Autorin
Kristin T. Schnider, geboren 1960 in London, aufgewachsen in Zürich. Lebt seit 1998 als freischaffende Schriftstellerin in Wassen im Kanton Uri.
ktschnider@gmx.net
Der Kanton Uri ist gemäss Einwohnerzahl der zweitkleinste Kanton der Schweiz. Mit einem Ausländeranteil von circa 10 Prozent gehört er auch zu den Kantonen mit den wenigsten Ausländerinnen und Ausländern. Wie lebt es sich als Person mit dunkler Hautfarbe in diesem kleinräumigen Mikrokosmos? Eine Spurensuche.
Uri – in der Mitte der Schweiz gelegen, einer der drei Urkantone. Seine 20 Gemeinden sind verteilt über eine Fläche von 1077 km2. Gemessen an der Einwohnerzahl ist der Kanton Uri der zweitkleinste Kanton der Schweiz. Städte gibt es keine, da keine Gemeinde mehr als 10 000 Einwohnerinnen und Einwohner hat. Im sozial kleinräumigen Kanton ist es noch beinahe möglich, dass «jede jeden kennt» – mindestens vom Sehen.
Hier hat sich der so genannte Ausländeranteil seit Jahren um die 10 Prozent herum eingependelt. Im August 2013 lag er gemäss Statistik bei 10.7 Prozent. Unter der ständigen Wohnbevölkerung von 35 693 liessen sich 3828 Ausländerinnen und Ausländer ermitteln. Der Anteil schwarzer Menschen an der Urner Bevölkerung ist gering. Aus dem subsaharischen Afrika, nämlich aus Eritrea, kommt rund die Hälfte der zurzeit hier anerkannten 110 Flüchtlinge, und auch unter denjenigen, die noch im Asylverfahren stehen, finden sich vor allem Eritreer und Somalier. Auf Grund der Staatsbürgerschaft können über 90 Personen, die in der Statistik zur ständigen Wohnbevölkerung gehören, subsaharisch-afrikanischen Ländern zugeordnet werden, was dennoch nicht zwingend heisst, dass alle davon dunkler Hautfarbe sein müssen. Genauso wie nicht alle Schweizer weiss sind. Einige Schweizer Familien mit afrikanischem oder karibischem Hintergrund leben hier. Ich selbst bin vor bald 17 Jahren aus Zürich zugezogen und gehöre zu den Menschen mit einem karibischen Elternteil, die dank oder wegen ihrer hellen Haut nur selten und je nach Stimmung in der Bevölkerung nach ihrem angeblich «unschweizerischen» Hintergrund gefragt werden.
Meine Gesprächspartner und -partnerinnen frage ich danach, ob es denn im Kanton Rassismus oder Anti-Schwarzen-Rassismus gäbe und wie sich dessen Vorhandensein oder Fehlen auf ihr Leben und auf ihre Arbeit auswirke. Einige der Befragten kenne ich bereits, zum Beispiel die Bekannte aus Ghana, die seit vierzig Jahren im Kanton lebt und ihre drei Kinder, noch in Ghana geboren, mit ihrem Ehemann aus dem Appenzell im Dorf, in dem ich wohne, aufgezogen hat. Eine ihrer Enkelinnen, die fraglos weiss aussieht, hört interessiert bei unserem Gespräch zu. Ein paar Tage später rede ich auch mit ihrer Mutter. Eine Frau aus dem Urserental treffe ich im Bahnhofsbistro Göschenen, ihre beiden Kinder, die immer noch im Kanton leben und arbeiten, hatte sie mit ihrem Ehemann aus Angola, von dem sie lange schon geschieden ist. Auch die drei Söhne einer Bekannten, die aus Basel hergezogen ist, sind hier in Uri aufgewachsen. Ihr Vater stammt aus Guadeloupe. Eine Grossfamilie aus Eritrea, die den Status der anerkannten Flüchtlinge erhalten hat, bewirtet mich mit Kaffee und Fladenbrot. Das Buch «Ich, der Neger» vom berühmtesten Schwarzen des Kantons, Urs Althaus, lese ich. Später begebe ich mich «auf die andere Seite», erkundige mich nach eher amtlichen Erfahrungen mit dunkelhäutigen Menschen und will wissen, ob rassistische Übergriffe festgestellt oder sogar angezeigt wurden. Ich unterhalte mich mit der Deutschlehrerin für fremdsprachige Kinder an der Volksschule in Erstfeld, treffe die Integrationsdelegierte des Kantons, den Leiter des Programmes des Roten Kreuzes, der als Sozialarbeiter für die Handhabung des kantonalen Asylwesens zuständig ist, und den Verantwortlichen der Kantonspolizei. Im Restaurant Fomaz in Altdorf, einem Integrationsprojekt des Schweizerischen Roten Kreuzes, unterhalte ich mich mit einem Mitarbeiter aus Eritrea und dem Koch, der, in Zürich aufgewachsen, nun hierhergezogen ist ins Urner Elternhaus.
Rassismus ist nicht mehr, was er einmal war. Jedenfalls in der Definition. Offiziell ist man davon abgekommen, die Menschheit in Rassen einzuteilen. Aus den Antworten auf meine Frage danach zeichnet sich ab, dass für die meisten Gesprächspartner Rassismus als allgemeine Diskriminierung gilt, als eine Sammlung von Vorurteilen, die ein Individuum entpersonalisiert, indem es einer Gruppe mit negativen Vorzeichen zugeschlagen wird. Der gemeinsame Nenner der Diskriminierungsarten, die unter «Rassismus» noch zusammengefasst werden, ist die Geringschätzung, Benachteiligung und das Misstrauen gegenüber dem Fremden, Unbekannten und diene, wie vor allem die Integrationsdelegierte betont, der Abwehr und der Umpolung von diffusen Ängsten.
Was ist also mit der Diskriminierung von Schwarzen? Die Begrifflichkeiten werden auch hier zuerst geklärt, und im Zeitalter der verbalen Vorsicht oder politischen Korrektheit einigen wir uns in den Gesprächen auf den Begriff «dunkelhäutige Menschen». Schnell ist auch geklärt, dass heutzutage, nicht wie in den 1990er-Jahren, als sehr viele Flüchtende aus Sri Lanka in die Schweiz kamen, zwischen Menschen tamilischer oder singhalesischer Herkunft und Menschen aus der afrikanischen Diaspora unterschieden werden kann. Menschen aus Sri Lanka haben sich mit der Zeit den Ruf widerspruchsloser und fleissiger Arbeiterinnen und Arbeiter erworben. Und doch ist die sichtbar dunklere Haut der gemeinsame Nenner für die Menschen, die allenfalls unter dem Anti-Schwarzen Rassismus leiden. Auch sind die Vorurteile, die mit Menschen mit einem afrikanischen Hintergrund verknüpft werden, dieselben geblieben, was sich vor allem auf dem Arbeits- und auf dem Wohnungsmarkt am deutlichsten zeigt. Direkte rassistische Übergriffe sind dem Sozialarbeiter vom Schweizerischen Roten Kreuz Uri, das im Auftrag des Kantons für die Unterbringung Asylsuchender zuständig ist, nicht bekannt. Aber wenn er sich bei der Stellen- und Wohnungssuche für Menschen aus den erwähnten afrikanischen Ländern einsetzt, wird klar, dass trotz besserem Zugang zu Informationen die alten Bilder in den Köpfen geblieben sind. Sie werden verdächtigt, per se ungebildet, halt nur in «so einer Schule mit Schilfdach» gewesen zu sein, und immer mal wieder wird die Ablehnung – «Solche wollen wir nicht in unserem Haus» – direkt ausgesprochen. Interessanterweise, erzählt er, eher von Verwaltungen als von privaten Hausbesitzern, mit denen er immerhin ins Gespräch kommen kann. Ähnlich ist auch die Vorstellung, dass durchwegs Armut und Hunger der Fluchtgrund seien und deshalb «diese Leute» doch froh sein sollten über alles, das sie hier erhalten, und seien es uralte Matratzen, die bei einer Hotelräumung für den Abfall bestimmt waren. Zu diesen althergebrachten Vorurteilen gesellen sich seit den Plakatkampagnen der SVP im Umfeld der immer häufiger werdenden Initiativen gegen «kriminelle Ausländer» und wie letzthin die so genannte Masseneinwanderung die Stereotype von «schwarzen Schafen» und «gefährlichen Fremden», die auf dem Nährboden der geschürten Ängste gedeihen. All das beeinflusst unweigerlich, wenn auch «unbewusst», das Verhalten gegenüber allen Dunkelhäutigen, also auch denjenigen, die in der Schweiz aufgewachsen und zuhause sind, was man ihnen im Gegensatz zu ihrer Hautfarbe nun einmal nicht ansieht. So werden sie zum Beispiel auch im kleinen Kanton gemäss der klassischen Blindheit − die sehen doch alle gleich aus – ab und zu miteinander verwechselt. Das ist besonders eigenartig, da aus der Art der Verwechslungen – «Seid ihr jetzt die aus Attinghausen? Nein, Andermatt? Oder Flüelen ...?» − spricht, dass durchaus bekannt ist, dass im Kanton dunkelhäutige Urner und Urnerinnen leben.
Aber solche Verwechslungen bzw. Aussagen sind nicht böse gemeint. Genauso wenig wie der «Exotenbonus» – dunkelhäutige Kleinkinder sind besonders «härzig» und dürfen angefasst werden – böse gemeint ist. Und ist es nicht auch irgendwie «natürlich», dass dunkelhäutige junge Frauen für besonders sexy gehalten werden?
«Menschlich» oder natürlich sei es, dass in einer Gruppe Jugendlicher, die mindestens verdächtig herumstehen, die dunkelhäutigen Menschen unter ihnen eher auffallen, weil es halt weniger seien und sie sich leichter zu merken sind, sagt der Vertreter der Urner Kantonspolizei, als ich ihn darauf anspreche, dass vor allem einige der Söhne meiner Gesprächspartnerinnen sich darüber beklagten, dass immer sie es seien, die aus solchen Gruppen herausgepflückt und kontrolliert oder auf Verdacht hin überprüft würden.
Aber Anzeigen unter dem Artikel 261bis Absatz 1 des Schweizerischen Strafgesetzbuches wegen Rassendiskriminierung seien im Kanton Uri seit 2006 kaum mehr zu verzeichnen gewesen, die meisten hätten sich gegen die Aufmärsche der rechten Gruppen am Rütli gerichtet, und vor allem sei die Polizei selbst nie verzeigt worden. Wir drücken uns beide etwas gewunden aus vor dem Hintergrund der Kleinräumigkeit des Kantons. Weder will ich benennen, wer der Betroffenen die Arbeit der Polizei in Zweifel gezogen hat, noch kann er auf Grund der Faktenlage bestätigen, dass es durchaus Polizisten gibt, die härter auf Dunkelhäutige reagieren. Im Grunde ist das Phänomen bekannt, wie auch schnell vorstellbar wäre, wer genau sich auf der einen Seite beklagt hat und wer auf der anderen Seite zu Übergriffen neigt.
Und doch, so wird mir berichtet, ist es auch schon vorgekommen, dass ein «verdächtiger» Dunkelhäutiger spätnachts auf dem Nachhauseweg gefilzt und auf den Kühler des Polizeiwagens gedrückt wurde, obwohl den Polizisten durchaus, ohne dass sie seinen Ausweis hätten sehen müssen, bekannt war, wer da die letzten zwanzig Minuten des Heimwegs zu Fuss unternahm. Ein Geschehen, das Erzählung bleibt, das zwar empört, bald aber von dem Betroffenen wieder eingeordnet wird in «Das ist nicht so schlimm, das ist halt so, das kann vorkommen».
Die Verdecktheit der Diskriminierung, der Andersbehandlung ist, was es so schwer macht, mit «Rassismus» umzugehen. Deutlich ist einzig die Verunsicherung auf beiden Seiten, sobald man diese «menschlichen» Reaktionen – das sind halt Ängste, das ist nur Neugier – einerseits und die Verdrängung andererseits – ich hatte noch nie Probleme, mir ist noch nie etwas passiert, und wenn, war das doch nicht rassistisch, nur etwas dumm – in Frage zu stellen beginnt.
Es waren in diesen Gesprächen auch nicht die dunkelhäutigen Menschen selbst oder ihre Eltern, die von rassistischen Vorfällen berichteten. Es war der weisse Koch des Restaurants Fomaz, das in Altdorf ein Integrationsprojekt durchführt, in dem anerkannte Flüchtlinge, unter anderem aus Somalia, Eritrea, dem Iran, ausgebildet werden, der erzählt, dass er im Bus angestarrt wird, wenn er ganz selbstverständlich mit einem der Restaurantangestellten aus Eritrea redet. Der ihm wiederum erzählt, dass er angerempelt wurde. Dass er auf dem gemeinsamen Fussballplatz nicht habe mitspielen dürfen. Es ist einleuchtend, dass gerade keiner der anerkannten Flüchtlinge offen mitteilt, er oder sie fühle sich rassistisch behandelt. Es ist alles sehr gut hier. Es ist alles in Ordnung. Und doch, wartet man lange genug, interveniert nicht allzusehr im Gespräch, ist plötzlich, schon fast zwischen den Zeilen, zu hören: «Zu meiner kleinen Schwester sagen die Kinder in der Schule schon: ‹Oh, aber du bist schwarz.› Aber sie lacht dann nur und sagt: ‹Ich bin schwarz, du bist weiss, wo ist das Problem?›» In den Gesprächen kam immer wieder zur Sprache, dass, wenn offen rassistische Bemerkungen gefallen seien, die «halt von Kindern» geäussert worden seien. Logischerweise liesse sich daraus auf das Verhalten im Privaten, im Elternhaus, schliessen. Da ist es ein Trost, dass wenigstens in der Gemeinde Erstfeld genau auf der schulischen Ebene intensiv gearbeitet wird und der hervorragende Umgang mit Sprachunterricht, Miteinbezug der Eltern auch mit Hilfe von Dolmetschern und eingehende Informationen als Mittel nicht nur zur Integration, sondern auch zur Gewaltprävention eingesetzt werden. Das kostet Geld, und es ist schön, dass diese Gemeinde noch bereit ist, es aufzubringen.
So gerne viele meiner Gesprächspartner in ihrem Heimatkanton leben − einer sagt: ich könnte ohne meine Berge nicht sein − gemeinsam ist ihnen, dass sie oft reisen, Vergleiche anstellen mit dem Verhalten in Städten und sich dort recht wohl fühlen. Ich ahne, dass die Anonymität der Stadt es sowohl leichter macht, unterzutauchen, nicht aufzufallen oder ignoriert zu werden, als auch den Finger darauflegen zu können und eher Gehör zu finden, wenn man sich rassistisch belästigt fühlt. Andererseits bietet die Kleinräumigkeit, das Dorf, auch die Möglichkeit, sich akzeptiert und in einer kleinen Gemeinschaft geborgen zu fühlen. In einem Dorf weiss man: Der oder die ist eine oder einer von uns, und kann feststellen: die sind in ihrer Art und in manchen Ähnlichkeiten eher wie der weisse Elternteil oder die Grosseltern. Aber es brauchen nur dunkelhäutige Menschen von weiter her zu kommen. Asylbewerber gar, die einem vom Staat zugeteilt werden und die plötzlich in der Nähe der Weide spazieren gehen. Man lässt verlauten, dass man Angst habe um seine Kühe, und vergisst, dass die Flüchtlinge in erster Linie Menschen sind wie der Neffe und die Nichte, die Kinder des Schwagers, der aus Afrika stammt. Dass diese im Umkehrschluss ausserhalb der Gemeinschaft, in der sie bekannt sind, unter demselben Generalverdacht gegenüber Dunkelhäutigen zu leiden haben, darauf kommt man gar nicht erst.
In einem Kanton, der von Skepsis geprägt ist, in dem die Frage «Wessen bist du?» − die Frage also nach der Familienzugehörigkeit innerhalb der Region, innerhalb der Schweiz − noch durchaus geläufig ist, ist es naheliegend, dass Menschen anderer Hautfarbe automatisch für Auswärtige gehalten werden – und im aktuell fremdenfeindlicher werdenden Klima in der Schweiz auch mit den entsprechenden Reaktionen zu rechnen haben. Wobei anzumerken ist, dass die Art, Zugezogene aus anderen Kantonen, egal, wie lange sie an einem Ort wohnen, egal, welcher Hautfarbe sie sind, nie als wirklich Einheimische zu betrachten, ländlichen Gebieten und vor allem Dörfern gemeinsam ist.
Die grundsätzliche Situation bzw. die Haltung beider Seiten zum anti-schwarzen Rassismus in der Schweiz ist nicht einschneidend anders in einem kleineren Kanton. Die Vorteile der Kleinräumigkeit, die Vertrautheit, die einheimische Schwarze empfinden können, werden wieder aufgewogen mit dem fehlenden Schutz städtischer Anonymität, und dem Fehlen richtiger schwarzer Communities, die es in einigen Städten gibt. Gemeinsam bleibt allen Regionen, dass das Phänomen Rassismus, Anti-Schwarzer Rassismus gesamtgesellschaftlich auf der Ebene «Das ist nicht böse gemeint», «So etwas kommt halt vor», «Das ist menschlich, natürlich» bleiben und somit «unbewusst» gehalten werden muss.
« Le racisme n’existe pas » – pas même à Uri
(Kurzversion)
«Il razzismo non esiste» – neanche nel Canton Uri
(Kurzversion)