Autoren
Der promovierte Sozialwissenschaftler Laurent Cordonier ist Forscher an der Stiftung Fondation Descartes (Paris) und externer wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Lausanne. laurent.cordonier@gmail.com
Der promovierte Neurowissenschaftler Sebastian Dieguez forscht am Labor für kognitive und neurologische Wissenschaften der Universität Freiburg (Schweiz). sebastian.dieguez@unifr.ch
Am 15. März 2019 drang in Christchurch in Neuseeland ein Mann in zwei Moscheen ein und schoss mehr als 50 Menschen nieder, die sich zum Freitagsgebet versammelt hatten. Tags zuvor hatte der Terrorist, ein weisser Suprematist, ein langes Manifest ins Internet gestellt, worin er seine Tat begründete. Er wollte gegen das kämpfen, was die in rechtsextremen Gruppierungen sehr weit verbreitete Verschwörungstheorie den «Grossen Austausch» nennt.
Die Theorie des «Grossen Austauschs» kennt verschiedene Facetten, darunter diejenige des französischen Identitären Renaud Camus, der zu ihrer relativen Popularität seit Beginn der 2010er-Jahre beigetragen hat. Unabhängig von ihrer Ausformulierung ist der Kern dieser Theorie immer derselbe: Die politischen, intellektuellen und medialen Eliten der westlichen Länder arbeiten im Verborgenen an der allmählichen Auswechslung der einheimischen weissen Bevölkerung durch Bevölkerungen aus Subsahara-Afrika und dem Maghreb, da diese leichter zu unterdrücken wären als die weisse Mittelschicht. Die Existenz und das Überleben der Weissen und der «westlichen Zivilisation» sei durch dieses düstere Komplott in Gefahr. Demografische Studien zu dieser Frage widersprechen der Behauptung, dass eine solche Auswechslung von Bevölkerungen im Gange wäre, und es gibt keinen Grund zu denken, dass die Regierungen westlicher Länder ihre Bevölkerung «ersetzen» wollten.
Das Attentat von Christchurch illustriert auf die schlimmstmögliche Weise die in unserem ersten Artikel aufgezeigte Problematik der Verschwörungstheorien als zentrales Element zur Konstruktion eines Todfeinds – in diesem Fall die muslimischen Einwanderer und ihre Nachkommen. Empirisch konnte nachgewiesen werden, dass die Theorie des «Grossen Austauschs» bei ihren Anhängerinnen und Anhängern zu Muslimfeindlichkeit führt (Obaidi, Kunst, Ozer & Kimel, 2021). Mit der Bezeichnung eines Feindes und der Legitimierung aller Mittel zu seiner Bekämpfung dienen Verschwörungstheorien dieser Art als Antrieb für Täter, die sich als «schwache Akteure des politischen Spiels» sehen und denen es «die Verschwörungsrhetorik [...] erlaubt, sich bis hin zur Autarkie als Hüter einer abgelehnten Wahrheit zu betrachten, zu verselbstständigen und zu denken (Taïeb, 2010: 281).
Allgemein erklären die Verschwörungstheorien das – tatsächliche oder vermeintliche – Unglück der Welt durch Erzählungen über Akteure mit bösen Absichten. Sie vermitteln denen, die daran glauben, ein Gefühl der Kontrolle über eine Umwelt, die sonst dem Zufall überlassen wäre. Aus diesem Grund ist die Verschwörungsideologie als Form der unbewussten geistigen Strategie zur Bekämpfung von Ängsten besonders häufig bei sozialen Gruppen anzutreffen, die sich aus einem objektiven oder vermeintlichen Grund von Prekarisierung, Enteignung oder Herabstufung betroffen fühlen oder sich davor fürchten (vgl. z. B., DiGrazia, 2017; Goertzel, 1994; Uscinski & Parent, 2014).
Es ist daher nicht verwunderlich, dass Rassismusopfer oder im weiteren Sinn Angehörige von Minderheiten oder diskriminierten Gruppen ebenfalls Verschwörungshaltungen annehmen können, um ihren Status zu erklären. Sie können in den Verschwörungstheorien ein Erklärungsraster finden, das ihrer Situation einen Sinn gibt und eine eindeutige Begründung liefert für die sozialen Ungerechtigkeiten, deren Opfer sie sind. Verschwörungstheorien handeln in diesem Kontext von den Absichten und Methoden der Macht oder der Mehrheitsgruppen. Dies ist beispielsweise der Fall bei den Verschwörungstheorien, die seit Beginn der AIDS-Epidemie zirkulieren.
Verschiedene solche Theorien behaupten, dass das AIDS-Virus von der Regierung der Vereinigten Staaten hergestellt worden sei und dass die Mitglieder der afro-amerikanischen Gemeinschaft willentlich damit infiziert wurden, um sie zu schwächen oder sogar auszumerzen. Eine Version dieser Verschwörungstheorie wurde auch von der muslimischen afro-amerikanischen Organisation Nation of Islam vertreten. Andere Verschwörungstheorien behaupteten, dass die Gesundheitsdienste der Vereinigten Staaten zusammen mit weissen Suprematisten die homosexuelle Gemeinschaft bewusst dem AIDS-Virus ausgesetzt hätten.
Eine interessante ethnografische Studie zeigt, wie sich stigmatisierte Minderheiten in den benachteiligten Quartieren von Brüssel mit Verschwörungstheorien behelfen, um ihre Situation zu verstehen. Diese Untersuchung weist nach, dass in diesen Quartieren junge Eingewanderte und Nachkommen von Eingewanderten aus Marokko oder Subsahara-Afrika stark den Theorien anhängen, wonach Medien, Politik und Ordnungskräfte westlicher Länder zusammenarbeiten, um die eingewanderte und muslimische Bevölkerung als Quelle sozialer Unruhen darzustellen und die öffentliche Aufmerksamkeit von den tatsächlichen bösen Akteuren abzulenken – den «Mächtigen» und der «globalen Mafia» (Mazzocchetti, 2012).
Beispielsweise seien die Attentate vom 11. September 2001 in den USA von der amerikanischen Regierung selber organisiert und Islamisten zugeschrieben worden, um die muslimischen Gemeinschaften im Westen zu stigmatisieren. Indem junge Eingewanderte und Nachkommen von Eingewanderten solchen Theorien anhängen, «geben sie der Vergangenheit (dem Schweigen rund um die Kolonialisierungs- und Migrationsgeschichte) und ihrem Bewusstsein der gegenwärtigen Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierungen [...] einen Sinn. [Diese] Beschreibung der Welt durch Verschwörungstheorien ist auch eine Art und Weise, die Kontrolle über die Ereignisse zu übernehmen, indem man sie kohärent und akzeptabel macht, um damit die Opferrolle zu verlassen und zu einem bedeutenden Akteur zu werden» (Mazzocchetti, 2012: 6).
Man sieht, dass die Verschwörungsideologie häufig im Gefühl verwurzelt ist, zu einer stigmatisierten, bedrohten Gruppe zu gehören oder Opfer sozialer Ungerechtigkeit zu sein. In bestimmten Fällen entspricht dieses Gefühl einer objektiven Realität, in anderen entsteht es aus einer Angst, die auch dann ihre Wirkung tut, wenn sie nicht berechtigt ist. Verschwörungstheorien können über die Empörung zwar Menschen mobilisieren und zusammenbringen, aber sie sind eine politische Sackgasse, selbst wenn das ursprüngliche Gefühl der Ungerechtigkeit legitim ist. Der Blickwinkel der Verschwörungsideologie verhindert eine schlüssige Beurteilung der Situation und damit auch die effektive Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeiten. Anders gesagt ist die Verschwörungsideologie immer eine Falle und nie ein Instrument der Emanzipation.
Bibliografie:
DiGrazia, J. (2017). The social determinants of conspiratorial ideation. Socius, 3, 1-9.
Goertzel, T. (1994). Belief in conspiracy theories. Political Psychology, 15, 731-742.
Mazzocchetti, J. (2012). Sentiments d’injustice et théorie du complot. Représentations d’adolescents migrants et issus des migrations africaines (Maroc et Afrique subsaharienne) dans des quartiers précaires de Bruxelles. Brussels Studies [en ligne], 63.
Obaidi, M., Kunst, J. R., Ozer, S., & Kimel, S. (2021). The Great Replacement Conspiracy: How the Perceived Ousting of Whites Can Evoke Violent Extremism and Islamophobia. [Preprint available at https://osf.io/b25r3]
Taïeb, E. (2010). Logiques politiques du conspirationnisme. Sociologie et sociétés, 42(2), 265-289.
Uscinski, J. E. & Parent, J. M. (2014). American Conspiracy Theories. Oxford, Oxford University Press.