TANGRAM 49

Familie, vielleicht

Den nachfolgenden Beitrag hat die in Jugoslawien geborene Schriftstellerin und Künstlerin Melinda Nadj Abonji an der Jubiläumsfeier zum 30 jährigen Bestehen der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) am 4. Juni 2025 in Bern vorgetragen – in einer gemeinsamen Performance mit der Pianistin Simone Keller.

1 Mein Fremdenpolizist hiess Weidmann. Ich habe mir oft vorgestellt, wie er an seiner Schreibmaschine sitzt und tippt, mit sich im Reinen ist. Weil mein Fremdenpolizist nichts anderes tat wie Hunderte, Tausende andere auch: das Gesetz vollziehen. Oder vollstrecken. Auch wenn ich den Namen meines Fremdenpolizisten kenne, sehe ich kein Gesicht, nur tippende Finger in einem Büro des Kaspar-Escher-Hauses. Ich vermute, dass er auch kein Gesicht vor sich sah, als er meinen Namen und den Namen meines Bruders tippte. Wir waren jugoslawische Kinder – das erregte sein Gemüt, besorgte ihn, und hier konnte er sich einbringen, im Kampf gegen das grössere Ganze, gegen die «Überfremdung» der Schweiz. Seltsam, den Namen meines Fremdenpolizisten zu kennen, der im Namen einer Behörde wie kein anderer Mensch jahrelang Einfluss auf unsere Leben nahm. Ein Bürokrat als Schicksalsgott. Zufall, dass er Weidmann hiess. Das Weidmannsheil – der Wunsch für Jagdglück und Glückwunsch zum Jagderfolg. Mein Weidmann hatte Erfolg, weil er nur die geharnischten Begriffe der Gesetze anzuwenden, mit seinem Namen zu besiegeln brauchte. Wie alle anderen auch. Die Fremden und die Polizei. Eine Kopulation von Substantiven. Wie das Blut und die Wurst. Die Kerzen und das Licht. 1917, als die Fremdenpolizei in der Schweiz durch Notrecht ins Leben gerufen worden war. Als direkte Reaktion auf die Oktoberrevolution. Revolution? Die Kommunisten? Waren hier unerwünscht. Ob mein Fremdenpolizist Antikommunist war, weiss ich nicht, aber er war ein eifriger Kämpfer, gegen mich, meinen Bruder und tausende andere Kinder auch. Gegen die «Überfremdung». Ein Begriff, der in der Schweiz erfunden wurde. Um besser jagen zu können. Weidmannsheil.

2 Schweizer Familien geniessen den Familienvorzug; der Familiennachzug bestimmt das Leben ausländischer Menschen, ihnen wird Familie verweigert, der Familienverbund – normalerweise jene unantastbare Einheit, von Konservativen und Rechtsnationalen als Keimzelle des Staates verherrlicht – steht nur jenen zu, die dazugehören, die dazuzugehören sollen. Zugehörigkeit (zum Staat) ist also Bedingung für Familie, entgegen dem Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der besagt, dass jede Person Anrecht auf die Achtung ihres Privat- und Familienlebens hat. Die Sprache der politischen Bürokratie bringt bitter-böse-biedere Wörter hervor, die Bedingungen erschaffen, um Menschen unmenschlich zu behandeln, im fadenscheinigen Licht der Rechtmässigkeit – Familiennachzug, ein in Paragraphen gegossener Begriff, der das Trauma zum Verschwinden bringen will; was geschieht VOR dem Nachzug? All die Familien, denen das Getrennt-Sein für Monate oder Jahre zugemutet wird; wollen «wir» darüber reden? Die Mehrheit einer Gesellschaft, die dazugehört, sich zufrieden gibt mit Wörtern wie Familiennachzug, weil auch sie davon profitieren, weil das Dazugehören die perfekteste aller Drogen ist, die die Illusion der Rechtmässigkeit erzeugt, dass die einen das Anrecht auf Familie haben – und andere nicht.
Worum es geht? Um einen Strick, Fallstrick; Eltern, gefangen im Dickicht der Paragraphen, einem Zustand der politischen Rechtlosigkeit und einem permanenten wirtschaftlichen Druck, der die Voraussetzung ist für jede Ausbeutung.

Und die Kinder? Sind irgendwo, versorgt, wenn sie Glück haben von fürsorglichen Verwandten, mehr oder weniger ausgeliefert, jedenfalls getrennt von den Eltern. Familiennachzug, wollen wir darüber reden – oder lieber nicht? Was es bedeutet, die Eltern ab und an zu sehen – und sie dann, schon bald, wieder zu vergessen? Die Eltern nicht mehr zu kennen? Wollen wir diese Geschichten hören, die sich hinter dem Wort Familiennachzug verbergen und für Eltern und Kinder zum unvergesslichen, verschwiegenen Trauma werden? Die Gnade des Familiennachzuges, von den Behörden endlich mit Stempel und Rechnung ausgestellt, die Kinder, ein weiteres Mal getrennt (in meinem Fall von der Grossmutter, von meinem Bruder, von den Tieren, von einem endlosen Himmel, von einer Sprache, von allen Äpfeln, die je von den Bäumen gefallen sind und alma heissen); die Gnade der Einreise, der Beginn einer neuen Leidensgeschichte mit dem Titel: die Familie lernt sich kennen. Wo anfangen? Am besten mit der Sprache, mit einzelnen Wörtern, Familie vielleicht.

3 Ein strömender Frühlingsregen, der abrupt aufhört … und sie trinken gemeinsam eine Flasche Bier, stossen an, auf ihren Entschluss, auf unser Glück! Sie verkaufen ihre Hühner. Packen die Gläser ein, das Geschirr, entscheiden, was sie mitnehmen, was nicht. Er dreht die Flamme des Boilers ein letztes Mal ab, sie faltet eine Decke, kniet auf sie, verschnürt sie, damit sie möglichst wenig Platz einnimmt. Sie zweifelt, er muntert sie auf, küsst ihre Tränen aus dem Gesicht. Als sie die Tür schliessen, fragt das Kind, was wird aus uns, anyu, Mami? Sie schaut ihn an, streichelt sein Gesicht. Er hebt den Jungen auf seine Arme, wir holen euch, das weisst du doch, so rasch wie möglich! Wievielmal schlafen?, und der Junge umklammert seinen Hals. Die Frage bleibt unbeantwortet. Er stellt den Jungen wieder auf den Boden, schultert das Gepäck, komm, es ist spät. Sie schaut nach dem Baby, es schläft, und sie nimmt den Koffer in die eine Hand, stösst mit der anderen den Kinderwagen. Sie gehen los.

Sie hatten nicht mit dem Gesetz gerechnet. Oder sie hatten vom Gesetz gewusst, aber nicht geglaubt, dass es wahr ist. Sie sagte, das kann doch nicht sein. Und wenn es so ist, dann machen sie bestimmt Ausnahmen, meinte er. Ein Freund, der schon länger in der Schweiz war, klärte sie auf. Über den Familiennachzug. Sie wollen unsere Kinder nicht. Nach ein paar Jahren vielleicht, wenn wir alles richtig machen. Aber warum, sagte sie, sollten wir es nicht richtig machen? Wir sind ja deswegen gekommen, weil unser Leben so … falsch war. Wie kann man keine Kinder wollen? Wie können sie einem die Kinder verbieten? Du hast mir gesagt, dass es nur für kurze Zeit ist, und sie schaute ihren Mann an. Ich wusste es auch nicht genau, glaub mir, glaubst du mir nicht?

Statt die Frage zu beantworten, stellte sie immer neue Fragen. Aber warum? Weshalb können andere Kinder haben und wir nicht? Wir sind doch Eltern … oder? Wie sollen wir Eltern sein, wenn unsere Kinder nicht bei uns sein dürfen? Was sagt ihre Kirche dazu? Bei uns hatten wir doch kein Kinder-Verbots-Gesetz oder etwa doch? Und sie hörte nicht auf, auch wenn die beiden Männer so taten, als hörten sie ihr nicht mehr zu. Haben wir nicht alles verkauft, die Möbel und alles? Haben wir nicht im Zug schon gesagt, dass uns die Kinder fehlen? Mir jedenfalls fehlen sie, und wie soll ich so arbeiten, was meint ihr, wenn ich immer an meine Kinder denke? Ob es ihnen gut geht? Wie soll ich das überstehen, wenn ich weiss, dass es jahrelang dauern kann, könnt ihr mir das sagen? Wie soll ich schlafen, wie soll ich zur Ruhe kommen, wie soll ich essen, wie soll ich mich anziehen? Das kann doch nicht sein, dass sie das wollen, oder? Oder wollen sie das? Dass wir so ein Leben leben? Sind wir keine Menschen? Was sind wir, wenn wir keine Menschen sind? Haben wir Rechte oder haben wir keine?

Und als sie immer schneller sprach, als sie mehrmals hintereinander «hört ihr mir überhaupt zu» rief, wurde es ihrem Mann zu viel. Er schlug mit der Faust auf den Campingtisch, so dass dieser zusammenkrachte, zerbrochenes Geschirr auf dem Holzboden, und sie sammelten zu dritt die Scherben ein, legten sie in eine Papiertüte; der Freund verabschiedete sich, beschämt ob seiner Feigheit. Ihr Mann umarmte sie, es würde alles gut werden, wir müssen eine Weile durchhalten, bis das Glück beginnt. Wir können nicht mehr zurück, sagte er, drehte an seinem Schnauz. Aber sie antwortete nicht. Sie dachte nur. Immer denselben Satz: csapdában vagyok. Ich bin in einer Falle.