Autorin
Vera Leimgruber hat einen Master in Rechtswissenschaften und arbeitete 2018/19 als juristische Praktikantin bei der EKR.
veraelena@gmx.net
Wird in der Öffentlichkeit Kritik laut an der Rassismusstrafnorm, wird dies meist mit der Meinungsäusserungsfreiheit begründet. Die Gegner sprechen gar von einem «Maulkorbartikel». Doch was schützt Artikel 261bis des Strafgesetzbuches eigentlich, und steht die Norm tatsächlich im Gegensatz zur Meinungsäusserungsfreiheit?
Das Rechtsgut, das durch die Rassismusstrafnorm geschützt wird, ist die Menschenwürde. Sie steht im Schweizer Grundrechtskatalog an erster Stelle, ist oberstes Konstitutionsprinzip des Staates und der Zielwert, an dem sich die Rechtsordnung ausrichtet. Ein weiteres Grundrecht ist die Meinungsäusserungsfreiheit, sie bildet einen wichtigen Pfeiler der Demokratie. Sie garantiert, dass auch Standpunkte vertreten werden dürfen, die der Mehrheit missfallen und bisweilen gar schockieren. Grundrechte gelten nicht absolut, sie können nach Massgabe von Artikel 36 der Bundesverfassung eingeschränkt werden. Nur ihr Kerngehalt bleibt unantastbar. Grundsätzlich wird bei einem Konflikt, in dem sich zwei Grundrechte gegenüberstehen, von der rechtsprechenden Behörde eine Güterabwägung vorgenommen, um zu entscheiden, welches Recht im konkreten Fall stärker zu gewichten ist. Oftmals handelt es sich dabei um eine Gratwanderung.
Auch bei der Beurteilung von Handlungen, die gegen die Rassismusstrafnorm verstossen, nehmen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte oftmals eine Güterabwägung zwischen den geschützten Rechtsgütern von Artikel 261bis StGB und der Meinungsäusserungsfreiheit vor, oder gehen zumindest davon aus, dass Artikel 261bis StGB im Lichte der Meinungsäusserungsfreiheit auszulegen sei. Dabei kamen sie wiederholt zum Schluss, dass nur krasse, geradezu menschenverachtende und verabscheuungswürdige Äusserungen und Formen der Diskriminierung unter die Strafbestimmung fallen. Besonders bei politischen Diskursen müsse der Meinungsäusserungsfreiheit ein hoher Stellenwert eingeräumt werden und ein Verstoss gegen die Rassismusstrafnorm sei nicht leichthin zu bejahen, da in einer Demokratie auch Kritik an einer bestimmten Bevölkerungsgruppe erlaubt sein müsse. Solche dürfe auch übertrieben formuliert werden, solange sie insgesamt sachlich bleibe und sich auf objektive Gründe stütze. Wichtig ist aber, «dass das Anliegen der Bekämpfung der Rassendiskriminierung nicht seiner Substanz beraubt wird», wie das Bundesgericht festhielt (BGE 131 IV 23 E. 3.1).
Im Folgenden werden einige Fälle aufgezeigt, in denen die Meinungsäusserungsfreiheit bei der Entscheidungsfindung eine wichtige Rolle spielte.
• Auf dem besonderen Gewicht des Rechts auf freie Meinungsäusserung in politischen Auseinandersetzungen beharrte das Bundegericht, als es 2004 eine Verurteilung wegen Rassendiskriminierung aufhob und an die Vorinstanz zurückwies, da im Urteil der Meinungsäusserungsfreiheit zu wenig Beachtung geschenkt worden sei (BGE 131 IV 23). Es ging um eine Medienmitteilung auf der Webseite einer Partei, die kosovarische Flüchtlinge als übermässig gewaltbereite und kriminelle Personen bezeichnete und ihre sofortige Rückschaffung forderte.
• 2015 hatte ein Regionalgericht über den auf Facebook geposteten Kommentar: «mir kommt gleich das kotzen…wann wird diese religion endlich ausgerottet?!?» und ein ebenfalls auf Facebook gepostetes Bild mit der Überschrift «Weisheit des Tages: ‘Hast du Allah in der Birne, ist kein Platz mehr für’s Gehirne.’» zu urteilen. Der Beschuldigte berief sich in Zusammenhang mit dem Bild auf die Meinungsäusserungsfreiheit und meinte, es habe sich um eine Karikatur bzw. um Satire gehandelt. Die erste Instanz erinnerte daran, dass die Meinungsäusserungsfreiheit nicht absolut gelte und nicht jede ehrverletzende oder rassendiskriminierende Äusserung zu rechtfertigen vermöge. Dem Text hafte nichts Humoristisches an. Von einer der Meinungsäusserungsfreiheit unterliegenden Karikatur bzw. Satire könne deshalb nicht gesprochen werden. Das Gericht hat in diesem Fall die Meinungsäusserungsfreiheit in seine Erwägungen miteibezogen, diese aber im Gesamtkontext als weniger wichtig beurteilt.
• Eine Relativierung der Abwägung zwischen Rassendiskriminierung und Meinungsäusserungsfreiheit nahm 2017 das Bundesgericht vor, als es die Verurteilung von zwei Politikern wegen eines Inserates mit dem Titel «Kosovaren schlitzen Schweizer auf» bestätigte. Das Bundesgericht war der Ansicht, dass diese Aussage ein unsachliches Pauschalurteil sei, welches Menschen mit kosovarischen Wurzeln als überdurchschnittlich kriminell darstelle und ihnen das Recht auf einen Aufenthalt in der Schweiz abspreche (BGE 6B_610/2016, E.3.3.3). Das Berner Obergericht hatte 2016 in seinem ausführlichen Urteil der ersten Instanz beigepflichtet, in dem diese die Menschenwürde als «oberstes Konstitutionsprinzip des Staates» bekräftigte, womit sie ein «Zielwert, an dem sich die gesamte Rechtsordnung auszurichten hat», sei. Der Kerngehalt der Grundrechte könne nicht eingeschränkt werden, weshalb es zwischen Rassendiskriminierung und Meinungsäusserungsfreiheit gar nicht zu einem Grundrechtskonflikt kommen könne, weil die Menschenwürde Vorbedingung und Wurzel der einzelnen Grundrechte darstelle. Damit folgte das Obergericht der Auffassung von Strafrechtsprofessor Marcel A. Niggli, der einen Konflikt prinzipiell verneint. Dennoch betonte das Obergericht danach, dass bei der Auslegung von Artikel 261bis Absatz 4 StGB der Meinungsäusserungsfreiheit Rechnung zu tragen sei, besonders in politischen Diskursen.
Folgt man nun der Ansicht, dass die Menschenwürde den Kern aller Grundrechte ausmacht und ihre Verletzung schwerer wiegt als alles andere, hiesse das, dass man sie nicht gegen andere Rechte abwägen kann. Demnach wäre ein Grundrechtskonflikt zwischen Menschenwürde und Meinungsäusserungsfreiheit gar nicht möglich. Wie bereits erwähnt, ist das Schutzobjekt von Artikel 261bis StGB die Menschenwürde. In Absatz 4 ist die Herabsetzung der Menschwürde explizit als objektives Tatbestandsmerkmal und somit als Voraussetzung für die Strafbarkeit definiert. Wird die Menschenwürde nicht verletzt, folgt demnach auch keine Strafbarkeit nach Artikel 261bis StGB. Demnach kann die Meinungsäusserungsfreiheit auch nie ein Recht auf rassistische Äusserungen im Sinne von Artikel 261bis StGB beinhalten.
Bei rassistischen Äusserungen sollte vielmehr lediglich beurteilt werden, ob eine Herabsetzung der Menschenwürde vorliegt. Liegt keine Herabsetzung der Menschenwürde vor, ist der Tatbestand nicht erfüllt. Unerheblich ist zudem, ob es sich um Aussagen in einem politischen Diskurs handelt oder nicht. Äusserungen, die Menschen ihre Würde absprechen, können in keinem Fall durch die Meinungsäusserungsfreiheit geschützt sein.
In einer Mehrzahl der Strafbefehle und Urteile wird hingegen Abwägung vorgenommen, ob die Meinungsäusserungsfreiheit tangiert sei, da die Aussagen so offensichtlich die Menschenwürde herabsetzen. Etwa wenn jemand ein Video auf YouTube stellt, in dem eine Maschine erklärt wird, mit der täglich 3000 «Neger» gehackt werden können. Gleich eindeutig waren für die zuständigen Strafverfolgungsbehörden die Facebook-Kommentare «… Leider hat unser lieber Hitler viel zu wenig von euch erwischt! Ich sags noch einmal – vernichtet Israel und es herrscht Weltfrieden», «Ich könnte alle Juden töten, aber ich habe einige am Leben gelassen, um Euch zu zeigen, wieso ich sie getötet habe – Adolf Hitler –», und «Vergase die hünd!». Auch beim Post «Schade ist nicht einer da wie Hitler, wo dieses Gesindel in die Gaskammer schickt. Oder sind die Kammern noch nicht betriebsbereit?» über muslimische Asylsuchende ist die Strafbarkeit ebenfalls offensichtlich.
Ein Post, der unter anderem folgende Passagen enthielt, führte ebenfalls zur Verurteilung des Autors: «Ihr sind alles dräcks moslem pack göhnnt hei ich euches dräcks land… Euch söt mehr ne d grinder abhacke und benutze zum drii schiesse dasser wehnigstends öppis ich euches hirn bechömmed huerre dräcks moslempack… schlöhnnt euch zu krüppel ihr sind es primitivs huerre dräcks volk». In einem Aufbegehren gegen ein geplantes Asylzentrum schrieb jemand man solle «Negere u detigs pack abschiesse» und ein anderer bezeichnete Muslime und Menschen mit -ić Namen als «parasitäre läbens forme».
Oftmals geht in der Öffentlichkeit vergessen, dass die meisten Fälle zu Artikel 261bis StGB solch klare Aussagen betreffen und keine Grenzfälle sind. Bei solchen Aussagen ist eindeutig, dass sie nichts Schützenswertes beinhalten und auch in politischen Diskursen – oder erst recht in politischen Diskursen – nichts verloren haben.
Es sind meist die Grenzfälle, in denen die Meinungsäusserungsfreiheit vermeintlich eingeschränkt wird, die in der Öffentlichkeit am meisten Gehör finden und auch zu Kritik an der Strafnorm führen. Doch bei diesen handelt es sich in der Regel um Fälle im Grenzbereich zur Frage, ob eine Herabsetzung der Menschenwürde gegeben ist oder nicht.
Wird die Menschenwürde verletzt, braucht es nach der hier dargestellten Auffassung in keinem Fall eine Abwägung mit der Meinungsäusserungsfreiheit. Allerdings ist es auch eine Frage gesellschaftlicher Sensibilitäten und politischer Machtstrukturen, in welchen Fällen die Menschenwürde als verletzt angesehen wird und in welchen nicht. Dabei spielt der Gesamtkontext eine wichtige Rolle. Deshalb muss gerade bei Aussagen, die nicht absolut eindeutig menschenverachtend sind, umso sorgfältiger abgeklärt und begründet werden, ob und warum eine Verletzung der Menschenwürde vorliegt oder nicht.
Bibliografie:
Niggli, Marcel A, Rassendiskriminierung, 2. Auflage, 2007, Zürich.
Die im Text beschriebenen Urteile sind in der Sammlung der Rechtsfälle auf der Webseite der EKR unter folgenden Nummern zu finden: 2003-030, 2015-047, 2016-018, 2017-003, 2015-026, 2015-056, 2016-006, 2014-015, 2014-017. https://www.ekr.admin.ch/home/d518.html.