TANGRAM 45

Editorial

Autorin

Martine Brunschwig Graf ist Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR

Warum widmet die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) Verschwörungstheorien und Fake News eine komplette Tangram-Ausgabe? Das Thema liegt zwar im Trend, doch dies ist gewiss nicht der Hauptgrund. Die Tatsache, dass Verschwörungstheorien im Internet aktuell so präsent sind ist beunruhigend, weil bekannt ist, dass Sie als Triebwerk für rassistische Einstellungen und Diskurse dienen können, und dass die Gruppen, die dem Rassismus und der Rassendiskriminierung am stärksten ausgesetzt sind, auch zu ihren ersten Opfern gehören.

Das Erfinden, Inszenieren und Verbreiten von haltlosen Verschwörungen ist kein neues Phänomen. Eines der bekannteren Beispiele sind die «Protokolle der Weisen von Zion», die Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen sind, aber in älteren Verschwörungstheorien wurzeln. Wie andere in der Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung aktive Institutionen, musste auch die EKR feststellen, dass Covid nicht nur zu schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen führt, sondern mit einem «zeitgemässen» Verschwörungswahn auch rassistische und fremdenfeindliche Auswüchse hervorbringt.

In der vorliegenden 45. Nummer des Tangram werden diese Fragen aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet und der Problematik in Wechselwirkung mit Rassismus nachgegangen. Das breite Spektrum an Analysen und Meinungen erlaubt es den Leserinnen und Lesern, sich eine eigene Meinung zu bilden, auch wenn das Thema damit nicht abschliessend behandelt ist.

Wer Rassismus bekämpfen will, muss Stereotype und Vorurteile bekämpfen. Die vom Bundesamt für Statistik durchgeführte Erhebung zum Zusammenleben in der Schweiz 2020 zeigt etwa, wie viele der Befragten Stereotypen gegenüber bestimmten Gruppen zustimmt. Bei Stereotypen gegenüber Schwarzen Personen beträgt ihr Anteil 11 Prozent, gegenüber Jüdinnen und Juden 22 Prozent und gegenüber Musliminnen und Muslimen 20 Prozent. Der Kampf ist noch lange nicht ausgefochten, im Gegenteil. Im Lauf der Zeit und mit jeder Generation gestaltet er sich neu. Besorgniserregend ist aber, mit welcher Leichtigkeit heute Falschinformationen und Lügenkonstrukte zusammengeschustert und verbreitet werden können. Und mit welchem Tempo die abwegigsten Thesen völlig ungefiltert aufgegriffen und weiterverbreitet werden.

Verschwörungstheorien und Fake News fallen somit auf fruchtbaren Boden und schlagen leicht Wurzeln. Um gegen das Phänomen anzukämpfen, ist es wichtig, die Gründe zu verstehen, weshalb gewisse Menschen statt wie sonst ihr kritisches Denken einzusetzen, unreflektiert Thesen folgen, die kritisch hinterfragt werden müssten.

Mit der Pandemie kristallisieren sich gewisse Phänomene heraus und verstärken sich. Sie bringt neue Verschwörungstheorien und Fake News hervor und verleiht bestehenden mehr Kraft. Ein Trugschluss ist es hingegen zu glauben, dass mit dem Ende der Pandemie auch die Verschwörungstheorien verschwinden werden. Lüge und Manipulation hinterlassen Spuren in den Köpfen und in den Gefühlen. Rassistische Diskurse und Reflexe, die in dieser Zeit Auftrieb erhalten haben, sind ernst zu nehmen und müssen bekämpft werden.

Wir sind gegenüber Verschwörungsideologien und Fake News nicht machtlos. Wir alle können unseren Beitrag im Kampf gegen diese Übel leisten. Wie alle anderen in der Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung aktiven Institutionen und Kreise ist auch die EKR hier gefordert. Wollen wir die Übel an der Wurzel packen, müssen wir verschiedene Wege einschlagen: im Bereich Jugend- und Erwachsenenbildung sind etwa die Medienkompetenz und das Wissen über soziale Netzwerke zu fördern, und es braucht aufwändige Grundlagenarbeit, um Verschwörungstheorien und Fake News zu enthüllen und zu widerlegen. Auch die digitalen Medien und die Printmedien müssen ihren Part übernehmen, sie können sich nicht passiv auf die Zuschauertribüne zurückziehen. Pressefreiheit beinhaltet auch die Pflicht, sie rechtens einzusetzen.

Abschliessend daher einen Auszug aus der Erklärung der Pflichten und Rechte, zu denen sich Schweizer Journalistinnen und Journalisten bekennen:

«Sie veröffentlichen nur Informationen, Dokumente, Bilder, und Töne, deren Quellen ihnen bekannt sind. Sie unterschlagen keine wichtigen Elemente von Informationen und entstellen weder Tatsachen, Dokumente, Bilder und Töne noch von anderen geäusserte Meinungen. Sie bezeichnen unbestätigte Meldungen, Bild- und Tonmontagen ausdrücklich als solche.»

Die Pflicht der Journalistinnen und Journalisten, Bild- und Tonmontagen auszuweisen, müsste analog für manipulierte Texte, falsche Zitate und andere Lügenkonstrukte gelten.

Ziel der vorliegenden Tangram-Ausgabe ist es, uns als freie und verantwortungsbewusste Bürgerinnen und Bürger anzusprechen, hängt es doch auch von uns ab, ob wir unsere Stimme erheben und der Manipulation und der Lüge nicht das Feld überlassen.