TANGRAM 49

Welchen Wert haben unsere «Werte»? Bekämpfung von Rassismus als demokratischer Auftrag

Die promovierte Politikwissenschafterin, Soziologin und Ethikerin Jeannette Behringer ist Gründerin und Leiterin des Forums Demokratie und Ethik. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Demokratie, Zivilgesellschaft und Partizipation; Ethik der Teilhabe; Menschenrechte und Nachhaltige Entwicklung.
behringer@demokratie-ethik.org

Rassismus ist eine schmerzvolle, tiefgreifende und die Menschenwürde verletzende soziale Erfindung von Menschen gegenüber «Anderen». Er widerspricht dem Versprechen der Demokratie, Menschenwürde, Grundwerte und politische Gleichheit zu garantieren. Die Bekämpfung von Rassismus ist somit ein demokratischer Auftrag.

Jeannette Behringer

Die Demokratie als zentrale gesellschaftliche Ordnungsform westlicher Gesellschaften kennt viele Definitionen, Verständnisse und nationale Ausprägungen. Die halbdirekte Demokratie der Schweiz, die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, die präsidentiell-parlamentarische Republik Frankreichs, um nur einige wenige zu nennen, kennen unterschiedliche Verteilungen von Macht, Prozessgestaltungen und Institutionenlandschaften – stabile Demokratien sind sie allesamt. Auch wenn die konkrete Ausgestaltung unterschiedlich ist – alle umfassen die Kernelemente, die ein demokratisches System auszeichnen: Erstens freie und faire Wahlen inklusive Vereinigungs- und Informationsfreiheit. Zweites wichtiges Merkmal sind Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung sowie die Garantie bürgerlicher Freiheiten. Drittes Element ist die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger – über Wahlen hinaus – durch zivilgesellschaftliche und lokale Orga¬nisationen sowie durch Gestaltungsmöglichkeiten der direkten Demokratie, wie z. B. Volksinitiativen und Bürgerinnen- und Bürgerentscheide. Schliesslich zeichnet sich eine Demokratie auch dadurch aus, wie stark sie das Gemein¬wohl fördert und wie weit sie politische und soziale Gleichheit erreicht – also durch den Zugang zu Macht, Ressourcen und Freiheiten. Im V-Dem-Index 2024, einem der am längsten und breit abgestützten empirischen Demokratie-forschungsprojekte, wird die Qualität der Schweizer Demokratie sehr gut bewertet (Nord et al., 2025, S. 14).

Besorgniserregend ist jedoch die Entwicklung, dass demokratische Systeme weltweit tendenziell abnehmen, autokratische Systeme hingegen zunehmen. Der V-Dem Democracy Report spricht bereits von einer dritten Welle der Autokrati¬sierung: 2024 lebten nur noch knapp 12 Prozent der Bevölkerung in Demo¬kratien, rund 72 Prozent der Bevölkerung lebten hingegen weltweit in Autokratien. Zum ersten Mal weist der Bericht eine grössere Anzahl an autokratischen Systemen (91) im Vergleich zu Demokratien (88) auf (ebda., S. 12).

Demokratie ist nicht neutral

Dieser Zusammenhang ist deshalb wichtig, weil demokratische Systeme auf Werten beruhen, die auf die Umsetzung sozialer und politischer Gleichheit abzie¬len und somit dem Ausschluss von Men-schen aus der politischen und sozialen Gemeinschaft entgegenwirken. Menschenwürde und politische Gleichheit gehören zu den zentralen «Versprechen der Demokratie» (Hubertus Buchstein): Die gegenseitige Anerkennung aller Menschen als Gleiche und Freie, die auf Chancengleichheit und einer aktiven Umsetzung der Menschenwürde und der darauf bauenden Grundrechte abzielt. Damit verbunden ist, den Zugang zu Anerkennung und politischer Gleichheit für alle Menschen aktiv sicherzustellen, unabhängig ihrer je individuellen Eigen¬schaften. Dies ist eine der zentralen zivi¬lisatorischen Errungenschaften, der eine lange gesellschaftliche Entwicklung vorausgeht.
Weitere zentrale Werte der Demokratie sind Freiheit und Gerechtigkeit. Diese Werte wurzeln in jahrhundertelangen Konflikten, Auseinandersetzungen und Debatten. Ihre Realisierung erfolgt in Brüchen, ist nicht einheitlich, kennt auch Rückschritte. Gleichzeitig existiert in Demokratien als pluralistischen Gesellschaften keine einheitliche «Definition» von Werten. Vielmehr handelt es sich um ein geteiltes Grundverständnis, das immer wieder diskutiert und auch interpretiert werden muss. Werte sind dennoch Orientierungslinien, die uns als Leitvorstellungen dienen, sowohl für Individuen wie für gesellschaftliche Institutionen und Prozesse (Göke 2015).
Als Dreh- und Angelpunkt, als Basis und Zielwert von Wertediskussionen gilt in Demokratien die Menschenwürde, die in der Garantie der Menschrechte ihre juristische Entsprechung findet. Nach der Katastrophe zweier Weltkriege im 20. Jahrhundert wurde der Wert der Menschenwürde durch die Vereinten Nationen in der «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte» am 10. Dezember 1948 auch international zur Richtschnur erklärt. Deshalb gilt er auch als MetaWert (Reheis, 1999, S. 72).

Als Dreh- und Angelpunkt, als Basis und Zielwert von Wertediskussionen gilt in Demokratien die Menschenwürde.

In der Schweizerischen Bundesverfassung ist die Menschenwürde als Grundlage des Staatswesens zu Beginn des zweiten Kapitels zu Grundrechten, Bürgerrechten und Sozialzielen in Artikel 7 abgebildet: «Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen.» Aus den Werten leiten sich also unmittelbare Normen ab, aus Werten abgeleitete Handlungsanweisungen. Somit stellen Werte nicht nur unverbindliche politische Ideen dar, sondern sind «Grundlagen für das Leben des Einzelnen, für das gesellschaftliche Zusammenleben sowie für Legitimität und Qualität der staatlichen Ordnung» (Detjen, 2009, S. 9).

In dieser Hinsicht ist die Demokratie nicht neutral: Sie ist Hüterin von Werten, verantwortlich für die lebendige Aus¬einandersetzung um Interpretation und Entwicklung von Werten und entspre-chender Normen. Werte und Normen sind in demokratische Institutionen und Prozesse eingewoben, sie sind die Grundlage staatlichen Handelns in Demokratien. So haben staatliche Institutionen, Parla¬mente, Regierungen und die Exekutive die aktive Aufgabe, faire, freie, gleiche und geheime Wahlen sicherzustellen – nur ein Beispiel für die Integration von Werten in demokratischen Prozessen.

Pragmatische Beharrlichkeit

Aus der Bedeutung des Meta-Werts der Menschenwürde für alle Menschen und dem daraus resultierenden Ziel der politischen Gleichheit ergibt sich ein aktiver Auftrag, die Einhaltung der Werte in aller Konsequenz anzustreben und durchzusetzen. Auf rechtlicher Ebene wird dies häufig durch die unmittelbare Norm des Diskriminierungsverbots geregelt, auch in der Schweizerischen Bundesverfassung. Im Bewusstsein, dass die Gleichheit der Menschen in der gesellschaftlichen Praxis verletzt wird, werden besondere Merkmale hervorgehoben, die einen häufigen Diskriminierungsgrund darstellen, zum Beispiel das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, das Alter, die religiöse Zugehörigkeit oder «die Rasse». Artikel 8 der Schweizerischen Bundesverfassung regelt die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und enthält in Absatz 2 das Diskriminierungsverbot:
«Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.»

Rassismus stellt eine fundamentale Verletzung der Menschenwürde dar, die der demokratische Staat aufgrund seiner Wertegrundlagen aktiv bekämpfen muss, indem er gegen Diskriminierung vorgeht. Dabei ist es wichtig, der oftmals geäusserten Relativierung entgegenzutreten, wonach es ohnehin eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Umsetzung von Werten wie der Menschenwürde gäbe. Dabei gilt es, auch die Grenzen demokratischer Ordnungsvorstellungen aufzuzeigen – stets mit dem Ziel, Rassismus in einem demokratischen Gemeinwesen aktiv zu bekämpfen: Demokratie lebt nicht nur von staatlichem Handeln, sondern auch von Moral und Zivilität. Diese entstehen im Privatbereich und müssen in der Zivilgesellschaft, durch staatliches Handeln und in der Wirtschaft gelebt und gepflegt werden.
Die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit entbindet staatliche, gesellschaftliche und private Akteure nicht davon, die Mängel zu beseitigen. Werte dienen allen Einwohnerinnen und Ein-wohnern als Leitideen und sollen durch Normen umgesetzt werden.

Gleichzeitig kann und soll der Staat, auch aus einer Begrenzung im Eigeninteresse der Bürgerinnen und Bürger, nicht in alle Sphären des Lebens «hineinregieren». Gerade deshalb bleiben Bemühun-gen auch stets hinter den normativen Anforderungen zurück. Gerade deshalb wird auch vor zu hohen Erwartungen an die Leistungsfähigkeit von Demokra¬tien gewarnt (Brodocz/Llanque/Schaal 2008).

Dies ist nicht als Aufforderung zur Untätigkeit zu verstehen, sondern als ein Plädoyer für pragmatische Beharrlichkeit und die Verantwortung aller. Rassismus ist eine Form der Diskriminierung, die Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Namens oder ihrer Sprache zu «Ande¬ren» macht, sie diskriminiert, ausgrenzt und abwertet. Die Fachstelle für Rassismus stellt in ihrem Monitoring für das Jahr 2024 fest, dass 17 Prozent der Wohn¬bevölkerung in der Schweiz in den letzten fünf Jahren rassistische Diskriminierung erfahren haben. Und nur langsam wach¬sen Bewusstsein und Bereitschaft, darüber zu reflektieren, dass Rassismus nicht nur eine «individuelle», sondern auch eine strukturelle Angelegenheit ist, mit der sich gerade demokratische Gesellschaften auseinandersetzen müssen, wenn sie ihre eigene Wertebasis ernst nehmen.

Rassismus trifft nicht nur die «Anderen», sondern die Würde von uns allen.

Die gesellschaftliche und politische Agenda dazu ist lang: Ressourcen, Personal und Geld für Antirassismusarbeit, Menschenrechtsbildung, Nachdenken über Strassennamen sogenannt «verdienter», aber rassistischer Persönlich¬keiten, Analyse von Musiktexten und Darstellung in Filmen.

Im Zeichen zunehmender autoritärer Systeme, auch in Europa, stellt das Thema Rassismus nicht nur eine «quantitative Agenda» dar, deren verschiedene Subthemen abgehandelt werden wollen. Es geht im Kern darum zu verstehen, dass ein qualitatives Herzstück demo¬kratischer Systeme angegriffen wird: Das Versprechen von Menschenwürde, Menschenrechten sowie politischer Gleichheit. Rassismus trifft nicht nur die «Anderen», sondern die Würde von uns allen.