verschwörungserzählungen docken sehr geschickt an psychologische Grundbedürfnisse an, die wir alle haben. Wir alle haben das Bedürfnis, Kontrolle über eine Situation zu haben, die Welt um uns herum zu verstehen, Teil einer Gruppe zu sein oder uns als etwas Besonderes zu fühlen. Eine Intervention auf emotionaler Ebene setzt genau hier an. Es gilt, sich zu fragen: Was macht diese Erzählung so attraktiv für den anderen? Welche Bedürfnisse werden dadurch gestillt? Wie kann man dem den Nährboden entziehen? Das kann ein langer Prozess sein, der nicht immer zum Erfolg führt.

Was sollen Plattformbetreiber gegen die Verbreitung von Verschwörungserzählungen tun?
Bei Facebook werden Falschmeldungen immer öfter mit einem von externen Faktencheck-Organisationen erstellten Faktencheck verlinkt. Bei Youtube wiederum werden derzeit lediglich Links zu Wikipedia eingeblendet. Ein trockener Text neben einem Videoformat reicht aber nicht aus, um die Userinnen und User anzusprechen. Es bräuchte einen richtigen Faktencheck.

Bibliografie:
Nocun, Katharina / Lamberty, Pia: «True Facts. Was gegen Verschwörungserzählungen wirklich hilft». Quadriga. 2021
Nocun, Katharina / Lamberty, Pia: «Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen». Quadriga. 2020
Nocun, Katharina: «Die Daten, die ich rief. Wie wir unsere Freiheit an Grosskonzerne verkaufen.» Lübbe. 2018