TANGRAM 43

«Hassreden sind eine ernsthafte Gefahr für die Demokratie»

Interview mit Françoise Tulkens, ehemalige Richterin und Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Autor

Das Interview führte Samuel Jordan

Françoise Tulkens war von 1998 bis 2012 Richterin, dann Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Während ihrer Amtszeit in Strassburg befasste sie sich unter anderem mit dem wachsenden Problem der Hassreden. Was ist eine Hassrede? Geht sie über die Meinungsäusserungsfreiheit hinaus? Kann rechtlich gegen die Hassrede vorgegangen werden? Welche Verantwortung haben dabei die Behörden? Interview mit der belgischen Richterin über ein Phänomen, das sich mit der Allgegenwärtigkeit des Internets stark verbreitet hat.

Françoise Tulkens, wann spricht man von einer Hassrede?

Eine Hassrede zeugt von einer inneren, tiefsitzenden Ablehnung und einer grundsätzlichen Intoleranz gegenüber der Unterschiedlichkeit, den Minderheiten und den Schwächsten in einer Gesellschaft. Wo sie in Erscheinung tritt, ist eines immer gleich: Die Hassrede richtet sich bewusst gegen eine Person oder eine Personengruppe aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit, des Geschlechts, der Behinderung, der sexuellen Orientierung, der Religion oder der politischen Überzeugung. Wer Hassreden verbreitet, will seine eigene Identität stärken und seinen Standpunkt festigen, indem er sich dem der anderen entgegensetzt. Hassreden sind wie die chinesische Wasserfolter. Sie destillieren das Gift Tropfen für Tropfen zu einem Kondensat aus Hass, das irgendwann in alle Richtungen explodiert. In der Europäischen Menschenrechtskonvention gibt es übrigens keine Definition der Hassrede. Vielleicht wäre es angesichts der Dringlichkeit der Lage an der Zeit, dies zu ändern.

Wer wird heute zur Zielscheibe von Hassreden?

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, würde ich sagen, die Frauen, Ausländerinnen und Ausländer, Flüchtlinge, Juden, Roma, Muslime, LGBTs und Homosexuelle. Je komplexer und vielfältiger die Gesellschaft wird, desto länger wird auch die Liste. Wer weiss, auf wen in zehn Jahren gezielt wird? Als Sündenböcke stehen 2019 der Islam und die Aufstachelung zum nationalen Hass – letzteres als Vorwurf gegen diejenigen, die nicht die dominierende Position der Regierung des Landes teilen – besonders im Fokus.

Was halten Sie in diesem Zusammenhang von Donald Trumps rassistischen Tweets gegen weibliche demokratische Abgeordnete mit Migrationshintergrund (im Juli 2019; Anm. der Redaktion)?

Diese Tweets sind unglaublich, schändlich. Sie greifen mehrere Ziele gleichzeitig an: Die Frauen, die Herkunft, die Religion und die Staatsbürgerschaft. Sie sind eine Aufstachelung zu Rassenhass und nationalem Hass. Meiner Meinung nach können diese Tweets angesichts der Tatsache, dass sie der Absender in seiner Funktion als Präsident gepostet hat, in die Kategorie der Hassrede eingeordnet werden. Allerdings muss man wissen, dass sich die Vereinigten Staaten zu einer nahezu absoluten Meinungsäusserungsfreiheit bekennen. In Europa würde mit solchen Tweets sicher anders umgegangen.

Sind Hassreden eine Gefahr für die Demokratie?

Ja, absolut. Weil sie Unterschiedlichkeit und Andersartigkeit verachten. Demokratie aber bedeutet zu akzeptieren, dass jede und jeder eine Meinung hat und sie äussern kann. Die freie Meinungsäusserung fördert die Debatte, während die Hassrede diese einschränkt und sich ihr verschliesst.

Hat die Hassrede eine politische Couleur?

Nationalistische und fremdenfeindliche Hassreden sind besonders beliebt bei den populistischen Parteien, die damit ihre Wählerbasis stärken wollen. Dann kommen bisweilen auch Verschwörungstheorien hinzu. Solche Kräfte höhlen das demokratische System aus, indem sie die Angst vor dem Fremden missbrauchen. Sie sind meiner Meinung nach zu gefährlich, um sie in den politischen Diskurs einzubinden. Generell ist Hassrede dann besonders schädlich, wenn ihre Urheber Personen des politischen und öffentlichen Lebens sind. Diese haben eine grössere Verantwortung, denn sie erreichen eine breite Öffentlichkeit und können diskriminierende Äusserungen leicht weiterverbreiten.

Sollten die Behörden handeln und Gesetze gegen Hasserden erlassen?

Hassreden sind in den europäischen Ländern zu einem grossen gesellschaftlichen Problem geworden. Die Staaten müssen ihre Verantwortung mehr denn je wahrnehmen und fest auftreten, indem sie den Sinn der gemeinsamen Kultur und der pluralistischen Demokratie vermitteln. Hassreden können nicht isoliert, sondern nur zusammen mit einer breiten Kritik von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Homophobie in der Gesellschaft angegangen werden. Nur wenn man die tiefen Wurzeln des Übels sucht, kann man es verhindern. Auch der Europäischen Union kommt hier eine grosse Bedeutung zu.

Hass ist ein Gefühl. Kann man gegen ein Gefühl wirklich kämpfen?

Was genau ist Hass? Wie kann man ihn von der Beschimpfung unterscheiden? Soll man ein Gefühl verbieten? Zur Beantwortung dieser Fragestellungen muss das Recht zusammen mit den Betrachtungen der Sozialwissenschaften, der Philosophie, der Geschichte oder der Anthropologie laufend überdacht und revidiert werden.

Wird die Hassrede in unserer Zeit banalisiert?

Ja, zweifellos. Man geht zum Teil davon aus, dass Wirtschaftskrisen und Armut zu mehr Hassreden führen. Der Hauptgrund für dieses Wiederaufkommen ist jedoch meiner Meinung nach viel mehr der identitäre Rückzug, der weltweit zu beobachten ist. Und bestimmend ist dabei das Internet, das zu einem gefährlichen Beschleuniger geworden ist. Das Internet ermöglicht die unbegrenzte Verbreitung und den Zugang zu diskriminierenden Äusserungen, nicht selten mit Schneeballeffekt, wobei die Worte im Lauf der Verbreitung immer grober und brutaler werden. Zudem gibt das Gefühl der Straflosigkeit verbunden mit der relativen Anonymität den Internetnutzenden eine Freiheit ohne Verantwortung und führt zu einer Freisetzung von rassistischen, fremdenfeindlichen, antisemitischen, homophoben und sexistischen Äusserungen... Die Wirkung auf die Jugendlichen, die ihre eigene Identität suchen, kann verheerend sein.

Gab es schon immer Hassreden?

Ja, gewiss. Aber man debattierte weniger darüber als heute. Am Anfang aller Völkermorde dieser Welt standen Hassreden.

Ist die Hassrede letztlich nicht die extremste Form der Meinungsäusserungsfreiheit?

Mir ist die Meinungsäusserungsfreiheit als Grundstein unserer Demokratien sehr wichtig. Sie wird heute auf die Probe gestellt und muss unantastbar bleiben. In diesem Sinne müssen Reden hingenommen werden, auch wenn sie «verletzen, schockieren und beunruhigen» – wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte immer wieder sagt – um zu vermeiden, dass diktatorischen und totalitären Regimen Tür und Tor geöffnet werden. Die Meinungsäusserungsfreiheit ermöglicht alle anderen Freiheiten, aber sie ist kein absolutes Recht. Man kann ihr genaue und klare Grenzen setzen, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten. Wenn Hassreden darauf zielen, direkt zu Gewalt, Mord oder Unterdrückung aufzurufen, kann man nicht mehr von Meinungsäusserungsfreiheit sprechen.

Kann die Hassrede rechtlich bekämpft werden?

Hassreden müssen durch das Recht bekämpft werden, das ist klar. Das Recht muss den Rahmen und die Grenzen der freien Meinungsäusserung setzen und von Fall zu Fall unter Berücksichtigung eines eindeutigen, unmittelbaren Gefahrenpotenzials entscheiden. Doch die Bekämpfung von Hassreden ist nicht nur Sache des Rechts, in der Verantwortung stehen auch Parlamentarier, Journalisten, Politikerinnen, Anwälte, Lehrerinnen, Akademiker und Bürger. Anstatt neue Gesetze zur Ergänzung der bestehenden Rechtsmittel zu erlassen – die meiner Meinung nach zumindest in Belgien genügen – müssen Hassreden in der politischen Debatte und Diskussion bekämpft werden. Es nützt nichts, zur Beruhigung des Gewissens neue Gesetze zu erlassen, die gar nicht umgesetzt werden können.

Wenn das Recht also keine Wunder verspricht, was ist dann zu tun?

Anstatt das Rechtssystem zu verschärfen und Verbote zu erlassen, sollte man besser argumentieren und die Hassrede deutlich missbilligen Verbote überzeugen mich immer weniger. Besser, man handelt auf zwei Ebenen: bei der Bildung und bei der Kultur. Das Wissen über die Vielfalt muss von Kindheit an stärker vermittelt werden, um eine Kultur der Solidarität aufzubauen. Vielfalt ist keine Bedrohung, sondern ein Reichtum. Wir sind alle verschieden, aber alle gleichberechtigt. Mit Gesetzen kann niemand überzeugt werden, dass diese Behauptung richtig ist. Im Übrigen könnte das Internet auch ein ausgezeichnetes Instrument zur Bekämpfung der Hassrede sein.

Welche Rolle spielte und spielt nach Ihrer Erfahrung diesbezüglich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte?

Er hat eine wichtige Vorreiterrolle gespielt und hat die Frage der Hassrede sehr ernst genommen. Davon zeugt Artikel 17 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der besagt, dass die Meinungsäusserungsfreiheit nicht so auszulegen ist, dass sie die in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten abschafft oder stärker einschränkt. Andererseits hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – in Anbetracht von Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der die Freiheit der Meinungsäusserung garantiert – viele Fälle von Hassreden behandelt. Die Rechtsprechung stützt sich heute auf seine Urteile.

Was riskiert gemäss Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte eine Person, die Hassreden verbreitet?

Der Europäische Gerichtshof ist kein Strafgericht. Er sanktioniert nicht Personen, sondern Staaten. Die Fälle betreffen stets ein Individuum gegen einen Staat. Die Urteile des Gerichtshofs befassen sich immer mit der zentralen Frage: Hat der betreffende Staat eine Bestimmung der Konvention verletzt? Ist dies der Fall, wird der Gerichtshof vom betreffenden Staat verlangen, die erforderlichen Massnahmen zu treffen oder seine Gesetzgebung anzupassen.