Autor
Nenad Stojanović ist Mitglied der EKR und SNF-Professor für Politikwissenschaft an der Universität Genf. In diesem Artikel äussert er seine persönliche Meinung.
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Wer hat Angst vor der direkten Demokratie? Nach meiner Erfahrung haben ausserhalb der Schweiz viele Menschen Angst vor dieser Vorstellung: Journalistinnen und Journalisten, Politiker, Akademikerinnen, Unternehmer. Eigentlich der eher elitärere Teil der Gesellschaft. Die «normalen» Bürgerinnen und Bürger stehen der Idee viel positiver gegenüber. So zeigen beispielsweise die Ergebnisse einer grossen europäischen Umfrage von 2012, dass der Anteil der Befürworterinnen und Befürworter der direkten Demokratie zwischen 79 Prozent in den Niederlanden und 92 Prozent in der Schweiz liegt. Doch zwischen 2000 und 2012 konnten die meisten europäischen Bürgerinnen und Bürger auf nationaler Ebene höchstens über eine Vorlage abstimmen. In der Schweiz gab es in diesem Zeitraum 57 Vorlagen, gefolgt von Italien und Slowenien (16), Irland (14), der Slowakei und Island (8). In vier Ländern (Belgien, Deutschland, Norwegen, Portugal) gab es gar keine nationalen Abstimmungen.
Wenn man sagt, dass man für die direkte Demokratie ist, wie sie in der Schweiz praktiziert wird, wird einem gleich das Argument serviert, Volksabstimmungen seien für Minderheiten gefährlich. Dies zeige das Minarettverbot, das 2009 mit 57 Prozent der Stimmen angenommen wurde.
Es handelt sich dabei aber um einen Wahrnehmungsfehler, einen typischen Fall von Verfügbarkeitsheuristik (availability heuristics): Um zu beurteilen, ob etwas gut oder schlecht ist, wird das erstbeste Beispiel genommen, das einem in den Sinn kommt, um daraus eine allgemeine Regel abzuleiten. Wenn beispielsweise ein Flugzeug abstürzt und Dutzende Menschen ums Leben kommen, sprechen alle Medien darüber und die Leute glauben dann, Fliegen sei gefährlicher als Autofahren, obwohl alle Statistiken das Gegenteil belegen.
Das Gleiche gilt für die direkte Demokratie: Überall auf der Welt weiss man wohl, dass sich eine Mehrheit des Schweizer Stimmvolks gegen Minarette ausgesprochen hat, weil alle internationalen Medien über diese Abstimmung berichtet haben. Aber kaum irgendwo kennt man die vielen anderen Themen, über die die Schweizerinnen und Schweizer in den vergangenen Jahren auch noch abgestimmt haben.
Das heisst nicht, dass die direkte Demokratie nicht gewisse Populismen begünstigen und ein Risiko für Minderheiten darstellen könnte. Tatsächlich richtete sich die erste in der Schweiz lancierte und im August 1893 von 60 Prozent der Stimmbürger angenommene Volksinitiative bereits gegen eine religiöse Minderheit: Es ging dabei um das Verbot des rituellen Schlachtens ohne vorherige Betäubung (Schächtverbot), was damals klar antisemitistisch konnotiert war.
Wenn solche Volksinitiativen lanciert werden, bildet sich in der Öffentlichkeit ein günstiges Klima für den Ausdruck bestimmter Vorurteile. In den Abstimmungskampagnen treten plötzlich Leute auf, die sich legitimiert fühlen, die Meinungsäusserungsfreiheit dazu zu nutzen, Minderheiten (z. B. Juden oder Muslime) anzugreifen.
Doch es wäre vorschnell zu behaupten, die direkte Demokratie sei zwingend ein Instrument, das die Rechte der Minderheiten verletzt. In der Schweiz haben beispielsweise die sprachlichen Minderheiten nie unter der direkten Demokratie gelitten. Hingegen kann man den kritischen Stimmen entgegenhalten, dass es in repräsentativen Demokratien, in denen fast alle Entscheidungen von Regierungen und Parlamenten ohne (oder nur sehr selten mit) Beteiligung der Bevölkerung getroffen werden, nicht wirklich besser läuft. Das deutlichste Beispiel ist Frankreich, wo eine ausserordentlich grosse sprachliche Vielfalt stark gelitten hat durch die von oben angeordnete Verwendung des Pariser Idioms als einzige Amtssprache. Es ist kein Zufall, dass Frankreich die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen von 1992 noch nicht ratifiziert hat.
Was die religiösen Minderheiten betrifft, so ist es durchaus möglich, dass die Schweizer Bevölkerung in naher Zukunft die Volksinitiative zum Verbot der Burka annehmen wird, die auf kantonaler Ebene bereits von zwei Dritteln der Stimmberechtigten im Tessin (2013) und in St. Gallen (2018) angenommen wurde. Vergleichbare Entscheide wurden aber auch von den Parlamenten in Österreich, Belgien und Frankreich getroffen, und zwar ohne Volksabstimmungen.
Wenn das Resultat also gleich oder ähnlich ist, müssen wir uns fragen, welchen Unterschied es macht, ob Bürgerinnen und Bürger oder Regierungen und Parlamente Entscheide treffen. Ein wichtiger Unterschied besteht sicher darin, dass die Stimmberechtigten in Volksabstimmungen ihre Frustrationen direkt zum Ausdruck bringen können, ohne in der Öffentlichkeit zu protestieren oder gar zu Gewalt gegen Minderheiten zu greifen. Kurz, die direkte Demokratie kann auch als eine Art Ventil betrachtet werden. Denn in gewisser Hinsicht ist es vielleicht besser, wenn die Meinungsäusserungsfreiheit im Rahmen einer Abstimmungskampagne genutzt oder auch ausgenutzt wird, als in Bereichen, die sich der demokratischen Kontrolle entziehen.
Diese Ventilfunktion der direkten Demokratie wurde von verschiedenen Schweizer Forschenden beobachtet. Marc Bühlmann von der Universität Bern hält beispielsweise fest, dass eine anti-islamische Bewegung wie Pegida in Deutschland, mit ihren gefährlichen extremistischen Splittergruppen, in der Schweiz dank der Strukturen der direkten Demokratie nicht Fuss fassen konnte.
Auch Luzius Mader, ehemaliger stellvertretender Direktor des Bundesamtes für Justiz, ist der Auffassung, dass eine Volksinitiative wie diejenige zum Verbot der Minarette zwar bedauerlich sei, aber möglicherweise auch dazu beigetragen habe, «dass gesellschaftliche Entwicklungen vermieden werden können, die viel gravierender wären als einige unschöne oder sogar völkerrechtswidrige Verfassungsbestimmungen».
Es ist also keineswegs nachweisbar, dass direkte Demokratie bedeutet, Missbräuche der Meinungsäusserungsfreiheit zu legitimieren oder populistische Bewegungen zu fördern. Möglicherweise irren sich die Populisten, wenn sie in ihren Ländern mehr Abstimmungen fordern und meinen, dies sei zu ihrem Vorteil.
Interessanterweise fordern alle rechtspopulistischen und rechtsradikalen Parteien mehr direkte Demokratie. 2014 haben Parteien wie die UKIP in Grossbritannien, die Schwedendemokraten und die Alternative für Deutschland (AfD) sogar eine Plattform mit dem Namen «Allianz für direkte Demokratie in Europa» gegründet.
Es lässt sich nicht bestreiten, dass die direkte Demokratie problematische Auswirkungen haben kann. Wie gesagt, gilt dies aber auch für die repräsentative Demokratie. Die Begründer der amerikanischen Demokratie haben in ihrem demokratischen System nicht umsonst Überprüfung und Ausgleich (checks and balances) vorgesehen. In den heutigen Demokratien sind im Allgemeinen die Gerichte für die Verteidigung der Grund- und Verfassungsrechte und somit auch für die Verteidigung der Minderheiten gegen eine mögliche Tyrannei der demokratischen Mehrheit zuständig.
In der gleichen Logik muss und kann auch ein politisches System, das Institutionen der repräsentativen Demokratie mit solchen der direkten Demokratie ergänzt, seine Schutzmechanismen finden. Mit anderen Worten: Wir brauchen Garantien gegen den Machtmissbrauch. Wie sieht aber eine direkte Demokratie aus, die sich der Gefahr des Populismus widersetzen kann? Es gibt viele Optionen. Ich möchte an dieser Stelle kurz vier verschiedene Formen vorstellen.
Erstens sollten Volksabstimmungen so organisiert sein, dass sie von unten und nicht von oben ausgehen. Um eine Abstimmung durchzuführen, muss also eine bestimmte Anzahl Unterschriften gesammelt werden, die politischen und institutionellen Eliten (Präsident/Präsidentin, Parlament) können nicht nach Belieben Abstimmungen durchführen. Es muss verhindert werden, dass ein populistischer Leader, der durch reguläre Wahlen an die Macht gekommen ist, die direkte Demokratie für Plebiszite nutzen kann. Jüngste Beispiele sind die von Viktor Orbán durchgeführte Abstimmung über die Aufnahme von Flüchtlingen in Ungarn (Oktober 2016) oder Recep Tayyip Erdoğans Abstimmung zur Einführung der Präsidialrepublik in der Türkei (April 2017).
Zweitens muss die Finanzierung transparent sein und es braucht Obergrenzen, um den Missbrauch der direkten Demokratie durch besonders vermögende Populisten zu verhindern.
Drittens kann eine Prüfung der Verfassungsmässigkeit eingeführt werden, um sicherzustellen, dass eine Volksinitiative keine Grund- oder Minderheitenrechte verletzt. In der Schweiz können Vorlagen, die zwingendes Völkerrecht (ius cogens) missachten, nicht zur Abstimmung gelangen. Schwieriger zu entscheiden ist allerdings, welches Organ dafür zuständig ist. In der Schweiz ist es das Parlament, und nicht alle halten dies für eine gute Lösung.
Viertes sollten zur Gewährleistung von mehr Garantien für die Minderheiten mehrfache Mehrheiten oder Untergrenzen für eine Zustimmung eingeführt werden (eine Art Austritts- anstelle eines Eintrittsquorums). Konzentrieren sich die Minderheiten auf bestimmte geografische Gebiete, kann verlangt werden, dass für die Annahme einer Vorlage nicht nur eine nationale Mehrheit, sondern auch eine Mindestzustimmung (zum Beispiel von 25%) in einzelnen Regionen erforderlich ist. In der Schweiz gibt es bereits etwas Derartiges: Bei Abstimmungen, die eine Verfassungsänderung betreffen, braucht es eine Mehrheit von Volk und Ständen.
Direkte Demokratie kann Populismus und den Missbrauch der Meinungsäusserungsfreiheit gegen bestimmte Minderheiten begünstigen. Wie wir aber aufzuzeigen versuchten, muss dies nicht der Fall sein. Vieles hängt davon ab, welches Modell der direkten Demokratie zur Anwendung kommt.