Autor
Francesco Filippi ist Historiker mit Schwerpunkt Mentalitätsgeschichte, Dozent und Mitglied des Vereins für gesellschaftliche Förderung Deina, der zusammen mit Schulen, Bildungsstätten für Geschichte und den italienischen Universitäten Erinnerungsreisen und Lehrgänge organisiert.
Das Interview führte Adriano Bazzocco
Im Netz kursieren alte Märchen und neue Lügen, die belegen sollen, welche Wohltaten wir Mussolini und seiner Diktatur zu verdanken hätten. Der italienische Historiker Francesco Filippi hat sich mit diesen Falschinformationen befasst und widerlegt sie eine nach der anderen anhand inzwischen wohlbekannten Wissens aus der Geschichtsschreibung. Daraus entstanden ist eine Art Selbstverteidigungshandbuch gegen Geschichtsklitterung, das den provokanten Titel trägt «Mussolini ha fatto anche buone cose. Le idiozie che continuano a circolare sul fascismo» (Mussolini hat doch auch Gutes getan. Nonsens, der immer noch über den Faschismus im Umlauf ist).
Sie haben für Ihr Buch einen ungewöhnlichen Ansatz gewählt. Es ist eine Art Katalog mit Mythen, die Mussolini und die zwei Jahrzehnte des Faschismus in Italien glorifizieren und die Sie demontieren. Was hat Sie dazu veranlasst?
Francesco Filippi: Die Italiener haben mit der Zeit des Faschismus ein echtes Problem. Auf meinen Bildungsreisen mit Jugendlichen quer durch Europa habe ich sie gefragt, wie sie Zugang zur Geschichte finden. Mir ist aufgefallen, dass der Faschismus und totalitäre Regime ganz allgemein in den sozialen Netzwerken sehr präsent sind, und zwar als sogenannte Memes, eine eigene Art von Medieninhalten. Es gibt auf Instagram zahlreiche Seiten, die sich mit Geschichte befassen, indem sie die Aufmerksamkeit mit Bildern oder kurzen Filmen kitzeln und Gefühle mit Stereotypen wecken, die oberflächlich und mitunter schonungslos ironisch sind. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wird auf den sozialen Netzwerken generell verharmlost. In Italien kursiert auf Social Media – auf Instagram, Facebook und auch auf TikTok – unglaublich viel Unsinn über den Faschismus. Mein erstes Buch handelt von diesen Falschmeldungen.
Dabei hat sich die Geschichtsschreibung in Italien ja intensiv mit dieser Zeit befasst.
Die akademische Geschichtsschreibung zum Thema Faschismus in Italien ist tatsächlich ausserordentlich breit, sie ist vielseitig, interessant und dialogisch. Deshalb habe ich mich auch gefragt, warum es diesen Graben gibt zwischen einer gründlichen, aufmerksamen, kompetenten Wissenschaft und einer Gesellschaft, die diesen akademischen Reichtum nicht wahrnimmt. Stattdessen bedient man sich aus dem immer gleichen Topf mit den drei, vier abgedroschenen Stereotypen, die im Übrigen von der Geschichtsschreibung längst widerlegt sind. So ist das Buch entstanden. Aufgebaut ist es wie ein Handbuch. Es versteht sich als eine Art Werkzeugkasten voller Instrumente, mit denen man den Fake News über Mussolini und sein Regime zu Leibe rücken kann.
Ist diese Kluft zwischen Wissenschaft und Gesellschaft typisch italienisch?
Tatsächlich gibt es in allen europäischen Ländern eine Art, die Geschichte darzustellen, die dazu tendiert, unangenehme Elemente mehr oder weniger sauber zu mythisieren und in der allgemeinen Wahrnehmung eine geschichtliche Auffassung zu implementieren, die recht weit weg vom wissenschaftlichen Zugang ist.
Hat Italien seine Lehren aus der Geschichte gezogen?
Das ist ein grosses Problem – mit zwei Knackpunkten. Zum einen wird seit Sommer 1943 in Italien ein Bürgerkrieg geführt, mit der Folge, dass nie eine vertiefte Auseinandersetzung mit der faschistischen Ära stattgefunden hat. Zudem hatten die Alliierten nach dem Krieg nicht hartnäckig auf einer juristischen Aufarbeitung vergleichbar mit den Nürnberger Prozessen bestanden. Ihre Priorität war es, Italien solide in den Westmächten zu verankern. Ein Grossteil des faschistischen Establishments blieb im Sattel. Auf der anderen Seite tun sich die Italiener schwer mit der Frage, wer Faschist war. Wer kann nach zwanzig Jahren Faschismus schon von sich behaupten, «sauber» zu sein? Der zweite Knackpunkt: Da die geschichtliche Einordnung ausblieb und somit das Image des Faschismus nie grundsätzlich demontiert wurde, hielt sich die faschistische Propaganda unterschwellig. Sie kursiert in der italienischen Volksmeinung noch heute. Und jedes Mal, wenn in Italien das republikanisch-demokratische Modell in eine Krise gerät, findet sich einer, der zurückblickt und ausruft: «Herrgott, es gab doch mal eine Zeit, da lief es in Italien rund!»
In Italien hört man häufig den Ruf nach dem starken Mann, dem Mann der Vorsehung, der endlich für Ordnung sorgt, der das Volk versteht, es von seinen Ängsten befreit und für Sicherheit sorgt.
Der starke Mann steht sinnbildlich für die Bedürfnisse, die eine Gesellschaft nicht einbezieht. Wenn man vor komplexen Herausforderungen steht, gibt es zwei Arten darauf zu reagieren: Entweder man geht die Komplexität an, was einen starken, erwachsenen, kohärenten Charakter bedingt, oder man wählt den kindlichen Lösungsweg und ruft angesichts der Grösse des Problems nach jemandem, der etwas davon versteht. Der Ruf nach dem starken Mann ist eines der schwerwiegendsten Symptome für die Unzulänglichkeit der politischen Klasse als Ganzes.
Ist das Bild Mussolinis in der heutigen politischen Debatte präsent?
Ja. Mussolini ist in der aktuellen politischen Debatte präsent, und zwar mit einem Gewicht, das nicht nur zunimmt, sondern immer peinlicher wird. Er ist in den eher nostalgischen Flügeln rechts aussen präsent, bei Leuten, die sich lächerlich machen, indem sie in schwarzen Hemden umherziehen und mit dem Saluto romano grüssen. Und auch bei der ideologisch extremen Rechten.
Das sind doch aber Minderheitsgruppierungen, von denen keine Gefahr ausgeht.
Gefährlich ist die Masse an unbewussten Faschisten. Diejenigen, die sich als Antifaschisten ausgeben, in Tat und Wahrheit aber einer Sehnsucht nach der faschistischen Vergangenheit nachleben. Das Beispiel, das ich häufig erwähne und das ich erschütternd finde, ist der Forza-Italia-Abgeordnete Antonio Tajani. In einem Interview 2019, als er Präsident des Europäischen Parlaments war, sagte er, dass Mussolini, abgesehen vom Krieg, von den Rassengesetzen und der Ermordung des Sozialisten Giacomo Matteotti, Gutes geleistet habe. Diese Aussage machte der höchste direkt gewählte Repräsentant der europäischen Politik. Die Äusserung verursachte natürlich einen Aufschrei. Als er am nächsten Tag darauf angesprochen wurde, beteuerte Tajani, ein «überzeugter Antifaschist» zu sein, was niemand bestreiten könne. Das Problem dabei: Er glaubt das tatsächlich. Er glaubt, sagen zu können, dass die Ermordung Matteottis – eines der grausamsten der vielen Verbrechen während des Faschismus – ein historischer Zwischenfall war, und er glaubt, gleichzeitig behaupten zu können, er sei Antifaschist. So ist Mussolini ist in den politischen Diskussionen in Italien leider nur allzu präsent.
Mir scheint, dass Sie in Ihrem Buch zwei Arten von Unwahrheiten unterscheiden: zum einen jene, die in unserer Zeit fabriziert werden, also Fake News im engeren Sinn, zum anderen Narrative, die aus den Jahren des Faschismus vom Regime selbst stammen, die überliefert wurden und heute noch kursieren, auch wenn sie längst von der Geschichtsschreibung widerlegt sind.
Das stimmt. Es gibt eine Reihe bewusst falscher Konstrukte, die vom Regime ausgingen. Das klassische Beispiel ist die Urbarmachung der Pontinischen Sümpfe in der Region Latium. Dem Regime ist es gelungen, aus einem kompletten Scheitern ein starkes Narrativ über ein Projekt zu konstruieren, das extrem teuer war und das als abgeschlossen erklärt wurde, als gerade mal zehn Prozent des geplanten Umfangs fertiggestellt waren. Angesichts eines solch eklatanten Scheiterns hätte sich jede europäische Regierung massiver Kritik stellen müssen. Doch da der Faschismus über ein Informationsmonopol und breiter Mitwisserschaft im Staat und im Produktions- und Industrieapparat verfügte, wurde das Pleiteprojekt als grossartige Leistung gefeiert und als Erfolg für den Faschismus verbucht. Und auch heute noch erlebe ich immer wieder 17-, 18-Jährige, die über rudimentäres Wissen über die faschistische Vergangenheit verfügen, die mir sagen: «Mag sein, aber Mussolini hat doch die Sümpfe trockengelegt». Zu den Fake News der zweiten Kategorie, den frei erfundenen Falschmeldungen, fällt mir ein Mann ein, der bei einer Diskussion einwarf: «Ihr solltet euch schämen und schweigen. Schliesslich verdankt Italien Mussolini die Universitäten»: Dumm nur, dass die Universität von Bologna, die erste weltweit, 1088 gegründet wurde!
Ein anderes Narrativ, mit dem Sie sich in Ihrem Buch auseinandersetzen, besagt, dass Mussolini und seine Diktatur nicht rassistisch gewesen seien. Die Rassengesetze von 1938 seien auf Druck von Hitler erlassen und in Italien nur widerwillig und in eher milder Form umgesetzt worden. Stimmt das?
Das ist völliger Unsinn, der dazu dient, das Gewissen von Millionen von Italienerinnen und Italienern reinzuwaschen. Natürlich darf man nicht vergessen, dass der Rassismus Anfang des 20. Jahrhunderts in allen europäischen Ländern weit verbreitet waren. Alle weissen Europäer waren rassistisch. Das Problem besteht darin, dass Mussolini den «biologischen» Rassismus von Anfang an zu einem seiner politischen Kernpunkte gemacht hat. Er war ein biologischer Rassist, er glaubte an die Rassentheorie. Er liess sich von seinen Pseudowissenschaftlern sogar ein Konzept der mediterranen Rasse zusammenschustern. Und er setzte die Rassentheorie um, zum Beispiel in den Kolonien. 1937 erliess er in Äthiopien – das zwei Jahre zuvor von der italienischen Armee eingenommen worden war – ein Rassengesetz, aus heutiger Sicht ein Apartheid-Gesetz, das, um eine «Vermischung» zu vermeiden, etwa Nachkommen aus Mischbeziehungen die italienische Staatsbürgerschaft verwehrte. Als 1938 die Rassengesetze gegen die Juden folgten, wurde als Rechtfertigungsgrund angeführt, dass der Schritt im Inland nun ebenso richtig sei wie in den Kolonien, um die Rasse per Gesetz zu schützen. Die Rassengesetze von 1938 sind zwar keine Kopie der Nürnberger Rassengesetze, aber sie belegen den italienischen Weg zum Rassismus. Es genügte, in den Rassenbestimmungen für die Kolonien die Begriffe «einheimisch» und «nicht weiss» durch «jüdisch» oder «hebräisch» zu ersetzen. Von Hitler ging keinerlei Druck aus.
Wie wurde Ihr Buch in Italien aufgenommen?
Es war der Bestseller der Saison und es verkauft sich nach wie vor sehr gut. Hinweise für die Rezeption sind die Rückmeldungen auf der Verkaufsplattform: Entweder helle Begeisterung und fünf Sternchen mit Kommentaren wie «endlich liegt ein solches Werk vor» oder ein Sternchen (denn null Sternchen geht nicht) und «Statt Geschichte macht der Herr Politik». Das Buch stösst auch im Ausland auf Interesse: Er wurde bereits ins Französische übersetzt und Versionen auf Deutsch und Englisch folgen demnächst.
Zum Abschluss eine allgemeinere Frage: Wie kann ich mich in der Flut geschichtlicher Fake News im Internet orientieren?
Eine komplexe Frage. Falschinformationen zur Geschichte sind heute wohl das breiteste und schwierigste Problemfeld rund um die Information. Sie gehören zu den Fake News, mit denen wir täglich konfrontiert werden. Das Internet ist äusserst praktisch, aber auch sehr gefährlich, für uns wie für die anderen. Wer es nutzt, muss die Gefahren kennen. Es ist wichtig, dieses Bewusstsein zu stärken und das Thema in der Schule anzugehen.