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Pascal Pernet ist Präsident, Dominic Pugatsch Geschäftsführer der GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus.
p.pernet@gra.ch
d.pugatsch@gra.ch
Fast jeder dritte Einwohner der Schweiz stimmt antijüdischen Klischees zu. Jüdische Einrichtungen geraten zunehmend ins Visier extremistischer Gruppierungen. Die Behörden anerkennen zwar ein erhöhtes Schutzbedürfnis jüdischer Gemeinschaften, lehnen finanzielle Beiträge für Sicherheitsleistungen aber ab.
Gemäss EDI-Massnahmenbericht sind in der Schweiz auch heute antisemitische Einstellungen nachweisbar, die in konfliktreichen Zeiten rasch in verbale, aber auch körperliche Aggressionen umschlagen können. Die von der Fachstelle für Rassismusbekämpfung 2010 bis 2015 durchgeführte Umfrage zum Zusammenleben in der Schweiz zeigt, dass rund 10 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz antijüdische Einstellungen aufweisen und weitere 28 Prozent antijüdischen Klischees zustimmen. Diese Zahlen sind leider als stabil zu erachten und begründen das langfristige Engagement der GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus.
Die Gründe für antijüdische Klischees und Einstellungen sind vielfältig, und die in der Schweiz erhobenen Zahlen entsprechen ungefähr denjenigen in anderen europäischen Ländern. Trotzdem: Die Tatsache, dass ein knappes Drittel der Wohnbevölkerung in der Schweiz antijüdischen Klischees zustimmt, ist erstaunlich und erschreckend zugleich. Auch wenn man sich an diese Zahlen gewöhnt haben mag, so sind diese Grössenordnungen einer modernen Gesellschaft unwürdig und für ein Land wie die Schweiz inakzeptabel.
Die nachhaltige Bekämpfung antisemitischer Vorurteile kann vor allem mit Aufklärung, Bildung und Öffentlichkeitsarbeit erreicht werden. Daneben gilt es, bei der Ahndung antisemitisch motivierter Straftaten konsequent das Strafrecht einzusetzen. Hier misst die GRA der Rassismus-Strafnorm gemäss Artikel 261bis StGB grosse Bedeutung bei, und sie wird Vorstössen zur Verwässerung dieser Gesetzesnorm auch in Zukunft entschiedenen entgegentreten.
Juden und jüdische Einrichtungen stehen verstärkt im Visier von extremistischen Gruppierungen und Terroristen. Zu diesem Schluss sind auch die Bundesbehörden gekommen. In verschiedenen Berichten anerkennen sie ein erhöhtes Gefahrenpotenzial und somit auch ein erhöhtes Schutzbedürfnis der jüdischen Gemeinschaften in der Schweiz. Mit Verweis auf die kantonale Polizeihoheit stellen sich die Bundesbehörden aber auf den Standpunkt, der Schutz von jüdischen Einrichtungen sei primär Sache der Kantone. Namentlich bezüglich finanzieller Beiträge an die Sicherheitsleistungen der jüdischen Gemeinschaften stellen sich die Bundesbehörden auf den Standpunkt, es fehle dafür an einer Verfassungs- und folglich auch an einer Gesetzesgrundlage.
Mit der veränderten Gefahrenlage ist auch eine neue staatliche Aufgabenstellung entstanden, die zusätzlicher Ressourcen bedarf. Dies zeigt das Gutachten von alt Regierungsrat Dr. Markus Notter zum Schutzanspruch der jüdischen Gemeinden. Der Schutz der Freiheit und Sicherheit seiner Bewohner gehört zu den grundlegenden Aufgaben des Staates. Artikel 6 Absatz 2 des europäischen Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten gewährt den jüdischen Gemeinschaften in der Schweiz zudem Anspruch auf physischen Schutz vor gewalttätigen oder feindseligen Handlungen. Bund und Kantone sind somit verpflichtet, geeignete und wirksame Massnahmen zum Schutz von Menschen zu treffen, die wegen ihrer spezifischen Identität diskriminierenden, feindseligen oder gewalttätigen Handlungen ausgesetzt sein können. Der sogenannte «kooperative Föderalismus» ist dabei eine «schweizerische Realität». In seiner Stellungnahme zur Motion von Daniel Jositsch (SP/ZH) zum «Schutz religiöser Gemeinschaften vor terroristischer und extremistischer Gewalt» hat der Bundesrat erstmalig anerkannt, dass nach Artikel 57 Absatz 2 der Bundesverfassung der Bund und die Kantone ihre Anstrengungen im Bereich der inneren Sicherheit koordinieren müssen. Gestützt darauf sei der Bundesrat bestrebt, «die bereits bestehende Koordination zu intensivieren. Er wird in Zusammenarbeit mit den Kantonen und Städten sowie im Gespräch mit interessierten Organisationen analysieren, ob das heute vorgesehene Schutzdispositiv genügt oder ob es punktuelle Schwachstellen gibt, die mittels spezifischer Massnahmen eliminiert werden können».
Der grundrechtliche Anspruch der jüdischen Gemeinschaften auf staatliche Schutzmassnahmen fällt sowohl in den Zuständigkeitsbereich der Kantone als auch des Bundes. Beide staatlichen Ebenen haben je verfassungsrechtliche Schutzpflicht. Der Bund kann sich folglich mit dem Hinweis auf die kantonale Polizeihoheit von seiner eigenen Zuständigkeit nicht mehr dispensieren. Dass die Bereitschaft zur finanziellen Beteiligung auf Bundesebene bisher allerdings begrenzt ist, hat der EDI-Massnahmenbericht zum Ausdruck gebracht.
Um ihrer Schutzpflicht nachzukommen, haben Bund und Kantone zweifellos ein Interesse daran, die jüdischen Gemeinschaften dahingehend zu unterstützen, ihre eigenen Schutzmassnahmen wirksam umsetzen und nach professionellen Standards erbringen zu können. Diese unabdingbaren öffentlichen Interessen müssen auch eine genügende finanzielle Unterstützung der betroffenen Gemeinschaften rechtfertigen; namentlich dann, wenn die notwendigen Sicherheitsmassnahmen nicht von den lokalen Polizeikorps erbracht werden können. Es ist aus Sicht der GRA deshalb unerlässlich, dass die öffentliche Hand den Schutzanspruch der jüdischen Gemeinschaft nicht nur grundrechtlich anerkennt, sondern ihrer Pflicht auch finanziell nachkommt.
Wie in TANGRAM 38 Rassendiskriminierung und Zugang zur Justiz bereits ausführlich thematisiert wurde, fehlt in der Schweiz eine aktive Verbandslegitimation für die Rassismus-Strafnorm. Bundesrat und Parlament sind nach wie vor nicht gewillt, auf entsprechende Empfehlungen des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte SKMR einzugehen. Der Nationalrat lehnte im März eine parlamentarische Initiative von Manuel Tornare (SP/GE) ab, welche die Einführung eines Beschwerderechtes für Minderheitenschutzorganisationen verlangte. Ein solches hätte es Organisationen wie der GRA ermöglicht, Parteirechte im Strafverfahren wahrzunehmen. Eine Minderheit des Nationalrates unterstützte das Anliegen. Es sei ungerecht und nicht nachvollziehbar, dass es Organisationen bei Umweltfragen möglich sei, vor Gericht zu ziehen, dies aber für so wichtige Anliegen wie den Kampf gegen Rassismus, Homophobie und Antisemitismus nicht möglich sein soll. Für die Ratsmehrheit genügte es hingegen, dass Rassendiskriminierung als Offizialdelikt von Amtes wegen verfolgt werden muss. Leider wird dieses Prinzip bei Verstössen gegen die Rassismus-Strafnorm nicht immer mit der notwendigen Konsequenz durchgesetzt: Gravierende Fälle werden oft nur zurückhaltend, gar nicht oder eben nur auf Strafantrag hin untersucht. Die GRA appelliert hier an die zuständigen Staatsanwaltschaften, Verstösse gegen die Rassismus-Strafnorm genauso ernst zu nehmen wie andere Offizialdelikte.
Handlungsbedarf besteht auch in einer stärkeren Verankerung der Bildung gegen Rassismus und Antisemitismus (siehe TANGRAM 37 zum Schwerpunkt Schule). Die Vermittlung der Shoah beruht oft auf dem Engagement einzelner Lehrpersonen und NGOs, welche die Bildungsangebote und -inhalte selber konzipieren, anbieten und vermitteln. Die Schweizer Lehrpläne lassen zwar Raum, Rassismus und Antisemitismus zu thematisieren, allerdings ist die Auseinandersetzung mit der Thematik nicht zwingend vorgeschrieben. Wünschenswert wäre deshalb eine reflektierte Kritik von rassistischen und antisemitischen Konzepten und Verhaltensformen und damit einhergehend, eine erhöhte Verbindlichkeit der Prävention.
Die jüdische Minderheit in der Schweiz beträgt ungefähr 0,4 Prozent der Gesamtbevölkerung, und schätzungsweise 80 Prozent dieser Menschen sind auch schweizerische Staatsbürgerinnen und -bürger. Wenn nun ein knappes Drittel der Wohnbevölkerung in der Schweiz antisemitischen Vorurteilen zustimmt, so bedeutet dies in Zahlen ausgedrückt, dass knapp 18 000 Jüdinnen und Juden mehr als 2 Millionen Menschen gegenüberstehen, welche ihnen gegenüber negative Vorurteile hegen. Diese Grössenverhältnisse sollten nicht dazu verleiten, Angst zu schüren, sie dürfen aber auch nicht beschönigt werden. Der weltweit zu beobachtende Trend hin zu (rechts-)populistischen Parteien ist in diesem Zusammenhang besorgniserregend. «Alternative Fakten» führen auch in der Schweiz zu vermehrt inhaltslosen Debatten und zu irrationalem Hass auf Minderheiten. Die unsichtbare Linie dessen, was gerade noch gesagt werden darf, wird unbemerkt verschoben. Abschottung, Überbetonung und Rückbesinnung auf vermeintlich nationale Werte und die Verachtung alles Fremden sind die typische Folge dieser Entwicklung. Für die jüdische Bevölkerung in der Schweiz ist dieser Trend bedrohlich, denn erfahrungsgemäss führen solche Tendenzen fast automatisch auch zur verstärkten Bedienung antijüdischer Klischees und damit zu einer höheren Anzahl antisemitischer Vorfälle. Ein Beispiel ist die Vermischung zwischen der teils legitimen Kritik an der Regierungspolitik Israels und an der Existenz des Staates Israel. Oft werden damit antisemitische Klischees bedient. Die GRA appelliert an den in der Schweiz so ausgeprägten Bürgersinn und insbesondere an Politikerinnen und Politiker, Vorurteilen im Allgemeinen und Antisemitismus im Besonderen durch Fakten entgegenzutreten. Alles andere wäre als Rückschritt zu werten.
Bibliografie
Ballmer, Daniel, Sicherheit durch Staat oder Private? Der Kanton schlägt sich mit einem Graubereich herum, in: Basellandschaftliche Zeitung vom 17.2.2017
Belser, Eva Maria/Egbuna-Joss Andrea, Der strafrechtliche Schutz vor Antisemitismus in der Schweiz, SKMR-Studie zur rechtlichen Situation der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz und zur Umsetzung der Erklärung des OSZE-Ministerrates gegen Antisemitismus, Freiburg i.Ue 2015
Eidgenössisches Departement des Innern EDI/Fachstelle für Rassismusbekämpfung, Bericht über die Massnahmen des Bundes gegen Antisemitismus in der Schweiz vom 1. November 2016 (zit. als EDI-Massnahmenbericht)
Fahrländer, Hans, Kolumne zur Zerstörung der politischen Debatte durch die Rechtsnationalen, in: Aargauer Zeitung vom 26.1.2017
Gerny, Daniel, Bund soll mehr zur Sicherheit der Juden beitragen, in: Die Neue Zürcher Zeitung vom 2.2.2017
Niggli, Marcel Alexander, Rassendiskriminierung, Ein Kommentar zu Art. 261bis StGB und Art. 171c MStG, Zürich 2007
Notter, Markus, Schutzanspruch der jüdischen Gemeinschaften, zuhanden des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes Dietikon November 2016.
Oui, protéger les libertés et les droits fondamentaux a un coût
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p.pernet@gra.ch, d.pugatsch@gra.ch">Pascal Pernet est président et Dominic Pugatsch directeur de la Fondation GRA contre le racisme et l’antisémitisme. p.pernet@gra.ch, d.pugatsch@gra.ch
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