TANGRAM 43

Macht ein «Maulkorb» Bauchweh? Rassismus-Strafnorm und Meinungsäusserungsfreiheit

Autor

Prof. Dr. Gerhard Fiolka ist Professor für Internationales Strafrecht an der Universität Freiburg i. Fechtland.
gerhard.fiolka@unifr.ch

Die Strafbestimmung gegen Rassendiskriminierung, Artikel 261bis des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB), trat am 1. Januar 1995 in Kraft. Seither werden gelegentlich Bedenken geäussert, die Norm greife übermässig in die Meinungsäusserungsfreiheit ein und erweise sich gar als «Maulkorbartikel».

Im Oktober 2006 sorgte etwa der damalige Justizminister, Bundesrat Christoph Blocher (SVP), für einigen Wirbel, als er bei einem Besuch in der Türkei mit Blick auf die Beurteilung der Leugnung des Genozids an den Armeniern bekundete, die Norm bereite ihm «Bauchschmerzen».

Die Tatvariante der Leugnung von Genoziden, wie sie im zweiten Teil von Absatz 4 der Rassismus-Strafnorm beschrieben ist, führte im Oktober 2015 zu einer Verurteilung der Schweiz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wegen Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit gemäss Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Gegenstand des Verfahrens war die Verurteilung des türkischen Politikers Dogu Perinçek wegen Leugnung des Genozids an den Armeniern. Perinçek hatte bei Vorträgen in der Schweiz gesagt, die Massaker und Deportationen zum Nachteil der Armenier im osmanischen Reich nach 1915 seien gerechtfertigte Handlungen im Rahmen eines bewaffneten Konflikts gewesen, ihre Bezeichnung als Genozid stelle eine «internationale Lüge» dar.

Trotzdem hat das Parlament am 14. Dezember 2018 eine Änderung von Artikel 261bis StGB verabschiedet, wonach nicht nur Diskriminierungen und Herabwürdigungen wegen Rasse, Ethnie und Religion unter die Bestimmung fallen sollen, sondern auch solche aufgrund der sexuellen Orientierung. Gegen diese Änderung ist ein Referendum zustande gekommen. Im Argumentarium führt das Referendumskomitee aus, Artikel 261bis StGB sei seit seiner Einführung höchst umstritten: «Man muss klar festhalten: Die Rassismus-Strafnorm wird missbraucht, um unliebsame politische Gegner mundtot zu machen».

Als neuralgischer Punkt der Kritik erweist sich die Tatbestandsvariante der Leugnung von Genoziden. Generell konzentriert sich das Interesse von Praxis und Wissenschaft auf die Tatbestände von Absatz 4, wogegen eigentliche Aufrufe zu Hass oder Diskriminierung (Abs. 1), und tatsächliche Diskriminierungen (Abs. 5) weniger umstritten sind.

Das Mass zulässiger Einschränkungen

In einer freiheitlich-demokratisch organisierten Gesellschaft ist die Freiheit der Meinungsäusserung ein hohes Gut. So bestimmt Artikel 16 Absatz 2 der Bundesverfassung (BV): «Jede Person hat das Recht, ihre Meinung frei zu bilden und sie ungehindert zu äussern und zu verbreiten». Wie jedes andere Grundrecht auch kann die Meinungsäusserungsfreiheit indes nach Massgabe von Artikel 36 BV durch ein Gesetz eingeschränkt werden, soweit die Einschränkung durch ein öffentliches Interesse oder den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt und verhältnismässig ist.

Die Meinungsäusserungsfreiheit ist auch in Artikel 10 EMRK garantiert. Mögliche Einschränkungen sind umschrieben: «Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung». Meinungsäusserungsfreiheit ist mithin nicht die allumfassende Freiheit, Beliebiges zu sagen, sondern sie kann aufgrund übergeordneter Interessen eingeschränkt werden.

Ungleichmässige EGMR-Rechtsprechung

Hinsichtlich der zulässigen Eingriffe in die Meinungsäusserungsfreiheit erweist sich die Rechtsprechung des EGMR im Detail als ungleichmässig. Der Gerichtshof pflegt festzuhalten, dass die Meinungsäusserungsfreiheit nicht nur wohlwollend oder gleichgültig aufzunehmende Informationen und Auffassungen schütze, sondern auch solche, die beleidigen, schockieren oder stören. Er geht weiter davon aus, dass der Spielraum für Eingriffe bei Diskursen mit politischem Gehalt oder von öffentlichem Interesse verengt sei.

Demgegenüber gesteht er den Staaten einen breiten Beurteilungsspielraum bei Eingriffen zum Schutz moralischer oder religiöser Überzeugungen zu, da es keine diesbezügliche europaweit tragfähige Konzeption gebe. Dies führt dazu, dass im Ergebnis weitgehende Eingriffe zum Schutz der Moral oder religiöser Überzeugungen zulässig sind, während bei politisch relevanten Themen kaum eingeschränkt werden darf. So hat der EGMR strafrechtliche Verurteilungen wegen religionskritischen Äusserungen relativ weitgehend akzeptiert, so etwa unlängst eine Verurteilung wegen Aussagen, worin dem Propheten Mohammed (aufgrund seiner Ehe mit der im Zeitpunkt der Heirat sechsjährigen und im Zeitpunkt des ersten Geschlechtsverkehrs neunjährigen Aisha) pädophile Neigungen nachgesagt werden («hatte nun mal gerne mit Kindern ein bisschen was»). Der EGMR attestierte österreichischen Gerichten eine hinreichend sorgfältige Abwägung der Meinungsäusserungsfreiheit mit dem Schutz religiöser Gefühle und verneinte eine Verletzung von Artikel 10 EMRK.

Umgekehrt legte der EGMR bei der Beurteilung der Bestrafung Perinçeks nach Artikel 261bis Absatz 4 BV einen engen Beurteilungsspielraum zugrunde, da es sich um einen Diskurs von politischem bzw. öffentlichem Interesse handle. Nach Würdigung eines bunten Strausses an Umständen kam der EGMR zum Ergebnis, dass der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft nicht erforderlich gewesen sei. Aus diesem Entscheid ist in der Schweiz bislang zu Recht kein Bedürfnis nach Einschränkung der Rassismus-Strafnorm abgeleitet worden.

An der Unterscheidung des EGMR ist problematisch, dass sich die Kriterien für einen weiten bzw. engen Beurteilungsspielraum der Staaten bei der Sanktionierung von Meinungsäusserungen in aller Regel überschneiden, denn Religion und Moral sind regelmässig von eminent politischer Bedeutung. Sie enthalten normative Anforderungen, die in Konkurrenz zur Rechtsordnung stehen und deren Legitimation und Durchsetzung Gegenstand von Diskursen von politischem Gehalt und öffentlichem Interesse sind.

Auch andere Gesetze beschränken die Meinungsäusserungsfreiheit

Bisweilen wird Artikel 261bis StGB als Sonderfall dargestellt, der viel weiter in die Meinungsäusserungsfreiheit eingreift als andere Bestimmungen. Dabei geht vergessen, dass die schweizerische Rechtsordnung eine Vielzahl von Äusserungsdelikten kennt, bei denen Konturen und Legitimation möglicherweise auch nicht gerade jedem ins Auge springen:

Nach Artikel 261 StGB macht sich strafbar, wer «Wer öffentlich und in gemeiner Weise die Überzeugung anderer in Glaubenssachen, insbesondere den Glauben an Gott, beschimpft oder verspottet». Gestützt auf diese Bestimmung wurden in der Schweiz etwa Abbildungen einer nackten, gekreuzigten Frau mit gespreizten Beinen oder auch eines Cartoon-Schweinchens am Kreuz mit Strafen belegt.

Gemäss Bundesgesetz über den unlauteren Wettbewerb macht sich strafbar, wer «andere, ihre Waren, Werke, Leistungen, deren Preise oder ihre Geschäftsverhältnisse durch unrichtige, irreführende oder unnötig verletzende Äusserungen herabsetzt». Bestraft wurde gestützt auf diese Bestimmung jemand, der in einem Zeitungsartikel behauptete, Nähmaschinen der Marke Bernina seien «nähtechnisch im Rückstand».

Gewaltmonopol und Diskursklima

Wie weit der Staat in die Meinungsäusserungsfreiheit eingreifen darf, lässt sich nicht ein für alle Mal festlegen. Wer apodiktisch eine Freiheit beliebiger Äusserungen propagiert, verkennt, dass der Rückzug staatlicher Sanktionierungsmöglichkeiten von Äusserungen nicht zwingend ein Plus an freier Meinungsäusserung garantiert. Im Gegenteil können in erhitzten Diskursen an die Stelle staatlicher Sanktionierung gesellschaftliche Reaktionen vom «Shitstorm» über wirtschaftliche Nachteile bis hin zu gewalttätigen Demonstrationen treten.

Eine staatliche symbolische Reaktion auf Meinungsäusserungen erlaubt es, einerseits zu verdeutlichen, welche Äusserungen in einem demokratischen Rechtsstaat zulässig sind und welche nicht, sie stärkt aber auch das staatliche Gewaltmonopol, indem allfällige in der Gesellschaft vorhandene «Rachegelüste» marginalisiert werden können. Das staatliche Gewaltmonopol kann im Diskurs eine moderierende Funktion haben, die ein offenes Diskursklima überhaupt erst ermöglicht.