TANGRAM 39

Das harte Los der Judenretter. Schweizern, die sich im Zweiten Weltkrieg für Flüchtlinge einsetzten, blieb die Anerkennung lange versagt

Jörg Krummenacher ist Journalist und Inlandredaktor der Neuen Zürcher Zeitung. Er ist Autor des Buches «Flüchtiges Glück» (Limmat-Verlag) über die Flüchtlinge im Grenzkanton St. Gallen zur Zeit des Nationalsozialismus.
j.krummenacher@nzz.ch

Ausgegrenzt, verurteilt: Viele couragierte Schweizer, die zur Zeit des Nationalsozialismus Verfolgte vor dem Tod retteten, mussten dafür büssen. Um das Einstehen von Menschen wie Carl Lutz oder Ernst Prodolliet wider den Antisemitismus anzuerkennen, brauchte die Schweiz Jahrzehnte.

Der Holocaust hat sich bleiern in die Geschichte der Menschheit eingegraben. Die Schweiz hat er gestreift. Hier konnten sich einige zehntausend Flüchtlinge in Sicherheit bringen, gleichzeitig wurde eine fünfstellige Zahl von Schutzsuchenden abgewiesen und dem Tod überlassen. Darüber hat eine Unabhängige Expertenkommission (UEK) gebrütet, sind zahlreiche weitere Nachforschungen angestellt, Bücher geschrieben, Filme produziert, Kontroversen ausgetragen worden. Neben der offiziellen Politik, welche die Aufnahme vorab jüdischer Verfolgter in heiklen Zeiten stoppte, zeigten Hunderte von Fluchthelfern während der Zeit des Nationalsozialismus menschliches Engagement und Zivilcourage. Viele wurden verurteilt, weil sie gegen Weisungen des Bundes verstossen hatten.

Erst 2003 setzte die Schweiz ein Rehabilitierungsgesetz in Kraft, das Strafurteile gegen Flüchtlingshelfer aufhob. 137 Personen wurden rehabilitiert. Allerdings konnten nur die wenigsten den symbolischen Akt noch miterleben. Immerhin war die Wiedergutmachung für ihre Nachkommen ein Akt der Anerkennung. Die Namen der meisten Fluchthelfer blieben in der Öffentlichkeit unbekannt. Die Verdienste Einzelner wie etwa des St. Galler Polizeihauptmanns Paul Grüninger wurden hingegen einer breiteren Öffentlichkeit geläufig. Halbwegs bekannt sind auch die Rettungstaten der beiden Diplomaten Carl Lutz und Ernst Prodolliet.

Carl Lutz, der unerschrockene Diplomat

Der aus dem Ausserrhodischen Walzenhausen stammende Carl Lutz nimmt eine herausragende Rolle ein. Als Schweizer Vizekonsul in Budapest leitete er zusammen mit dem schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg, der später von den Russen verschleppt wurde, die grösste Rettungsaktion von Juden während des Zweiten Weltkriegs. Von 1942 bis 1945 stand Lutz der Schutzmachtabteilung der Schweizer Gesandtschaft vor. Hautnah erlebte er den Antisemitismus mit, mehrmals begab er sich selbst in Todesgefahr. Nach der widerstandslosen Besetzung Ungarns durch die Nationalsozialisten im März 1944 wurden Hunderttausende ungarische Juden nach Auschwitz deportiert. Die nazistischen Pfeilkreuzler kamen an die Macht, mit antisemitischem Furor zogen sie mordend durch Budapest. Sie richteten mit einem gelben Stern markierte «Judenhäuser» als Ghettos ein. Lutz und Wallenberg schafften es, rund hundert Häuser unter ihren diplomatischen Schutz zu stellen, überdies Zehntausende von «Schutzpässen» auszufertigen. Dadurch konnten die meisten Budapester Juden vor der Deportation bewahrt werden: 124 000 überlebten den Krieg, etwa die Hälfte verdanken Carl Lutz ihr Leben.

Ernst Prodolliet, der grosszügige Visa-Aussteller

Ein anderer Brennpunkt: die Ostschweiz. Noch vor Kriegsausbruch, in der zweiten Jahreshälfte 1938, strömten Tausende jüdische Flüchtlinge, vor allem von Wien kommend, Richtung Schweizer Grenze. Rund 3000 konnten im St. Galler Rheintal dank Polizeihauptmann Paul Grüninger illegal einreisen. Grüninger verlor 1939 deshalb Job und Ansehen, später wurde er verurteilt. In der Schweizer Konsularagentur im Vorarlbergischen Bregenz setzte sich gleichzeitig Vizekonsul Ernst Prodolliet für die Flüchtlinge ein. Prodolliet galt als streng bei der Erteilung von Visa, tatsächlich aber stellte er sie grosszügig und illegal aus, vorerst unbemerkt von seinen Vorgesetzten. In einer einzigen Nacht rettete er 300 meist junge Flüchtlinge, indem er ihnen die Ein- und Durchreise durch die Schweiz ermöglichte. Die meisten von ihnen gelangten danach zum Adriahafen in Rijeka, von wo sie ein Schiff nach Palästina brachte.

Prodolliet stellte zahlreiche weitere Durchreisevisa aus –
vermutlich Hunderte. Wie viele, wusste er selbst nicht genau, da über 5000 Juden zu ihm gekommen seien. Prodolliet begleitete Flüchtlinge auch selbst über die Grenze. Als er bei einem illegalen Grenzübertritt bei Diepoldsau entdeckt wurde, erhielt die Fremdenpolizei Kenntnis von seinen Aktivitäten und eröffnete ein Disziplinarverfahren. Prodolliet musste sein Bregenzer Büro räumen.

Neben Paul Grüninger und Ernst Prodolliet waren im St. Galler Rheintal weitere Fluchthelfer aktiv. An vielen Fronten wirkte Recha Sternbuch mit, eine orthodoxe, mit einem St. Galler Textilindustriellen verheiratete Jüdin. Gelegentlich arbeiteten Grüninger, Prodolliet und Sternbuch zusammen. Sternbuchs Engagement basierte auf ihrer orthodoxen Haltung, wonach die Rettung jeder einzelnen Seele unabdingbares Gebot der Religion sei. Für Grüninger und Prodolliet war das Handeln zugunsten der Flüchtlinge nicht religiös motiviert, sondern schlicht ein Gebot der Menschlichkeit.

Das antisemitische Umfeld

Die Fluchthelfer agierten in einem Umfeld, das von Obrigkeitsgläubigkeit, durch Angst vor dem Nationalsozialismus, teilweise auch von antisemitischen Strömungen geprägt war. Die UEK Schweiz-Zweiter Weltkrieg sprach in ihrem Schlussbericht 2002 denn auch von einem Gesamtbild, das «trotz abweichender Haltungen einzelner Amtsträger nicht geeignet ist, die Schweiz vom Vorwurf rassistischer Vorstellungen und antisemitischer Vorurteile zu entlasten». Die Behörden sahen die eigene Identität durch «wesensfremde Elemente» gefährdet, exemplarisch durch jüdische Flüchtlinge.

Doch die Schweiz zählte lediglich 19 000 Juden, der Ausländeranteil war im Sinken begriffen. Heinrich Rothmund, Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei, betonte vor Kriegsausbruch: «Wenn wir einer unseres Landes unwürdigen antisemitischen Bewegung nicht berechtigten Boden verschaffen wollen, müssen wir uns mit aller Kraft und wenn nötig auch mit Rücksichtslosigkeit der Zuwanderung ausländischer Juden erwehren». Die katholische Kirche trug zum antisemitischen Klischee bei. In St. Gallen wiederholte der christlichsoziale Pfarrer Alois Scheiwiler den Vorwurf gegen die Juden, eine Weltherrschaft errichten zu wollen, und warnte vor der Verjudung der Presse und der Sozialdemokratie. Kaum war er zum Bischof gewählt, wandelte sich seine Haltung: Als einziger Schweizer Bischof nahm er öffentlich Stellung gegen Antisemitismus und Rassismus.

Das Beispiel des Kantons St. Gallen zeigt, dass Antisemitismus – wenn überhaupt – unterschiedlich wahrgenommen wurde. Dutzende befragte Zeitzeugen wollen keinen Antisemitismus bemerkt haben. Unterschwellig sei er wohl spürbar gewesen, berichteten jüdische Flüchtlinge, die in Gossau in Lagern lebten, doch als viel extremer nahmen sie die offen geäusserte Antipathie zwischen Katholiken und Reformierten wahr. Deren konfessionelle Sturheit habe sich etwa darin gespiegelt, dass Katholiken ihr Brot nur bei einem katholischen Bäcker kaufen durften, die Reformierten nur bei einem reformierten Bäcker. «Katholiken und Protestanten hatten genug damit zu tun, unter sich verfeindet zu sein», erzählte eine Zeitzeugin. Eine ganz andere Wahrnehmung hatte ein ebenfalls in Gossau lebender Flüchtling: «Jeder Ausländer wurde als Jude bezeichnet. Wir wurden als zweit- oder drittklassige Leute angesehen.»

Insgesamt herrschte im Volk wohl eine still ablehnende Haltung gegenüber Juden vor, aber abgesehen von Einzelfällen kein offener Antisemitismus. Bekannt war hingegen die antisemitische Haltung einzelner kantonaler Behörden, insbesondere im Thurgau oder Aargau. Auch St. Gallen scheute sich nicht, nachdem Paul Grüninger seines Amtes enthoben worden war, Flüchtlinge direkt in die Hände der Gestapo auszuliefern. Kurz vor Kriegsende dann, als Tausende freigekaufte oder freigelassene KZ-Insassen nach St. Gallen gelangten und hier betreut wurden, waren der Schock und die Empörung über das Schicksal der Juden gross.

Die Rehabilitierung

Die Haltung gegenüber den Judenrettern blieb nach dem Krieg für Jahrzehnte ein Tabu, Legalismus stand über Menschlichkeit. Es bedurfte zahlreicher Anläufe, bis Paul Grüninger, der nach seiner Entlassung als Polizeihauptmann nurmehr Gelegenheitsjobs erhalten hatte, in den 1990er-Jahren juristisch und politisch rehabilitiert wurde. Erst 2014 hielt es auch sein einstiger Arbeitgeber, die Kantonspolizei St.Gallen, für opportun, Grüningers moralisches Handeln öffentlich zu würdigen. Der zuständige Regierungsrat forderte dabei das Polizeikorps indirekt auf, im Falle einer moralischen Notlage Vorschriften zu missachten: «Regeln oder Anweisungen, die in krasser Weise gegen elementare Prinzipien der Gerechtigkeit und der Menschenwürde verstossen, muss die Anwendung versagt bleiben.»

Auch die beiden Diplomaten Carl Lutz und Ernst Prodolliet mussten ihr Handeln verantworten. Lutz blieb körperlich unversehrt, kehrte 1945 in die Schweiz zurück und wurde in Bern wegen angeblicher Kompetenzüberschreitung gerügt. Seiner weiteren Karriere, die 1961 just auf dem Generalkonsulat in Bregenz endete, war dies nicht förderlich. Im selben Jahr attestierte die NZZ Carl Lutz «Mannesmut, Unerschrockenheit und Unbeirrbarkeit». Walzenhausen ernannte ihn 1963 zum Ehrenbürger. 1975 starb er in Bern.

Prodolliet wurde ebenfalls nach Bern zitiert und belehrt, dass die Konsularagentur nicht dazu da sei, «dass es den Juden gutgeht». Auch seine Karriere geriet ins Stocken. Er wurde nach Amsterdam versetzt, wo er im Krieg Hunderte von Juden aus Deportationszügen holte. Zuletzt war er Konsul in Besançon. 1983 erhielt er die Ehrenmedaille Israels als «Gerechter unter den Völkern», im Jahr darauf starb er in Amriswil. Eine offizielle Rehabilitierung und Anerkennung ihrer Verdienste um die Rettung jüdischer Menschen erfolgte für Carl Lutz und Ernst Prodolliet erst 1995 durch den Bundesrat - lange nach ihrem Tod, ein halbes Jahrhundert nach Ende des Zweiten Weltkriegs.