TANGRAM 39

Antisemitismus und verbale Gewalt. Kognitive und emotionale Merkmale aktueller Judenfeindschaft

Autorin

Prof. Monika Schwarz-Friesel ist Antisemitismusforscherin an der Technischen Universität Berlin und seit 2014 Leiterin des Projekts Verbal-Antisemitismus im World Wide Web der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). schwarzfriesel@gmail.com

Trotz aller Aufklärungsarbeit nach dem Holocaust nimmt der Antisemitismus weltweit wieder zu. Die Hemmschwelle judenfeindlicher Äusserungen sinkt generell. Gefahr droht insbesondere vom Antisemitismus, der sich hinter einer «Kapitalismus-» oder «Israel-Kritik» versteckt.

Die empirische Antisemitismusforschung zeigt, dass Antisemitismus trotz aller Aufklärungsarbeit nach dem Holocaust ein gesellschaftliches Problem geblieben ist und zudem seit Jahren weltweit zunimmt. Physische Gewaltakte gegenüber Jüdinnen und Juden, Anschläge auf Synagogen, Schändungen jüdischer Friedhöfe, Terrorattacken sowie Diffamierungs- und Boykott-Kampagnen gegen den jüdischen Staat Israel werden immer augenfälliger. Insbesondere der verbale Antisemitismus, d.h. Äusserungen, in denen Juden stigmatisiert, diskriminiert, bedroht, beschimpft und belehrt werden, hat in einem dramatischen Ausmass zugenommen, wie Korpusanalysen zu verschiedenen Diskursbereichen (E-Mails und Briefe an jüdische Institutionen, Leserbriefe/Kommentarbereiche von online-Zeitschriften, Internet-Foren usw.) belegen. In den USA nimmt der sogenannte Campus-Antisemitismus bedrohliche Ausmasse an: Jüdische Studierende mit pro-israelischer Haltung werden drangsaliert, Hakenkreuze verflochten mit dem Davidstern und Drohungen aufgemalt. Die internationale Ver- und Ausbreitung drastischer Verbal-Antisemitismen und Gewaltphantasien über das Web 2.0 verläuft mittlerweile in den sozialen Netzwerken völlig unkontrolliert. Die Hemmschwelle, judenfeindliche Äusserungen zu artikulieren, sinkt generell. Quantitative Korpusanalysen zeigen, dass sich im Laufe von zehn Jahren die Anzahl antisemitischer Texte in bestimmten Kommunikationsräumen (z.B. Leserkommentare) verdreifacht hat. Qualitative Textanalysen machen transparent, welche judenfeindlichen Inhalte im 21. Jahrhundert über sprachliche Mittel und Strukturen ausgedrückt werden.

Kontinuität, Resistenz und Adaption des judenfeindlichen Ressentiments

Die Hauptgefahr für die Gesellschaft liegt dabei nicht im Vulgär-Antisemitismus von Rechts- und Linksextremisten, denn dieser ist nach wie vor verpönt, wird beobachtet und sanktioniert. Vielmehr ist es der Alltagsantisemitismus der Mitte, der unter der Camouflage «politische Kritik» als extremer Anti-Israelismus in Erscheinung tritt. Diese «Israelisierung der antisemitischen Semantik» folgt einem uralten, typischen Adaptionsmuster von Judenhass: sich durch neue Formvarianten der jeweiligen sozial-politischen Umgebung anzupassen. Je nach ideologischer, ökonomischer und/oder gesellschaftlicher Lage wurden Juden im Laufe der Jahrhunderte als Christus-Mörder, Brunnenvergifter, Pestüberträger, Ernteverderber, Welt-Verschwörer, als Kapitalisten oder Bolschewiken, als reiche Bankiers oder arme Schmarotzer charakterisiert, es wurde ihnen jeweils zu viel oder zu wenig Anpassung usw. vorgeworfen. Nach der Gründung des Staates Israel, dem ostentativen Symbol für jüdisches Überleben nach dem Holocaust, richtete sich entsprechend der Hass gebündelt auf dieses Land: Wurden die Juden im Wandel der Zeiten verantwortlich für alle Übel der Welt erklärt, erfährt dieses Deutungsmuster nun seine zeitgemässe Ausrichtung. Moderne Antisemiten schreiben mehrheitlich nicht «Die Juden stören», sie schreiben «Das Kindermörderland Israel muss von der Landkarte verschwinden», sie schreiben nicht «Das Judentum ist schlecht», sondern «Der Staat Israel ist ein Unrechtsgebilde, das aufgelöst werden sollte!» (alle genannten Beispiele sind authentisch).

70 Jahre nach den Gräueln des Holocaust wird so nahezu unverändert das Basis-Konzept des «ewigen, bösen Juden» tradiert, das gleiche Negativ-Gefühl aktiviert, nur das «äussere Gewand» sieht anders aus. Hier findet die uralte Konzeptualisierung des kollektiven Juden ihren modernen Ausdruck, hier zeigt sich der Antisemitismus als Chamäleon: Die Oberfläche passt sich den aktuellen Gegebenheiten an, die semantische Entwertung von Juden bleibt. Und ernüchternd ist von der Forschung zu konstatieren, dass der Zivilisationsbruch um Auschwitz nicht alle Teile der Gesellschaft geläutert, die intensive Aufklärungsarbeit nicht flächendeckend sensibilisiert hat für die Gefahren einer hassgetriebenen Rhetorik.

Antisemitismus als abendländisches Gefühls- und Weltdeutungssystem

Will man verstehen, warum Antisemitismus dermassen resistent ist, muss man sich vor Augen führen, was Antisemitismus ist: Judenfeindschaft existiert seit 2000 Jahren als affektives Ressentiment und kognitives Weltdeutungssystem, dem zufolge Juden prinzipiell als «die Anderen und die Schlechten» gesehen werden. Antisemitismus basiert massgeblich auf Stereotypen, d.h. geistigen Phantasiekonstrukten, die nichts mit der Realität zu tun haben, aber fest im kollektiven Bewusstsein verankert sind. Die Blutkultlegende beispielsweise, der zufolge Juden das Blut nicht-jüdischer Kinder für rituelle Zwecke benutzen, hat keine empirische Basis (und dies trifft auf alle judeophoben Stereotype zu): Es hat in der langen Geschichte des Judentums nicht einen einzigen Fall eines solchen Kultes gegeben. Dennoch wird diese Phantasie (v.a. im islamistischen Antisemitismus) kommuniziert und findet aktuell in den «Kindermörder-Israel»-Slogans auf anti-israelischen Demonstrationen ihren zeitgemässen Ausdruck. Es gibt ein Repertoire von Stereotypen (jüdische Geldgier, Rachsucht, Weltübernahmepläne, Nutzniesser- und Parasitentum), die seit Jahrhunderten reproduziert werden. Juden werden so als Kollektiv charakterisiert, und es werden ihnen unabänderliche Eigenschaften zugesprochen. Aufgrund dieser den Juden angedichteten negativen Eigenschaften ist es die jüdische Existenz an sich, die als Provokation, als Übel in der Welt empfunden wird. Die emotionale Dimension der Judenfeindschaft wird vom Gefühl des Hasses bestimmt. Dies spiegelt sich in den Äusserungen wider: «Juden sind das Schlimmste, was Gott der Menschheit angetan hat, und Israel ist der übelste Schurkenstaat!» (E-Mail an die israelische Botschaft 2016), «Ich hasse Juden!» (Twitter 2016).

Sprachstrukturen als Spuren ihrer Benutzer

Um die geistige Basis des heutigen Antisemitismus zu verstehen, gibt es nur einen methodischen Weg, um Einblick in die Köpfe zu erhalten: Zu untersuchen, wie sich Antisemitismus artikuliert, denn Sprachstrukturen sind Spuren der kognitiven und emotionalen Aktivität ihrer Benutzer. Sie ermöglichen es, Aufschluss über die internen (sonst nicht beobachtbaren) Konzepte zu erhalten, sie bieten ein Fenster in Geist und Gefühlsleben von Menschen. Als Verbal-Antisemitismus gelten alle sprachlichen Äusserungen, durch die Juden bewusst oder unbewusst als Juden entwertet, und mit denen judenfeindliche Stereotype ausgedrückt werden. Bei allen sprachlichen Variationen in den Realisierungsformen lassen sich einige grundlegende Eigenschaften von Verbal-Antisemitismus benennen: De-Realisierung (d.h. eine die Realität verzerrende Darstellung) sowie Abgrenzung (Juden als die Anderen), Fixierung (Festlegung durch Stereotype) und Entwertung (Negativbewertung). Die als typisch antisemitisch geltenden Beschimpfungen wie Wucherjuden, Holocaustleugnungen und All-Aussagen wie Alle Juden sind rachsüchtig stellen heute jedoch nur einen kleinen Teil der Typen von Verbal-Antisemitismen dar.

Camouflage-Technik und indirekte Sprechakte

Seit 1945 ist ein expliziter Vulgär-Antisemitismus tabuisiert und wird sanktioniert. Judenfeindliche Inhalte werden heute daher v.a. als sogenannte «Umweg-Kommunikation» in Form von indirekten Sprechakten artikuliert. Statt explizit auf Juden zu verweisen, werden Paraphrasen wie «jene einflussreichen Kreise» oder Substitutionswörter wie «Israelis» oder «Zionisten» benutzt. Anstelle von «Finanzjudentum» wird «internationales Finanztum» gesetzt, oft zusammen mit Schlagworten, die mit dem Judentum assoziiert werden wie «Auge um Auge» oder «alttestamentarisch». «Rothschild» ist eine bekannte Chiffre für das Stereotyp des jüdischen Wuchers und Finanzwesens. Während sich also die Ausdrucksformen den aktuellen Gegebenheiten anpassen, bleiben die judenfeindlichen Konzepte konstant und werden lediglich unter verbaler Camouflage entweder als «Kapitalismus» oder «Israel-Kritik» kodiert.

Klassifikationskriterien

Die sprachorientierte Antisemitimusforschung gibt Klassifikationskriterien an die Hand, um antisemitische Äusserungen zu identifizieren und auch, um die viel diskutierte Frage nach der Abgrenzung von politischer Kritik an Israel und Judenhass klar zu beantworten: Antisemitischer Anti-Israelismus gibt sich verbal durch exakt die gleichen Mittel und Strategien zu erkennen, die seit Jahrhunderten die judenfeindliche Kommunikation ausmachen. Typisch sind neben den oben erwähnten Charakteristika NS-Vergleiche («SS-Politik»), brachiale Pejorativlexik («Pest in Nahost») sowie de-realisierende Hyperbeln («grösste Gefahr für den Weltfrieden»). Dies sind Sprachformen, die kein seriöser Kritiker benutzt, denn sie haben das Potenzial, judenfeindliche Gedanken und Gefühle zu aktivieren: Wenn Juden und/oder Israelis im Spiegel der Sprache als «Parasiten», «Verbrecher», «Mörder» und «Menschenfeinde» konzeptualisiert werden, ergeben sich schnell Forderungen nach Handlungen («Atombombe auf den jüdischen Unrechtsstaat!», «Öffnet wieder die Gaskammern.»). Verbale Gewalt ist bislang in der langen Geschichte der Judenfeindschaft nie nur Selbstzweck, sondern stets Voraussetzung und Vorbereitung für non-verbale Gewalt gewesen.

Agronom und Ökonom, 18. Juni 1964, Zürich

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