Autor
Rudy Reichstadt ist Leiter der Seite Conspiracy Watch.
Das Interview führte Samuel Jordan
Rudy Reichstadt hat sich dem Kampf gegen Verschwörungswahn verschrieben und sich diesen zum Beruf gemacht. Er ist Leiter der Seite Conspiracy Watch und Mitglied des Observatoire des radicalités politiques der französischen Stiftung Fondation Jean Jaurès. Ein Gespräch mit einem engagierten Mann, den seine Gegnerinnen und Gegner auch gerne als zwanghaften «Verschwörungsjäger» bezeichnen.
Im Jahr 2007 haben Sie die Website Conspiracy Watch gegründet. Wie kam es dazu?
Rudy Reichstadt: Ich war zu der Zeit bereits sehr besorgt über die zunehmende Verbreitung der Verschwörungstheorien. Dies fiel mir besonders auf, weil ich mich während meines Studiums mit der Leugnung von Völkermorden beschäftigt hatte. Damals hatten Verschwörungsargumentationen rund um den 11. September 2001 gerade Hochkonjunktur, und abenteuerliche Erklärungsversuche zogen ein immer grösseres Publikum an, das nicht mehr nur den üblichen rechtsradikalen Kreisen entsprach. Dank der Macht des Internets fanden Thesen, die früher als verworren oder böswillig galten, immer mehr Anklang. Trotz falscher und fremdenfeindlicher Inhalte konnten sie sich völlig ungestraft ausbreiten. Immer mehr Menschen verfielen dem Glauben, dass geheime Mächte im Verborgenen die Fäden in der Politik, der Wirtschaft oder der Medien ziehen und dazu die öffentliche Meinung manipulieren und finstere Verschwörungen gegen das Allgemeinwohl planen. Diese beunruhigende Feststellung führte zur Gründung von Conspiracy Watch im Jahr 2007. Mein Ziel war es, im Internet die Lücken zu diesem Thema zu schliessen. Seit 2017 ist unsere Website ein Online-Pressedienst, der über die Problematik informiert und Verschwörungstheorien überwacht.
Können Sie uns die Arbeitsweise und das Ziel von Conspiracy Watch erläutern?
Conspiracy Watch will solche Auswüchse bekämpfen, indem es einer breiten Öffentlichkeit Kenntnisse über das Phänomen der Verschwörungstheorien und dessen geschichtlichen Hintergrund vermittelt sowie darüber informiert, wer dahintersteht und davon profitiert. Wir bieten eine kritische, fundierte und dokumentierte Analyse, mit der die Scheinargumente, die den Nährboden für Verschwörungstheorien bilden, entkräftet werden können. Verschwörungswahn ist übrigens keine psychische Störung oder Paranoia, wie man manchmal glauben möchte. Verschwörungswahn ist in allererster Linie ein politisches Phänomen, das oftmals ein Risiko für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft darstellt. Insofern ist unsere Arbeit durch und durch humanistisch und sehr engagiert.
Für welche Werte engagieren Sie sich?
Für die Werte der Demokratie und des Zusammenlebens. Der Verschwörungswahn fördert die Spaltung der Gesellschaft. Er schafft unversöhnliche Glaubenskreise, die den sozialen Zusammenhalt bedrohen und eine stete Gefahr für die öffentliche Politik darstellen. Verschwörungswahn verstärkt stigmatisierende Diskurse über Bevölkerungsgruppen. Er zerstört die Solidarität zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft. Probleme werden durch Sündenböcke ersetzt, womit einer Verschlechterung unseres demokratischen Gefüges Vorschub geleistet wird.
Sie sprechen von Sündenböcken und Stigmatisierungsdiskursen. Geht Verschwörungswahn immer mit Rassismus einher?
Eine Studie, die wir 2021 mit Daten zu den Besucherzahlen französischsprachiger Verschwörungswebsites durchgeführt haben, hat gezeigt, dass die zehn bekanntesten Websites ziemlich klare rechtsextreme Züge aufweisen. Entweder lassen sie vermehrt rechtsradikale politische Entscheidungsträger und Aktivistinnen zu Wort kommen oder sie vermitteln direkt rassistische oder antisemitische Inhalte. Wahlverwandtschaften zwischen Verschwörungswahn und der grundsätzlichen Ablehnung des Anderen kommen oft vor.
Welche Gemeinschaften stehen besonders im Visier der Verschwörungstheorien?
Die jüdische Gemeinschaft ist ein häufiges Ziel, – egal mit welchen Verrenkungen versucht wird, der Anschuldigung des Antisemitismus zu entgehen. Verschwörungswahn ist ein fester Bestandteil des heutigen Antisemitismus. Umgekehrt gilt dies jedoch nicht: Man kann an Verschwörungstheorien glauben, ohne zwingend antisemitisch zu sein. Aber auch dann ist der Antisemitismus nicht weit weg. Denken wir beispielsweise an die Verschwörungsthese des «Grossen Austauschs»: Sie beschreibt einen Plan, wonach die europäische Bevölkerung durch die Immigration aussereuropäischer Bevölkerungsgruppen, meist muslimischer Herkunft, «ersetzt» werden soll. Dabei wird oft davon ausgegangen, dass dieser Plan von entwurzelten, kosmopolitischen «Globalisierungsbefürwortern» orchestriert wird, die genau den klassischen antijüdischen Stereotypen entsprechen. Sogar in den ab Februar 2020 aufkeimenden Verschwörungstheorien rund um die Covid-19-Pandemie hat sich ein klar antisemitischer Diskurs herausgebildet.
Ihnen zufolge ist Verschwörungswahn also meist mit Antisemitismus verbunden?
Gemäss unseren Beobachtungen, ja. Wenn man sich mit Verschwörungswahn befasst, ist der Antisemitismus wirklich der Elefant im Raum: Er füllt ihn zwar nicht komplett aus, aber er ist unausweichlich da. Egal, ob man Verschwörungsliteratur zu den Illuminaten, den Echsenmenschen oder anderen Themen liest, sehr oft stellt man fest, dass sie sich letztendlich immer gegen Menschen jüdischer Herkunft richtet.
Warum werden diese regelmässig zur Zielscheibe?
Weil der Antisemitismus nicht verschwunden ist und weil die jüdische Gemeinschaft ein einfaches Ziel ist. Und weil Jüdinnen und Juden aufgrund ihres historischen Hintergrunds «ideale Kandidaten» für die Schaffung und Verkettung von Verschwörungsideen sind. Seit Jahrhunderten und bis vor Kurzem lebten sie verteilt über die ganze Welt. Heute lebt rund die Hälfte der jüdischen Gemeinschaft in Israel. Die andere Hälfte ist über den Rest der Welt verstreut und gilt im jeweiligen Land als Minderheit. Damit können die Jüdinnen und Juden zugleich als «innere» wie auch als «äussere Bedrohung» wahrgenommen werden, wodurch man ihnen leicht «doppelte Loyalität» vorwerfen und sie zu «inneren Feinden» erklären kann. Ausserdem gründet der heutige Antisemitismus anders als der Rassismus, bei dem eine Gruppe herabgesetzt wird, auch auf Ressentiments gegenüber einer Gemeinschaft, die als dominant und damit bedrohlich empfunden wird.
Sie beobachten die wichtigsten Websites französischer Verschwörungsbewegungen, die pro Monat millionenfach aufgerufen werden. Verfolgen Sie auch schweizerische Plattformen?
Unsere Überwachungsarbeit beschränkt sich hauptsächlich auf die französischen Verschwörungsbewegungen. Wir beobachten jedoch auch, was in der Schweiz geschieht. Hier sind die Seite Les Observateurs.ch von Uli Windisch oder das einflussreiche deutschsprachige Medium Kla.TV zu nennen, das Verschwörungsvideos in vielen verschiedenen Sprachen präsentiert. Die Schweiz zählt auch einige einflussreiche Personen der europäischen Verschwörungskreise, wie Piero San Giorgio, Chloé Frammery oder zuletzt Ema Krusi. Frammery, die Dieudonné nahesteht, die so weit geht, dass sie auf den Netzwerken die Lektüre der Protokolle der Weisen von Zion empfiehlt – einer bekannten antisemitischen Fälschung, die vorgibt, Beweise für eine jüdische Weltverschwörung zu liefern.
Sie werden von Kritikerinnen und Kritikern manchmal als zwanghafter «Verschwörungsjäger» bezeichnet. Was sagen Sie dazu?
Diese Etikette lehne ich ab. Die Vorstellung, die hinter dem Begriff «Jäger» steht, entspricht überhaupt nicht dem Bild, das ich von unserer Arbeit im Observatoire du conspirationnisme habe. Erstens jagen wir nie nach wem auch immer – im Gegensatz zu vielen unserer Gegnerinnen und Gegner. Zweitens sehen wir es als unsere Pflicht, unserer Leserschaft verlässliche und gut überprüfte Informationen sowie differenzierte, sachliche, ja fast schon klinische Analysen zu liefern. Wir lancieren keine vernichtenden Verleumdungskampagnen. Das sind einfach nicht unsere Methoden.
Sie beschreiben die Kritik der Verschwörungstheorien aber als Kampfsport …
Ja, denn die Aggressivität, die uns entgegenschlägt, ist völlig verrückt. Wir und ganz allgemein alle, die es wagen, Verschwörungsanhängerinnen und -anhänger zu kritisieren, sind regelmässig Gehässigkeiten und Beleidigungen ausgesetzt. Wir erhalten Drohbriefe oder gar Morddrohungen. Viele werden auch Opfer von Cyberangriffen und müssen Gerichtsverfahren über sich ergehen lassen, mit denen sie zum Schweigen gebracht werden sollen. Gegen mich laufen momentan vier solche Verfahren.
Welcher Instrumente bedienen sich Verschwörungstheoretikerinnen und -theoretiker?
Damit sich eine Verschwörungstheorie durchsetzt, braucht es ein prägendes Thema oder Ereignis, das sich politisch instrumentalisieren lässt. Dann braucht es Grauzonen oder Elemente, die auf den ersten Blick verwirrend scheinen. Diese findet man zu jedem Thema, man muss sie nur suchen, aber je mehr es sind, desto besser für die Verschwörungstheorie. Ausserdem braucht es einen «Unheilstifter», also eine «böse Macht» wie die CIA, die «Big Pharma», die Bilderberger, die Freimaurer oder den «internationalen Zionismus». Ein weiteres wichtiges Element ist schliesslich der «fruchtbare Nährboden», d. h. ein bereits vorhandener Verschwörungsmythos, der die neue Verschwörungstheorie weiter nährt, ihr ermöglicht, zu wachsen und sich in ein grösseres Narrativ einzufügen, das davon letztlich ebenfalls profitiert. So etwa der Mythos der «Neuen Weltordnung».
Wie geht man am besten mit Anhängerinnen und Anhängern von Verschwörungstheorien um?
Manche reagieren mit Humor. Unser Ansatz ist eine faktenbasierte und logische Gegenargumentation. Jede und jeder kann sich einmal von einer Verschwörungstheorie angesprochen fühlen. Aber wir glauben, dass zum Glück die meisten Menschen empfänglich sind für vernunftbasierte Argumente. Wir bieten sichere Stützen, um der Verschwörungsfalle zu entkommen. Wir ermutigen die Öffentlichkeit, ihr kritisches Denken einzusetzen und Verschwörungsmedien zu misstrauen. Diese geben vor, den gesunden Menschenverstand zu rehabilitieren, und regen dazu an, «selber zu denken». In Wirklichkeit schmeicheln sie aber nur unseren Vorurteilen und fördern einen Konformismus anstelle eines andern.
Warum kann der Verschwörungswahn zu einer Lebenshaltung werden?
Man gewöhnt sich gewissermassen an Verschwörungstheorien. Verschwörungstheorien rufen weitere Verschwörungstheorien auf den Plan. Es ist bekannt, dass Menschen, die an viele Verschwörungstheorien glauben, offener sind für neue. So wird man beispielsweise nicht von heute auf morgen Anhängerin oder Anhänger der Flache-Erde-Theorie. Wer nicht mehr daran glaubt, dass die Erde rund ist, hat vorher schon andere Verschwörungstheorien verinnerlicht. Irgendwann beginnt man sich dann zu sagen: «Wenn die uns so viele Lügen erzählt haben, dann kann auch das eine Lüge sein». Der Verschwörungswahn hat dann eine Art Ventilfunktion oder dient als intellektuelle Krücke. Er kann dazu beitragen, die politische Mobilisierung gänzlich zu unterbinden. Wenn Sie überzeugt sind, dass alles bereits im Voraus von Mächtigen festgelegt wurde, die über uns herrschen, warum sollten Sie dann versuchen, etwas zu unternehmen, um die Situation zu verbessern?
Verschwörungstheoretische Weltanschauungen hat es schon immer gegeben. Warum sollten sie uns heute stärker beunruhigen?
Solche Weltanschauungen sind ein Phänomen, dessen Ursprung vermutlich so weit zurückreicht wie die Menschheit selbst. Die aktuelle Verbreitung der Verschwörungstheorien und deren Erfolg hängen jedoch ganz direkt mit den technischen Möglichkeiten zum Austausch und zur Verbreitung von Ideen zusammen. Sowohl das Internet generell als auch das Breitbandnetz, das Smartphone und die sozialen Medien schaffen eine technologische Konstellation, die für Verschwörungsideologien und den Aufbau von Verschwörungsgemeinschaften eine historische Chance darstellt. Der Verschwörungswahn ist aus seinem Schattendasein hervorgetreten und wir müssen nun lernen, damit zu leben – ohne jedoch aufzuhören, dagegen anzukämpfen.
Ist die Schaffung verschwörerischer Inhalte nicht auch ein Geschäft, ähnlich wie zahlreiche Sektenbewegungen?
Ja, auch wenn die politische Dimension die entscheidende ist, sollte man den wirtschaftlichen Aspekt nicht unterschätzen. Jemand kann gleichzeitig ein Scharlatan und ein Fanatiker sein, das eine schliesst das andere nicht aus. Geld ist im Übrigen in einer politischen Auseinandersetzung immer der Motor. Entsprechend sind Verschwörungsinfluencer häufig besonders darauf bedacht, die von ihnen angebotenen Inhalte zu Geld zu machen.
Kritische Stimmen monieren, wer offizielle Wahrheiten hinterfrage, werde zu schnell als verschwörungsgläubig abgestempelt. Besteht nicht die Gefahr einer Verarmung des Denkens?
Der Verschwörungswahn selbst ist eine Verarmung des Denkens, mit seiner Anspruchslosigkeit und seinem Schwarz-Weiss-Denken. Nur weil der Begriff «verschwörungsgläubig» abschätzig klingt, heisst das nicht, dass er nicht auf tatsächlich Vorhandenes verweist. Der Begriff kann natürlich missbräuchlich verwendet werden, aber wir können nicht alle Wörter aus unserem Wortschatz streichen, die die damit Bezeichneten verärgern könnten. Auch wir werden regelmässig auf diese Weise angegriffen: Man nennt uns «Anti-Verschwörungs-Verschwörer» oder bezeichnet uns als «Anti-Verschwörungsgläubige, die überall Verschwörungsgläubige sehen». Aber ich glaube, das sagt mehr aus über diejenigen, die uns beurteilen, als über unsere Arbeitsrealität.
Sie schreiben, Verschwörungswahn sei keine psychische Störung, sondern ein politischer Diskurs (1). Sind wir angesichts der starken Verbreitung von Verschwörungstheorien zu nachsichtig? Müsste man gesetzgeberisch tätig werden?
Ich stelle in der Tat eine Nachsicht gegenüber diesen immer mächtiger werdenden Verschwörungstheorien fest, die für deren Erfolg mitschuldig ist. Diese Nachsicht ist seit mehreren Jahren in der Politik, an Hochschulen und in den Medien zu beobachten. Es geht aber nicht darum, ein Gesetz gegen bestimmte Glaubensüberzeugungen zu erlassen. Das wäre klar eine Beeinträchtigung des freien Denkens. In einer Demokratie hat jede und jeder das Recht, an ausgefallene, verrückte oder zweifelhafte Dinge zu glauben. Aber niemand hat das Recht, andere ungestraft zu verleumden. Wirklich problematisch wird es, wenn diese Glaubensüberzeugungen mit schweren Anschuldigungen gegen Einzelpersonen oder ganze Gruppen einhergehen und zu Hass, Rassismus oder Antisemitismus anstiften. In Frankreich gibt es bereits Gesetzesbestimmungen zum Umgang mit solchen Inhalten. Werden aber ohne Beweis und aufgrund falscher Informationen Personen beschuldigt, sich an einer kriminellen Verschwörung zu beteiligen, mit allen Risiken, die dies für die öffentliche Ordnung mit sich bringen kann, und niemand klagt dagegen, dann geschieht auch nichts. Also können Verschwörungsinfluencer weiter ungestört ihr Gift verspritzen. Gegen diese Straflosigkeit möchten wir vorgehen. Wir fordern, dass Verbänden wie dem unseren, die gegen Desinformation eintreten, das Recht eingeräumt wird, Strafverfahren einzuleiten, und zwar auf der Grundlage von Bestimmungen, die die Verbreitung von Fake News unter Strafe stellen.
(1) Rudy Reichstadt : L’Opium des imbéciles. Grasset & Fasquelle, 2019.