TANGRAM 34

Der jüdische Humor – ein Nachruf

Essay von Charles Lewinsky

Autor

Charles Lewinsky ist Dramaturg, Drehbuchautor und Schriftsteller. Er wurde im Jahr 2000 für seinen Roman Johannistag mit dem Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet. 2008 erschien sein Roman Melnitz, der die Geschichte einer jüdischen Schweizer Familie zwischen 1871 und 1941 erzählt. Der Roman war ein Grosserfolg, wurde in elf Sprachen übersetzt und in Frankreich als bester ausländischer Roman ausgezeichnet.

Juden haben keinen Humor. Punkt.

Der goldene jüdische Humor, der so gern zitiert wird, ist ein Kompendium traditioneller Witze. Immer derselben. Es ist völlig egal, welche der ständig neu produzierten Anthologien man sich kauft – sie enthalten alle die gleichen Geschichtchen. Ein ganz klein bisschen anders ist nur das klassische Kompendium von Salcia Landmann. Dort stehen zwar auch dieselben Lozelachs drin, aber bei den meisten sind die Pointen so verhatscht, dass man sich wenigstens mit dem Versuch vergnügen kann, die ursprüngliche Geschichte im Kopf zu rekonstruieren.

Dieser rein historische Charakter des jüdischen Humors zeigt sich am deutlichsten darin, wie wir darauf reagieren, wenn jemand anfängt Witze vom Wunderrabbi oder von Hersch Ostropoler zu erzählen. Für gewöhnlich läuft der Austausch komischer Geschichten doch so ab: Wenn einer zu einem Witz ansetzt, den der andere schon kennt, wird er nach zwei Sätzen unterbrochen.«Den kenn ich», sagt der andere. Und wenn man dann nicht sofort einen anderen, unverbrauchten Witz auf Lager hat, ist der humoristische Ruf gründlich ruiniert. Bei jüdischen Witzen ist der Ablauf ein anderer. Der eine setzt zu einem Witz an, der andere kennt ihn schon (jeder kennt jeden jüdischen Witz), aber der Erzähler wird nicht etwa unterbrochen. Nein, sein Zuhörer macht ein verklärtes Gesicht – mindestens so verklärt, als ob man ihm gerade eine Portion gefillten Fisch nach dem Rezept seiner heiss geliebten Grossmutter vorgesetzt hätte –
und sagt: «Ja, der ist gut. Den musst du unbedingt erzählen.» Und dann hört er sich den Witz, den er schon kennt, so ehrfürchtig an, als ob Schofar geblasen würde.

Jüdische Witze zu erzählen ist ein Ritual. Mit jeder Wiederholung legen wir einen Kiesel auf den Grabstein einer untergegangenen Kultur.

Denn natürlich gab es einmal eine Zeit, in der die Juden Humor hatten. Sogar, unglaublicherweise, die deutschsprachigen Juden. Die Ära begann im Oktober 1743 und endete im Januar 1933. Warum ich die Zeitspanne so auf den Monat genau beziffern kann? Nun, im Oktober 1743 kam Moses Mendelssohn nach Berlin. Das Protokoll darüber ist erhalten: «Heute passierten das Rosenthaler Tor sechs Ochsen, sieben Schweine, ein Jude.» Und im Januar 1933 übernahmen die Nazis in Deutschland die Regierung. Anfang und Ende.

Natürlich, wie könnte es anders sein, gehört zu jedem dieser Daten ein Witz. Sie kennen bestimmt beide. (Und wenn nicht: Machen Sie trotzdem beim Lesen ein andächtiges Gesicht. Man könnte sonst meinen, Sie hätten kein Gefühl für Tradition.) 1743: Moses Mendelssohn stösst auf der Strasse in Berlin mit einem preussischen Offizier zusammen. Der schreit ihn an: «Ochse!» Mendelssohn verneigt sich und antwortet: «Mendelssohn.» Und 1933: Ein Jude wird von einem Trupp SA-Leute eingekreist und gefragt: «Wer ist der Untergang Deutschlands?» Er antwortet: «Die Juden und die Radfahrer.» – «Warum die Radfahrer?», will man von ihm wissen und er fragt zurück: «Warum die Juden?»

Beiden Witzen ist gemeinsam, dass sie reine Phantasiegebilde sind. Denn selbstverständlich hat sich weder die eine noch die andere Geschichte tatsächlich ereignet. Und wenn, hat sie bestimmt nicht mit dem verbalen Sieg geendet, den wir so nostalgisch belächeln. Denn es gibt ja nur zwei Möglichkeiten: Entweder hat der Gegner, ob preussischer Offizier oder SA-Mann, die Pointe verstanden. Dann ist die Geschichte für den jüdischen Protagonisten wahrscheinlich so extrem unerfreulich ausgegangen, dass er wohl nicht mehr dazu gekommen wäre, jemandem von seinem Triumph zu berichten. Oder er hat sie nicht verstanden. Dann war die Pointe völlig wirkungslos.

Dieses Pointenschema wird im klassischen jüdischen Witz oft verwendet: Der gesellschaftlich und körperlich unterlegene Jude setzt eine Art geistiges Jiu-Jitsu ein, um den Sieg über einen übermächtigen Gegner zu erringen. Nur: Diese Witze sind nicht typisch jüdisch. Sie sind nur typisch für eine gesellschaftliche Konstellation, in der eine unterdrückte Minderheit sich der unterdrückenden Mehrheit intellektuell überlegen fühlt, diese Überlegenheit aber nur in Geschichten, nicht in der Realität, auszuspielen wagt. Gleiche Situation, gleiche Witze. Es ist kein Zufall, dass man in den kurdischen Geschichten von Nasreddin Hodscha nur die Namen verändern und Türken durch Polen ersetzen müsste, und schon gingen sie als typisch jüdischer Humor durch. Genau wie die irischen Witze über die Engländer. (Nur dass dort mehr Whiskey vorkommt.)

Witze – und ich kenne keine deutlichere Ausdrucksform des allgemeinen Humors – entstehen immer in Umbruchsituationen. Gesellschaftlich völlig stabile Gesellschaften sind weitgehend humorlos. Die «Zeit, in der die Juden Humor hatten», konnte erst beginnen, als die über Jahrhunderte festgemauerten sozialen Strukturen durch die Aufklärung erste Risse bekamen. Es gibt keine jüdischen Pointen aus dem Mittelalter. Nicht einmal die überlieferten Purimspiele sind komisch. Aber jetzt, im 18. Jahrhundert, war es plötzlich nicht mehr selbstverständlich, dass man als Jude automatisch auf den untersten Platz der gesellschaftlichen Stufenleiter abonniert war. Veränderung war möglich. Aus Veränderung entstehen Gegensätze, und aus Gegensätzen entsteht Humor.

Sobald ein wohlhabender oder sogar reicher Jude keine absolute Ausnahmeerscheinung mehr war, mussten sich die anderen, die diesen sozialen Aufstieg nicht geschafft hatten, mit dem neuen Phänomen auseinandersetzen. Und so entstanden all die «Kommt ein Schnorrer zu Rothschild»-Witze. (Nein, ich werde hier keinen zitieren. Sie kennen eh schon alle. Aber Sie dürfen trotzdem verständnisvoll schmunzeln.)

Ein weiterer Kontrast innerhalb der jüdischen Gesellschaft entstand – und damit sind wir schon wieder bei Moses Mendelssohn – aus dem Gegensatz zwischen Haskala und Chassidismus. Sollte man sich vom Verstand leiten lassen (in «Haskala» steckt die Sprachwurzel von Sechel) oder war das Heil in intensivster Frömmigkeit zu suchen? Aus diesem Widerspruch entstanden all die Wunderrabbi-Witze, die heute noch die Anthologien füllen. Nur haben sie so, wie sie heute rezipiert werden, ihren ursprünglichen Charakter verloren. Als sie entstanden, waren sie keine niedlichen Schmunzelanekdoten sondern Kampfpointen. Man zog mit der Waffe der Lächerlichkeit gegeneinander in den Krieg. (In der gleichen Art, wie sich um 1900 die orthodoxen und die liberalen Juden mit Witzen bekämpften.)

Nein, auch die brillantesten Pointen – und einige der klassischen jüdischen Geschichten sind mehr als nur brillant – beweisen nicht, dass Juden ein besonders humorbegabter Volksstamm sind. Sondern nur, dass fast zwei Jahrhunderte lang eine gesellschaftliche Konstellation existierte, in der es für sie Sinn machte, witzig zu sein. Tempora mutantur – und die Fähigkeit zum Humor mutatur in illis.

Es macht also keinen Sinn, Vorträge zum Thema «Deutscher Humor, französischer Es-prit, jüdischer Witz» zu halten. (Ein Thema, das am 10. Juli 1944 im Ghetto von Theresienstadt auf dem Programm stand.) Es gibt keinen volksspezifischen Humor. Es gibt nur humorspezifische Situationen.

Wer noch nicht überzeugt ist und nach einem zusätzlichen Beleg sucht, der muss sich nur ansehen, wie heute Auseinandersetzungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft ausgetragen werden. Mit Witzen, brillanten Formulierungen, treffenden Sarkasmen? Schön wär’s. Nein, man argumentiert mit einschläfernder Paragraphengläubigkeit und haut sich statt Pointen Geschäftsordnungsanträge um die Ohren. Wir haben es tatsächlich geschafft, so bierernst und langweilig wie alle andern zu werden. Vielleicht ist das ja die wahre Emanzipation.

Der vorliegende Artikel wurde am 31. August 2012 zum ersten Mal in der Zeitschrift Tachles veröffentlicht.
www.tachles.ch