TANGRAM 49

Niemand warnt dich vor der Schweiz

Text zum Anlass der Feier des 30-jährigen Jubiläums der EKR

Fatima Moumouni, Spoken Word Poetin und Kolumnistin

Ich schreibe aus dem Komfort der Schweiz und grossem Unwohlsein zugleich

Alles ist nach rechts gekippt als wär die Erde eine Scheibe
und die Verdammten dieser Erde leben auf der Unterseite

Ausser in der Schweiz, denn hier ist alles gut
alles so schön leise
man hört nicht mal die Wut

Wir sind hier so privilegiert,
dass jeder, der jammert sich fürs “Mimimi” geniert
Hier gibts ja keine Hindernisse, hier baut man Tunnel in den Berg
Hopp Schwyz! und wehe allem, das den Tunnelblick verdirbt

In der Schweiz lamentieren ist wie telefonieren im Zug:
Das würde wohl eher stören
“shhhh”, “unhöflich”, “z’luut”

Die halbe Welt ein Abgrund und wir: leben auf der Alp
Hier glaubt man an Heidis Klara und das Märchen von der Weid
also: dass die Bergluft alles heilt
Und der Steuerzahler fragt, wer das alles zahlt?
oder!

Ja, es ist sehr befreiend, von einem Berg zu schreien
[jodel] Aaaaaaaaaah huuuuuhuuuu – das weisst du, das weiss ich
doch selten hört man, was ein Fluch das auch ist.
Hier gibt es ganze Täler, nicht nur Schattenseiten
Drei von vier Vierteln sind Wähler, doch wer zittert wohl zu Abstimmzeiten?
Der raue Wind schluckt unsre Stimmen
Und unberechenbare Stürme ham auch politisch ihr System

Wer weiss, welcher Wolf uns morgen Nacht wieder wach hält
wir reden von Menschen mit schwarzen Schafen im Sprachbild

Der Kampf gegen Rassismus hört nicht auf, denn er ist lang
ausser in der Schweiz,
da hat er fast nicht angefangen

Dass ich auf der Bühne steh, heisst nicht dass ich gleich bin
weil ich auch muslimisch, queer, Frau und auch nicht weiss bin
aus dieser Position ist es immer eine Fangfrage
Was heisst es eigentlich zu sprechen, ohne dass ich Angst habe
mir dabei’s Genick zu brechen, wenn ich etwas anklage?

Wo fange ich an? Und:
Wenn ich die Bundesrätin treffe, was sag ich ihr dann?
Wenn ich die Bundesrätin treffe, was sag ich ihr dann?
“Guete Tag, schönes Land!”?
Oder ob sie wohl auch das Apero kaum erwarten kann?
statt:

Die Berge kommen näher, sie sind wohl konziliant
Bei all dem Stolz, dass sich hier links und rechts die Hand geben kann
wird oft vergessen, es gibt hier Menschen die hängen nur noch mit einer
schwachen Hand an nem Hang
und der Wert einer Willensgemeinschaft ist, wie viel sie fängt
von denen die falln

Warum ringt dieses Land so sehr mit Gleichbehandlung
Und das Sprechen über Menschenrechte klingt wie ne Preisverhandlung?

Die Schweiz hat ihre Mittel gegen Unrecht voller Härte
Bricht die Welt in ihrer Mitte zeigt dieses Land seine Werte
sie schützen den Mensch
und mitten in Genf
sitzt die UN, wohl nicht UNWRA- ähm wohl nicht unwahr
und wenn es blitzt, wenn es brennt, dann ist der wichtigste Grundsatz
also das, nach dem wir hier streben
was die Schweiz verteidigt mit ihrem eigenen Leben
wozu sich nicht zu bekennen, eine Beleidigung wäre
das wofür sie steht, mit drei Fingern Vereidigung schwörend,
Das Mantra aller Schweizer*innen, die einzig feste Meinung:

Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Kleidung!

Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Kleidung
das klingt wie ein Sprichwort doch ist wohl mehr Verteidigung

Alles ganz pragmatisch im funktionalen Outfit
Schweiz ist aus dem Fenster zu schauen, wenn es schifft und es stürmt da draussen.
“Lueg! Aso..aso.. – kaum zu glauben”
Hagel: “hey nei!”
Wind: “ja. chamer nüt mache”
zum Glück windets da inne nöd! nich?

Kälte: “es isch eso. aber uunmöglich! Aso”
“Aso Aso Aso! Was da dusse alles los isch!”

Die Schweiz sitzt immerzu am Fenster.
Doppelglas, frisch geputzt,
nach aussen gibts nen Sichtschutz
das ist der Trick, den sie schon durch ihre ganze Geschichte nutzt
und dann tut sie wieder pflichtbewusst
hat vergessen oder nicht gewusst
Wer Swissness eben richtig nutzt nennt es neutral: nichts tun ohne Gesichtsverlust

Ein Wolf in Schokoladenfell.
Achtung.
Niemand warnt dich vor der Schweiz.
Niemand sieht die Flagge und weiss sofort, dass Blut rot ist
Alle sehn das Kreuz, wo das Gleichgewicht im Lot ist
Alle sehn die Sauberkeit, denn die Schweiz die putzt neurotisch,
Niemand sieht das Gold und denkt an den Dreck
Niemand sieht das Geld und rennt sofort weg
Niemand warnt dich vor der Schweiz
unsichere Seilschaft auf dem Berg beim Klettern
Niemand warnt dich vor der Schweiz
und ihren Gesetzeslücken
Dank an die Vorsteiger die sich schon vor uns mit festen Griffen hielten
an bröckligen Klippen
um uns doch ein paar Rechte zu sichern

Niemand warnt dich vor der Schweiz
wenn ich s nicht wüsste, würd ichs auch nicht wissen
Doch am hoffnungsvollen Himmel sieht man immer graue Spitzen:

Recht auf Diskiminierungsfreiheit macht selten Welle
Recht vor Gericht gegen Rassismus, seltene Fälle
Oft bleibt nur ein Verweis auf die Meldestelle
Die Schweiz ist langsam, die Welt ist schneller
Hier zahlt man sogar für den Schlag in den Bauch
Wenigstens melden für die Statistik, vielleicht wacht jemand auf!

Der Blick auf die Welt
geformt von neutralen Meinungen aus rechten Zeitungen
es gibt hier keine Kälte
es gibt nur schlechte Heizungen

Aber was ist mit dem Winter?
und dem rauen Wind im Nacken
Was ist mit dem Winter
die trockene Heizungsluft im Rachen?
ewiger Pfnüsel mit kalten schnupfenden Nasen

Was ist mit dem Winter?
Was mit denen, die vom Skilift gefallen sind?
Was ist mit denen, die nie richtig Teil sind?
die sich überlegen, doch im Süden zu altern
weil sie die Biese zu kalt finden

Was ist mit dem Winter?
Was mit denen die keine Funktionskleider haben
keine ON-Schuhe tragen
Fälle ohne Fürsprache
die von der Jurisdiktion nichts erwarten
und doch die humanitäre Tradition hinterfragen


Was ist mit dem Winter?
was mit denen, die eure Tunnel gebaut ham tief
was mit denen, die nie wieder raus kamen nie
was mit denen, die hier putzen, eure Hecken stutzen, eure Eltern stützen
was mit denen, die euch nützen?
denen, die hier bauen und ihren Rücken kaputt gemacht haben
denen, die sich nicht trauen beim Sozialamt Stutz zu beantragen
Was mit denen, die zu wenig Schutz in diesem Land haben?

Was ist mit dem Winter?
und was helfen Raclette und Fondue
wenn man darauf wartet ne Chance zu kriegen
was helfen Jacke, Schal und Handschuh
Wenn man Wohnung und Job mit dem falschen Namen sucht?

Was ist mit dem Winter?
Wenn Würfel und Blätter schon gefallen sind
und die Gesetze zu viel zu kalt sind

ganz neutrale Fragen an ein neutrales Land
wer dieses Land kennt zieht sich tatsächlich warm an

Geschichtsverdruss und Rechte Hetze
Es gibt hier kein Rassismus – es gibt nur schlechte Gesetze
irgendwann wird man wohl was machen
denn in der wohlverfassten Präambel der Schweizer Bundesverfassung steht,
dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohle der Schwachen, eh.

Es ist jetzt Zeit für Wandel.
es braucht unter anderm ein Gesetz für Gleichbehandlung
Wann, wenn nicht wann – ich weiss nicht – wer, wenn nicht… wer?
Vielleicht jetzt zum dreissigsten Jubiläum der EKR.

Epilog
(zum laut Lesen, die Variablen X ergeben sich aus dem Reim)

Ich weiss, dass man in Krisenzeiten nie ein Zeichen
setzt mit schiefen Reimen, das wird niemals reichen.
Und doch ist wichtig den Mund aufzumachen und aufzupassen
Weil das Wort in einer Demokratie gar nicht wenig wiegt:
und vor unseren Augen passiert in x ein x
Da draussen stürmts und es passieren Völkerrechts- und andre Verletzungen
macht das Fenster auf –
es ist Zeit sich mit unserer Verantwortung auseinanderzusetzen

Gerade in der Schweiz vergisst man, dass es bei Diskussionen um Diskriminierungsfreiheit, «Diversity» und Gleichbehandlung immer auch um Leben und Tod, also auch um Sicherheit geht. Unsicherheit gehört zum Alltag vieler Minderheiten – also der Mehrheit der Menschen auf der Welt. Dazu gehören nicht nur Krieg, illegale Besatzungen, die Klimakrise und menschengemachte, politisch motivierte Hungerkrisen. Auch Rassismus, darunter Anti-Schwarzen Rassismus, antimuslimischer Rassismus, Antisemitismus, Rassismus gegen Sintizze und Romnja, andere Rassismen sowie Queerfeindlichkeit, Ableismus und weitere Diskriminierungsformen machen diese Welt gerade für viele Menschen unerträglich.

Die Schweiz hat nicht nur den Ruf einer humanitären Tradition, einer Hüterin der Menschenrechte und Vermittlerin in Zeiten von Krieg und Unrecht. Sie profitiert auch massiv davon – beides verpflichtet. Sie profitiert teilweise auch direkt von der Unsicherheit in anderen Ländern.
Ich möchte dafür plädieren, dass Sie, wir, die Schweiz, uns in die Unsicherheit begeben, zu fragen, ob wir genug machen. Und wie wir die Welt und die Schweiz zu einem sichereren Ort machen können – und das keinesfalls im Sinne einer rechtskonservativen bis rechtsextremen Weltsicht – sondern im Sinne einer kompromisslosen Menschlichkeit und gegen eine radikale Gleichgültigkeit.

Sonst ist die Schweiz nicht die Schweiz.
Also oder je nachdem: Vielleicht ist die Schweiz auch einfach ... die Schweiz, aber ich wünsche mir jedenfalls mehr
«Schweiz» von der Schweiz.