TANGRAM 33

«Rassistische Sprachbilder der Gegenwart schreiben eine lange Geschichte von Ausgrenzung und Gewalt fort»

Zusammenfassung des Artikels
« Enoncés dans le présent, les actes de discours racialisés ravivent une longue histoire d’exclusion et de violence » (französisch)

Noémi Michel ist Assistentin des Departements Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen der Universität Genf. Sie schreibt eine Dissertation in politischer Theorie über Sprechakte und Postkolonialismus in Europa.
noemi.michel@unige.ch

Noémi Michel erklärt, weshalb rassistische Beschimpfungen – und andere aus der Zeit des Kolonialismus stammende stereotype Äusserungen und Bilder – die Gefahr bergen, dass Ausgrenzung und Gewalt gegenüber Gruppen oder Personen, die als «schwarz» wahrgenommen werden, wieder aufleben. Die Macht solcher Worte und Bilder kommt nicht allein daher, dass sie geäussert und in Umlauf gebracht werden, sondern dass sie gesellschaftlichen und politischen Konventionen entstammen. Für die schwarzen Minderheiten sind die Äusserungen und Bilder deshalb besonders verletzend, weil sie während Jahrhunderten zu den Konventionen und Praktiken systematischer Ausgrenzung und Gewalt gehörten. Wenn man heute behauptet, die Schweiz «habe mit Kolonialismus und Sklaverei nichts zu tun», geht vergessen, dass auch unser Land von rassistischen und kolonialistischen Vorstellungen geprägt worden ist und dass sich Schweizer Bürgerinnen und Bürger auf verschiedenste Weise am Kolonialismus beteiligt haben. Diese Wahrnehmung weist dem Rassismus eine andere zeitliche und räumliche Dimension zu und verschleiert die Tiefe der in fünfhundert Jahren angesammelten Verletzungen durch jede rassistische Beschimpfung. Diese werden der Kategorie der allgemeinen Beschimpfungen zugeordnet und die schwarzen Minderheiten als zu empfindlich oder gar paranoid taxiert. Je enthistorisierter und versteckter der Rassismus jedoch ist, für desto normaler wird er gehalten und desto unmöglicher ist es, ihn zu erfassen, zur Diskussion zu stellen und zu bekämpfen. Laut Noémi Michel soll mit der Bekämpfung rassistischer Äusserungen, Bilder und narrativer Muster auf die gewalttätige Vergangenheit solcher Sprechakte und auf ihre Auswirkungen auf die Gegenwart aufmerksam gemacht werden. Damit soll die Gegenwart verändert, die Wirkung der erniedrigenden Vergangenheit gemildert und der Blick auf eine gerechtere Zukunft gerichtet werden.