Martine Brunschwig Graf ist Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR
Die EKR widmet diese einzige Ausgabe des TANGRAM im Jahr 2019 der Meinungsäusserungsfreiheit im Kontext der Rassismusbekämpfung. Im Sinne dieser Freiheit haben wir hier auf die Vielfalt der Meinungen geachtet. Diese stimmen nicht zwingend mit denjenigen der EKR überein, entscheidend ist vielmehr, dass eine Debatte geführt wird.
Verantwortlich sein heisst für den Philosophen Fernando Savater, «sich wirklich frei zu wissen für das Gute und das Schlechte, und die Konsequenzen seines Handelns zu tragen (...)». Was für alle Formen der Freiheit gilt, gilt auch für die Meinungsäusserungsfreiheit.
In der Bundesverfassung sind unsere Grundrechte und unsere Freiheiten verankert. Der erste Artikel des Kapitels über die Grundrechte – Artikel 7 – hält gleichzeitig fest, dass die Würde des Menschen zu achten und zu schützen ist. In Artikel 8 sind das Recht auf Gleichstellung und der Schutz vor Diskriminierung verankert. Laut Verfassung verfügen wir alle über individuelle Rechte und Freiheiten, die wir in unserer Gesellschaft unter der Achtung unserer Mitmenschen ausüben dürfen.
Wir üben unsere individuellen Rechte in einer gleichberechtigten Gesellschaft aus. Somit sind wir auch zur Achtung der Rechte unserer Mitmenschen verpflichtet. Dies bedingt, dass wir bereit sind, die Folgen unseres Handelns zu tragen. Und hier kommt die Rassismus-Strafnorm ins Spiel. Niemand darf das Gesetz missachten. Wer es übertritt, muss die Folgen gewärtigen. Dies ist der Preis für jede unserer Freiheiten, auch für die Meinungsäusserungsfreiheit.
Es gibt Stimmen, die behaupten, die Schweizer Strafnorm gegen Rassismus sei kein gutes Instrument zur Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung. Besser wäre aus deren Sicht eine nahezu absolute Freiheit, wie sie der erste Zusatzartikel der Verfassung der USA gewährleistet. Doch 25 Jahre nach Einführung der Rassismusstrafnorm kann man sagen, dass der Gesetzesartikel mit extremer Zurückhaltung angewendet wurde. Die Meinungsfreiheit war in den Verhandlungen und Entscheiden der Gerichte auf allen Ebenen stets ein gewichtiges Element, auch am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Eine Strafbestimmung verhindert keine Verbrechen, aber sie zeigt die Grenzen auf, die der Staat setzt, um die Einhaltung aller Grundrechte zu garantieren, ohne dass ein Recht auf Kosten eines anderen ausgeübt wird. Völlig anders sieht man dies in den USA: Dort soll die demokratische Debatte durch eine Konfrontation aller Meinungen – auch der abscheulichsten – zum Ausdruck kommen. Die Demokratie soll demnach dazu beitragen, verbalen und physischen Rassismus sowie Aufruf zu Hass zu vereiteln. Die Realität sieht aber anders aus: Was derzeit in den USA passiert, trägt nicht dazu bei, uns von diesem Ansatz zu überzeugen.
Sollen wir reagieren, auf die Gefahr hin, die Resonanz von Hassbotschaften noch zu vergrössern? Oder sollen wir schweigen und damit in Kauf nehmen, zu ohnmächtigen Komplizen zu werden? Diese Fragen stellen sich allen, die sich in den sozialen Netzwerken bewegen, immer wieder. Ich meine hier nicht Texte und Bilder, die klar rassistisch oder persönlichkeitsverletzend sind: Dagegen kann rechtlich vorgegangen werden. Ich beziehe mich vielmehr auf all die Äusserungen, die bewusst so formuliert sind, dass sie sich jeder strafrechtlichen Verfolgung entziehen, aber trotzdem die Würde von Einzelnen oder Gruppen verletzen.
Unsere Aufgabe besteht darin, klar zu machen, dass nicht zwingend einverstanden ist, wer zu abstossenden und diskriminierenden Äusserungen schweigt. Über die gesetzlichen Instrumente hinaus braucht es Wege, damit auch jene gehört werden, für welche die Meinungsäusserungsfreiheit auch bedeutet, die Menschenwürde zu achten.