TANGRAM 39

Holocaustgedenktag in Genf

Autorin

Chantal Andenmatten, Leiterin der Fachstelle schulische Praxis und Lehrerbildung Genf, 2000-2016.
chantal.andenmatten@etat.ge.ch

2004 erklärte die Schweizerische Konferenz der Kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) den 27. Januar zum Gedenktag an den Holocaust und die Verhütung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Kanton Genf nahm dies zum Anlass, die Sensibilisierung für den Holocaust, die anderen Völkermorde und die Ideologien, die zu solchen Verbrechen geführt haben, auf breiter Ebene zu verstärken.

Der Tag des Gedenkens an den Holocaust wurde vom Europarat angeregt. Verschiedene Länder wählten das symbolische Datum des 27. Januar als Tag der Befreiung von Auschwitz. Im Kanton Genf wird der Aktionstag vom Departement für Bildung, Kultur und Sport (Département de l’instruction publique, de la culture et du sport, DIP) unterstützt. Seit 2004 wird jedes Jahr ein Schwerpunktthema mit Schulaktivitäten lanciert. Damit soll den Schülerinnen, Schülern und Lehrpersonen bewusst gemacht werden, dass Erinnerungsarbeit auch für die jungen Generationen wichtig ist und dass auch sie achtsam sein müssen bei Ereignissen, die zu Hass gegenüber anderen führen können.

Das Projekt des DIP wird von ausgewiesenen Historikerinnen und Historikern geprüft. Es betrachtet das Zusammenspiel von Geschichte und Gedenken und die identitätsstiftenden Aspekte des Gedenkens aus didaktischer Sicht. Der Geschichtsunterricht an den Schulen, der lange Zeit ein selbstbezogenes, enges Geschichtsbild vermittelt hat, muss die Menschheit als Schicksalsgemeinschaft verstehen, in der alle ihren Platz haben. Auch die Schweizer Geschichte zur Zeit des Nationalsozialismus muss vermittelt und die eigene Vergangenheit hinterfragt werden.

Die Initiative des DIP wurde in den Schulen sehr gut aufgenommen. Viele Impulse stammten übrigens direkt von den Schulen und von sehr engagierten Gruppen von Geschichtslehrerinnen und -lehrern.

Künstlerische Auseinandersetzung, Kulturerbe der Menschheit

Damit der Anlass fest verankert und jedes Jahr durchgeführt werden kann, hat sich das DIP auf drei Kriterien ausgerichtet: ein symbolträchtiger Ort, ein mobilisierendes Thema, ein interessanter Anlass.

So ist das Théâtre Saint-Gervais mitten in Genf ein fester Standort für den Tag des Gedenkens an den Holocaust und die Verhütung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit geworden. Tagsüber finden jeweils Anlässe für Schulen und abends für das breite Publikum statt. Mit der Wahl eines Theaters als Veranstaltungsort wurde der kulturelle und künstlerische Aspekt der Aktion hervorgehoben.

Jedes Jahr wird ein Schwerpunktthema mit didaktischem Begleitmaterial vorbereitet. Darin werden Fragen aufgeworfen und Antworten aus der Geschichtsforschung und der Soziologie vorgestellt. Die Themenwahl, zum Beispiel «Wie wird an den Schulen künftig das Gedenken vermittelt?», «Handeln angesichts des Unfassbaren», «Darstellung der Shoah im Film» oder «Grenzüberschreitungen» zeigt die unterschiedlichen Reflexionsebenen.

Ein Kulturanlass schafft die Verbindung zwischen dem schulischen Teil am Tag und dem Publikumsteil am Abend. Auch dabei geht es um eine Art des Gedenkens, zum Beispiel in Form einer Filmvorführung, die dazu anregt, die künstlerische Darstellung, ihre Stärken und ihre Grenzen zu hinterfragen. Die Diskussion mit verschiedenen Persönlichkeiten trägt bei zu einem besseren Verständnis, worin die Verantwortung der Historiker und Bürger liegt und wie die Kriterien einzuordnen sind, um Völkermorde zu «vergleichen», ohne zu relativieren, sondern die Umstände besser zu erkennen, die zu ihnen geführt haben.

Eine didaktische Datenbank

Das didaktische Begleitmaterial umfasst Bild- und Tondokumente (DVD, Lehrmaterial). Es wurde für den Gedenktag konzipiert und allen Mediotheken der Genfer Sekundarschulen zur Verfügung gestellt. Es ist eine umfassende Bibliographie mit Ausschnitten literarischer Werke, Biografien und historischen Schriften, die dazu beitragen, den Holocaust und andere Völkermorde des 20. Jahrhunderts einzuordnen, zu unterscheiden und zu verstehen. 2013 wurde den Lehrerinnen und Lehrern eine Internetseite vorgestellt, die sich mit dem Völkermord an den Roma während der Zeit des Nationalsozialismus befasst und die auch einen Teil zur Schweiz enthält.

Zeitzeugen im Unterricht

Die Begegnung mit Zeugen der Shoah war lange Zeit ein wichtiges Angebot an die Schulen. Jedes Jahr gingen Überlebende in Schulklassen, um über ihr Schicksal zu berichten. Für viele von ihnen bildete das Reden, Erzählen und Schreiben eine für sie schwierige Entscheidung und die Aufarbeitung eines langen Prozesses. Für die Schülerinnen und Schüler, die solche Begegnungen erlebt haben, waren es ausserordentlich emotionale, nie zu vergessende Momente.

Dialog der Generationen

Die Erinnerungsarbeit wird auf Anregung der Schulleitungen und hauptsächlich dank der Arbeit der Geschichtslehrerinnen und -lehrer das ganze Jahr über gepflegt.

Die Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II verfassen am Ende ihrer Ausbildung eine persönliche Abschlussarbeit zu einem frei gewählten Thema. Seit 2004 hat das DIP festgestellt, dass der Erinnerungstransfer eine neue Dimension angenommen hat, denn im Rahmen dieser Arbeit thematisierten verschiedene Schülerinnen und Schüler die Begegnung mit den Zeitzeugen und sprachen ihrerseits über den Holocaust. Mit ihren schriftlichen Arbeiten, Filmen und Videos bilden sie nun die zweite Generation, die sich nach derjenigen der direkten Zeugen mit dem Gedenken beschäftigt und den Dialog der Generationen pflegt.

Gegen die Verblendung ankämpfen – eine Daueraufgabe

Raoul Peck, der Regisseur des Films Sometimes in April von 2011, sagte einmal, «etwas bleibt all diesen Erfahrungen gemeinsam: die Verblendung. Die Verblendung der Schuldigen, die denken, sie müssten Menschen töten, um ihre Ziele zu erreichen. Die Verblendung der Opfer, die denken, dass ein Monster in seinem Wahn nie so weit gehen werde. Die Verblendung der nahen und fernen Zeugen und der Mächtigen, die den Lauf der Dinge ändern könnten, aber lieber nichts sehen, nichts hören, nichts wissen wollen».

Genf engagiert sich weiterhin, um zur Ausrottung der Verblendung beizutragen. 2018 findet der 15. Holocaust-Gedenktag statt.