TANGRAM 45

Die Verschwörungstheorie: eine Verwandlungskünstlerin

Autorin

Dina Wyler ist Geschäftsleiterin der GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus. d.wyler@gra.ch

In Verschwörungserzählungen tauchen immer wieder ähnliche Narrative von der angeblichen Existenz einer heimlichen Elite auf, welche die Welt zu ihren Gunsten manipuliert. Dass diese Deutungen oftmals auf uralte antisemitische Vorurteile zurückgehen, ist nur Wenigen bekannt.

Verschwörungstheorien gibt es wie Sand am Meer: Von der inszenierten Mondlandung über giftige Chemtrails bis sich als Menschen tarnende reptiloide Lebewesen ist alles dabei. Solche Mythen faszinieren, weil sie uns einen vermeintlichen Einblick in eine uns sonst verschlossene Welt gewähren. Hinzu kommt der Reiz, etwas erkannt zu haben, was viele Menschen anscheinend nicht sehen wollen oder können. Die Erkennung der angeblichen Wahrheit trägt zur Aufwertung des eigenen Selbstwertgefühls bei und schafft ein Gefühl der Gemeinschaft zwischen den bereits «Erleuchteten».

Wer sich jedoch etwas intensiver mit Verschwörungserzählungen auseinandersetzt, merkt schnell, dass trotz deren Vielzahl und Diversität bestimmte Narrative immer wieder auftauchen. Den Kern vieler Erzählungen bildet die angebliche Existenz einer heimlichen Elite, die im Verborgenen agiert und das Weltgeschehen zu ihren Gunsten lenkt, während sie der Restbevölkerung gezielt schadet. Diese Grundkomponente vieler Verschwörungsmythen ist kein Zufall. Denn Verschwörungstheorien entstehen selten im luftleeren Raum. Meistens greifen sie bereits bestehende Mythen auf und «verpacken» diese je nach Kontext neu. So geistern immer wieder ähnlich gestrickte Erzählungen durch die Gesellschaft, die im Grundtenor ähnliche Töne anschlägt.

Dass diesem Narrativ uralte antisemitische Vorurteile zu Grunde liegen, ist jedoch nur wenigen bekannt. Denn die Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung, entwickelte sich bereits im Mittelalter, also lange vor der Etablierung der klassischen Verschwörungserzählungen der Neuzeit. Basierend auf dem religiös begründeten Antisemitismus, welcher die Juden als Verräter Jesus diskreditierte, wuchs das Misstrauen gegenüber den jüdischen Mitmenschen. Dieses negative Bild der Juden lieferte die Grundlage für viele Mythen wie etwa die Ritualmordlegende. Die mittelalterliche Verschwörungsfantasie besagt, die Juden würden christliche Kinder töten, um aus deren Blut das traditionelle Pessach-Brot herzustellen. Dass die Verbreitung solcher Mythen für Jüdinnen und Juden sogar tödlich enden können, zeigt das Beispiel der Pest, welche im 14. Jahrhundert in ganz Europa wütete. Damals wurden die Juden als Brunnenvergifter «identifiziert». Die Folge war die Ermordung und Vertreibungen jüdischer Bürgerinnen und Bürger – auch in der Schweiz.

Moderne Verschwörungskonstrukte

Mit dem Aufkommen der modernen Wissenschaften nahmen die antisemitischen Verschwörungsfantasien nicht ab, sondern passten sich den neuen sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten an. Nun war das tiefe Misstrauen gegenüber den Juden nicht mehr primär religiös begründet, sondern auf ihren (vermeintlichen) sozialen Status zurückzuführen. Da das Zinswesen lange Zeit als unchristlich galt, arbeiteten viele Juden im Geldhandel. Mit dieser Stellung in der Gesellschaft wurden sie zwar nicht mehr dem Verrat von Jesus bezichtigt. Stattdessen wurde das Konstrukt der modernen jüdischen Weltverschwörung erschaffen - basierend auf dem Juden, der die globale Finanzwirtschaft zu seinem eigenen Nutzen beeinflusst. Das wohl bekannteste Beispiel dieses Mythos liefert die fiktive Schrift der «Protokolle der Weisen von Zion». Erstmals 1903 in Russland publiziert, wurde den Juden unterstellt, sie wollten die Weltherrschaft übernehmen. Die gefälschte Publikation verbreitete sich rasant in der ganzen Welt und diente der Hetzpropaganda der Nazis als Grundlage für den geplanten Genozid an den Juden.
Die antisemitischen Vorurteile früherer Verschwörungsmythen finden sich auch im aktuellen Kontext wieder. QAnon, die wohl grösste Verschwörungsbewegung der letzten Jahre, glaubt an eine kinderbluttrinkende Elite, welche anhand satanischer Rituale versuche, das eigene Leben zu verlängern. Dieser wirre Irrglauben leitet sich direkt von der Ritualmordlegende ab. Mit der Pandemie hat auch die klassische antijüdische Verschwörungstheorie des angeblichen Weltjudentums wieder Aufwind erhalten. Vor kurzem druckte die rechtsextreme Partei National Orientierter Schweizer PNOS in ihrem Partei-Magazin «Harus» Auszüge aus den «Protokollen der Weisen von Zion». Gleichzeitig werden in den neu etablierten Telegramchats der sogenannten Corona-Rebellen immer wieder Inhalte geteilt, um die Allmacht der Juden zu beweisen.

Doch wer meint, dass der Mythos der jüdischen Weltverschwörung nur ein Randphänomen von radikalen Impfgegnern und rechtsextremen Parteien ist, der irrt. Ganz egal, ob es um die Entwicklung der Immobilienbranche, ein neues Handelsabkommen oder die Präsidentschaftswahlen in den USA geht: In den Kommentarspalten findet sich früher oder später ein Leser oder eine Leserin, die oder der hinter dem im Artikel erklärten Sachverhalt jüdische Machenschaften vermuten.

All diese Beispiele zeigen: Das Grundmotiv des Antisemitismus, nämlich die Darstellung der Juden als übermächtige, geldgierige, illoyale Menschen, liefert den perfekten Nährboden für jede «gute» Verschwörungstheorie. Es erstaunt daher kaum, dass Verschwörungserzählungen und Antisemitismus oft Hand in Hand gehen.

Die Codierung der Sprache

Trotz aller Parallelen zwischen antisemitischen Vorurteilen und klassischen Verschwörungsmythen, ist in modernen Verschwörungserzählungen nur selten explizit von «den Juden» die Rede. Dafür gibt es gute Gründe: Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Antisemitismus tabuisiert. Zumindest in der Öffentlichkeit. Doch mit der Tabuisierung der Sprache ist das Gedankengut in den Köpfen der Menschen nicht verschwunden. Statt explizit antisemitisch zu sein, etablierten sich mit der Zeit bestimmte Codewörter. Statt von «Juden» sprach man nun von den «Kapitalisten», «Kosmopoliten», «Finanziers» oder «Zionisten», die die Welt heimlich beherrschten.

Dieselbe Entwicklung zeigt sich auch bei modernen Verschwörungserzählungen. Jüdinnen und Juden explizit als Treiber der Pandemie zu benennen, kommt nur in sehr extremen Kreisen vor. Stattdessen spricht man von bestimmten Gruppen oder Individuen wie beispielsweise den Rothschilds, George Soros oder dem Mossad.
Viele Menschen sind sich der antisemitischen Untertöne gar nicht bewusst. Wie diese unbewussten antisemitischen Bilder in den Mainstream getragen werden, zeigt ein Beispiel aus dem Jahr 2016, als die Jungsozialisten für ihre Initiative gegen Spekulationen mit Nahrungsmitteln eine Karikatur auf Facebook posteten. Der gierige Finanzier auf dem Bild glich von seiner Kleidung und seinen Gesichtszügen stark der typisch antisemitischen Karikaturen eines gierigen, machthungrigen Juden, welcher die Schweizer Politik (in diesem Zusammenhang Bundesrat Schneider-Amman) zu beeinflussen weiss.

Genau dort lauert die Gefahr. Denn durch die Tabuisierung des expliziten Antisemitismus schwindet einerseits das Verständnis für das Phänomen. Gleichzeitig können sich diese subtil antisemitischen Bilder in weiten Teilen der Bevölkerung einnisten, ohne dass diese sich dessen bewusst sind. Auch wenn nur ein Bruchteil der Menschen aktiv antisemitische Gedanken hegt, braucht es durch die konstante Berieselung antisemitischer Sprache und Bilder später nicht viel, damit sich aus dieser Sparflamme in Windeseile wieder ein Lauffeuer entwickelt.

GRA-Glossar zu Verschwörungsjargon

Um die antisemitisch konnotierten Wörter, die im klassischen Verschwörungsjargon vorkommen, als solche besser erkennbar zu machen, lancierte die GRA ein Online-Glossar, das die Hintergründe dieser Begriffe erklärt. Nachfolgend vier Beispiele in Kurzform:

«Bevölkerungsaustausch»: Der Begriff steht symbolisch für die aus rechtsextremen Kreisen stammende Verschwörungserzählung, wonach eine geheime Elite – angeführt von Juden - die weisse Bevölkerung im Westen gegen Einwanderer austauschen wolle.

«Kosmopolit»: Der Begriff kam zur Zeit der Aufklärung als positiv besetztes Lehnwort in die deutsche Sprache. Im Gegensatz dazu galt das Kosmopolitentum in der Sowjetunion unter Stalin als Beschuldigung gegen Juden, denen das Regime eine «antisozialistische Verschwörung» vorwarf.

«Rothschild»: Der Name geht zurück auf eine deutsch-jüdische Familie, die im 19. Jahrhundert zu den einflussreichsten und bedeutendsten Finanziers europäischer Staaten zählte. Heute steht der Name oft als Code für eine vermeintliche jüdische Allmacht über das weltweite Finanzsystem.

«Soros»: Der Name des Investors und Philanthrops George Soros wird aufgrund seiner jüdischen Wurzeln, seines Erfolgs im Finanzsektor und seines weltweiten Engagements als Codewort für zahlreiche Verschwörungsideologien verwendet, denen eine antisemitische Tradierung zugrunde liegt.

Link zum Glossar:
www.gra.ch> bildung> glossar