TANGRAM 39

Editorial

Martine Brunschwig Graf ist Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR

Während diese Zeilen verfasst werden, erfahren wir gerade vom neusten, am 5. April 2017 in der Schweiz begangenen und bekannt gewordenen Akt von Antisemitismus. Niemand ist dabei getötet oder verletzt worden, aber verabscheuungswürdig ist er trotzdem. Eine Wand der Universität Lausanne wurde am helllichten Tag mit einer Sprayerei verunstaltet, die uns brutal an die Kristallnacht erinnert. Wir leben nicht im Jahr 1938, aber der Antisemitismus ist nicht verschwunden. Er erscheint in unterschiedlicher Gestalt und stützt sich auf jeden erdenklichen Vorwand, er ist immer da, und er muss entschlossen und beharrlich bekämpft werden.

Die vorliegende Nummer des TANGRAM befasst sich mit dem Antisemitismus von gestern und heute, der sich der ewig gleichen Stereotype bedient, der den Nahostkonflikt zum Vorwand nimmt, um sich in den sozialen Netzwerken mit aggressiven Äusserungen kundzutun, und der auch heute noch die Basis der rechtsextremen Bewegungen bildet, in der Schweiz genauso wie anderswo auf der Welt.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung und die kritische Analyse sind für jede Problematik wichtig. Hier werden Beiträge vorgestellt, die den Antisemitismus aus verschiedenen Perspektiven und ausgehend von verschiedenen Standpunkten betrachten. Trotz dieser Vielfalt wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, vielmehr soll damit die Diskussion angeregt werden.

Das Gedenken bleibt ein wesentlicher Teil der Bekämpfung von Antisemitismus. Aus diesem Grund freut es uns sehr, dass die Schweiz 2017 die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) präsidiert. Dieses Ehrenamt bietet die Gelegenheit, sich mit dem Weiterleben der Erinnerung in der heutigen Welt auseinanderzusetzen. Die Holocaustleugner sind immer noch sehr aktiv, meist im Verborgenen, bisweilen auch öffentlich. In den sozialen Netzwerken sind unzählige Webseiten mit Falschinformationen, gefährlichen pseudowissenschaftlichen Inhalten, mit Lügen und die Tatsachen leugnenden Thesen zu finden. Die Zahl der Überlebenden des Holocaust wird immer kleiner, und damit verschwinden auch die letzten direkten Zeugen. Für die jungen Leute von heute ist es daher wichtig, dass für sie ein pädagogischer Zugang gefunden wird, der die Beurteilung einer Epoche ermöglicht, die sie nicht gekannt haben und von der immer weniger gesprochen wird.

Dieses TANGRAM kann keine Wundermittel gegen ein jahrhundertealtes, nicht auszurottendes Phänomen präsentieren. Doch es soll die Diskussion bereichern und gewisse Aspekte erläutern. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!