Autorin
Myret Zaki ist Westschweizer Wirtschaftsjournalistin. Von 2014-2019 war sie Chefredakteurin der Zeitschrift «Bilan», wo dieser Meinungsbeitrag 2018 erstmals erschienen ist.
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Nach Vorfällen der jüngsten Vergangenheit sind Zweifel angebracht: Darf man noch eine Meinung haben und diese ungehindert öffentlich kundtun? Gemäss Artikel 19 der Erklärung der Menschenrechte hat «jeder Mensch das Recht auf freie Meinungsäusserung; dieses Recht umfasst die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhangen (...). » Dieses Prinzip, das auch beinhaltet, abweichende Haltungen im Rahmen gesetzlicher Schranken gelten zu lassen, seien sie noch so radikal oder nebensächlich, ist eine der Säulen unserer Demokratien. In der westlichen Welt kam es nie in Frage, Haltungen, Vereine und Parteien zu verbieten oder Andersdenke zu sanktionieren oder gar zu verbannen.
Trotzdem – und das sollte uns alarmieren – geraten immer mehr Menschen wegen ihrer Meinung in Bedrängnis. Sie verlieren Stelle und Ansehen, wenn sie vom Mehrheits-Diskurs abweichen, ohne dass sie von der Justiz verurteilt worden wären. Wortmeldungen, insbesondere in den sozialen Medien, setzen die Abweichler einem Sturm aus – gefolgt vom Druck des Arbeitgebers, dem Verlust von Stelle und Ansehen und einer Art Verbannung. Ein «Parallelgericht» amtet nach seinen eigenen Gesetzen, denjenigen des medialen Drucks.
Nun ist die Meinungsäusserungsfreiheit aber offensichtlich nicht dazu da, konsensfähige Haltungen, die niemanden stören, zu schützen. Sie ruft eben gerade dazu auf, die freie Äusserung von Ansichten zu tolerieren, die eine Polemik auslösen können. Gemäss der Plattform humanrights.ch deckt die Meinungsäusserungsfreiheit «durchaus auch unanständige oder sogar beleidigende Reden ab, die zwar die Ehre der Betroffenen verletzen können, aber (noch) nicht unter die Definition der Hassrede fallen».
In der letzten Zeit gab es einige Vorfälle, die uns zu denken geben sollten. Zum Beispiel der Fall des Leichtathleten Pascal Mancini: So ist es offenbar nicht möglich, ein Schweizer Sportler zu sein und privat eine nationalistische Gesinnung zu haben. Man darf auch nicht, wie der Filmemacher Fernand Melgar, eine kritische Meinung zum Strassendeal in Lausanne äussern, wenn man an der Hochschule für Kunst und Design unterrichtet. Man sollte nicht, wie der Informatik-Ingenieur James Damore, bei Google arbeiten und die Firmenpolitik der Frauenquoten in Frage stellen. In all diesen Fällen ist nichts Illegales im Sinne des geltenden Rechtes vorgefallen. Die Betroffenen verloren ihren Ruf und ihre Funktion, ohne eine Gesetzesübertretung begangen zu haben. Ihnen war aufgrund des medialen Drucks der «Prozess» gemacht worden.
Es regieren Vorurteile und Gerüchte. Juristen reiben sich die Augen, wie überhaupt alle, die Freiheit und Grundrechte verteidigen. Die sich häufenden Fälle kommen einer Zensur-Epidemie gleich. Die Meinungsäusserungsfreiheit ist auch in der Schweiz klar bedroht. Der Fussballer Xherdan Shaqiri etwa, der sich zu Albanien bekannte, während er für die Schweizer Nationalmannschaft spielte, entging wegen seiner Doppeladler-Geste nur haarscharf einer Suspendierung durch die FIFA. In all diesen Fällen wurde ein Exempel statuiert, das eine abschreckende Wirkung entfaltet.
Die Affäre rund um den Leichtathleten Pascal Mancini steht sinnbildlich für diese Entwicklung. Im Juli 2018 prangerte der «SonntagsBlick» mutmasslich rechtsextreme Sympathien des Läufers an. Die Zeitung bezog sich dabei auf ein Foto, auf dem Mancini an der Seite des Gründers der Plattform Suavelos zu sehen ist, die sich für ein «Erwachen des Westens und der Gemeinschaft der Weissen» einsetzt. Zweifellos eine extreme Ideologie. Aber in einem demokratischen Land ist es nicht verboten, sich für verschiedene Denkströmungen zu interessieren und dies auf seinem privaten Facebook-Profil kundzutun. Und sollte dies verboten sein, dann muss dies gesetzlich geregelt werden. Dabei soll klar werden, was unter Meinungsäusserungsfreiheit zu verstehen ist und ob diese weiterhin gilt.
Die Folgen im Falle Mancini zeigen, dass ein Schweizer Athlet keine polemischen Meinungen äussern darf. Der Zeitungsartikel zeichnet ein vernichtendes Porträt des Läufers. Ein Tag später ist dessen Ruf ruiniert – ohne Untersuchung oder Anhörung der Betroffenen. Kann eine Zeitung die Reputation eines Sportlers aufgrund von Vermutungen in Windeseile zerstören? Der Artikel erwähnt nicht, dass die vom Sprinter geteilten Meinungen eher auf kommunistischen Ideen basieren (was ebenfalls erlaubt ist), und dass er sogenannt radikale Ideologien erforscht. Der Journalist nimmt zudem ein von Mancini gepostetes Video einer Affenhorde ins Visier und wirft dem Läufer vor, damit auf die schwarzen Fussballer der französischen Nationalmannschaft anzuspielen. Mancini schien jedoch eher die Randalierer denunzieren zu wollen, die nach dem WM-Finale getobt haben. Aber das Video befeuert zweifellos die schlimmsten Befürchtungen: Der Athlet postete es ohne Kommentare und verzichtete sowohl darauf, seine Beweggründe zu erwähnen und Leser-Kommentare mit rassistischer Konnotation zu löschen. Im weiteren hatte er Zitate publiziert, die inhaltlich nichts Belastendes enthalten, aber einem Nazi-Doktrinär zugeschrieben werden. In der Summe ergibt dies tatsächlich viele Fehler, Provokationen und Leichtsinn. Aber die Konsequenzen sind rigoros: Ohne Prüfung der Fakten durch eine zuständige Stelle und ohne Feststellung illegaler Handlungen gemäss der Rassismusstrafnorm sieht sich Pascal Mancini mit dem Entzug der Lizenz von Swiss Athletics konfrontiert. Nach mehreren und kostspieligen Rekursen darf er ab September 2019, faktisch erst im Jahre 2020, wieder Wettkämpfe bestreiten. Seine Facebook-Konten hat er geschlossen.
Sorgen um das Image, Druck von Sponsoren, das Toben in den sozialen Medien: die destruktive Spirale der Zerstörung von Ruf und Karriere läuft nicht mehr über juristische Instanzen. Gewiss können Chartas und Reglemente von Organisationen und Unternehmen die Angestellten zum Respekt von Werten wie Gleichheit und Diversität verpflichten. Bei der Ausübung einer Funktion wird mustergültiges Verhalten erwartet. Aber können diese Reglemente die Meinungsäusserungsfreiheit auch im privaten Bereich einschränken? Muss man aufhören, seine Überzeugungen kundzutun, um irgendwo arbeiten zu dürfen? Kann die Charta eines Verbandes oder eines Unternehmens in die Freiheitsrechte der Verfassung eingreifen? Enthalten die Chartas bald eine explizit ideologische Komponente, die einen zu gewissen politischen Haltungen zwingen?
All diese Fragen sollten vertieft debattiert werden, wenn man verhindern will, dass Unternehmen und Sportverbände zu antidemokratischen Orten werden inmitten einer Gesellschaft, die sich selber als Demokratie versteht. Massgebend sein sollten die Prinzipien der Bundesverfassung: «Niemand darf diskriminiert werden wegen der politischen Überzeugung» und «jede Person hat das Recht, ihre Religion und ihre weltanschauliche Überzeugung frei zu wählen». Selbstverständlich sind weder Hassreden noch jede Form der Rassendiskriminierung durch die Meinungsäusserungsfreiheit geschützt. Aber in diesem Fall muss ein Gericht angerufen werden, das die Übertretung feststellt und einen Urteilsspruch fällt. Um Missverständnissen vorzubeugen: Keinesfalls sollen hier die Haltungen eines Mancini, eines Melgar oder eines Damore verteidigt werden, sondern einzig ihr Recht, eine Meinung im Rahmen der zulässigen Grenzen kundzutun und – im Falle einer Rechtsverletzung – den Anspruch auf ein ordentliches juristisches Verfahren zu garantieren. Die Meinungsäusserungsfreiheit muss ernsthaft verteidigt werden, ansonsten regiert die Willkür, und der Sockel der Demokratie gerät ins Wanken.
1942 schrieb der französische Lyriker Paul Eluard eine unvergessliche Ode an die Freiheit, die mit der folgenden Strophe endete: «Und durch die Macht eines Wortes, Beginn ich mein Leben neu, Ich bin geboren, dich zu kennen, Dich zu nennen, Freiheit». Eluard konnte sich damals wohl nicht vorstellen, dass das von ihm so verehrte Gut acht Jahrzehnte später altmodisch daher kommt und kaum jemanden mehr zum Träumen verleitet.
Unser Zeitalter behandelt die Meinungsäusserungs – und Denkfreiheit wie eine alte Dame, die man mehr und mehr abdrängt und schliesslich hinten im Salon stehen lässt. Und bald mit Füssen tritt? Die Freiheit gilt so sehr als Konzept des 19. Jahrhunderts. «Je stärker die Freiheitsrechte als erlangt gelten, je schwächer fühlen sich die Bürger ihnen verbunden», schrieb Chloé Morin, Direktorin des Marktforschungsunternehmens Ipsos in «Le Monde». Sie kommentierte einen Bericht von Human Rights Watch über die Verletzlichkeit der Demokratien durch populistische Strömungen.
Heute hat die Freiheit als Errungenschaft der Menschheit nicht mehr Priorität. Die Meinung der einen wird zur Bedrohung für andere. Jede Stellungnahme gilt als Blasphemie gegenüber Dritten, auch wenn kein Gesetz verletzt wurde. In den sozialen Medien folgen die Rücktrittsforderungen auf dem Fuss. Diese Auswüchse führen dazu, dass die Grenzen der Meinungsfreiheit immer enger werden. Von jedem, der sich medial exponiert, wird erwartet, keine eigene Meinung zu haben. Politisch nicht korrekte Haltungen haben in der Öffentlichkeit bald ausgedient. Denker und Intellektuelle sind die neuen schwarzen Schafe der Regierungen. Im Frankreich etwa geraten Eric Zemmour, Michel Onfray und Emmanuel Todd ins Visier staatlicher Kritik. Weltweit sind Julian Assange und Edward Snowden auf der Flucht.
Eine von Vernunft geleitete Debatte, in der man Argumente in Ruhe und mit Respekt mit einem Gegenargument kontert, wird zur Ausnahme. Wer hat dem Despotismus der französischen Monarchie ein Ende gesetzt? Es war nicht die Linke, es war die Vernunft. Das Primat der Vernunft über den Glauben. Die Aufklärung. Das friedliche Nebeneinander verschiedener Credos, wie es Voltaire in seiner Streitschrift Traité sur la tolérance (1763) postulierte, ist am Sterben. Heute bekämpft man Meinungen mit Drohung, Einschüchterung, Verunglimpfung, Hysterie und schliesslich Ausgrenzung. Der «Blick»-Journalist konterte die Haltung des Sportlers Mancini nicht mit ideologischen Argumenten. Hingegen weiss er, wie man ein Klischee bedient, das den Athleten ins Abseits manövriert und dazu führt, dass sein Verband unter Druck Sanktionen ergreift, ohne dass die Justiz überhaupt von der Sache erfahren hätte. Auf der Strecke bleibt der Grundsatz eines fairen Verfahrens.
Trotz gegenteiliger Beteuerungen macht sich das Demokratiedefizit in unseren Gesellschaften deutlich bemerkbar. In Frankreich will Präsident Macron mit einem «Anti-Fake-News»-Gesetz «falsche Informationen» bekämpfen. Es keimt der Samen für eine totalitäre Entgleisung, wenn es eine staatliche Definition von «falschen Informationen» gibt. Welche Informationen sind gemeint? Diejenigen, deren Fehlerhaftigkeit sich beweisen lässt oder vielmehr alles, was den Mächtigen missfällt? Ist es am Staat, den Medien als vierter Gewalt ein Label der Vertrauenswürdigkeit oder des «Fake» zu verpassen? In einer echt demokratischen Gesellschaft muss dies ausgeschlossen sein.
Wenn die sozialen Medien dazu dienen, die Gedanken auszuspionieren und Rufmord zu betreiben, fehlt es an einem funktionierenden Rechtsstaat und am Respekt für die grundlegenden Freiheitsrechte. Der Aufklärer Diderot schrieb, «nicht einmal hunderttausend Jahre Dekadenz» könnten das Erbe Voltaires auslöschen. Hat er sich getäuscht? Dieses intellektuelle viktorianische Zeitalter, in dem wir leben, hat perverse Effekte. Bald wird niemand mehr wagen, Dogmen in Frage zu stellen, die Voltaire sein Leben lang bekämpfte. Sportler, Intellektuelle, Künstler und Politiker werden sich ausschliesslich um ihr Selbstmarketing kümmern, während wir in der Sterilität des Denkens ersticken.
Aber die Effekte der Zensur bedrohen die Meinungsfreiheit noch stärker als befürchtet: Die Zensur radikalisiert die gegnerischen Lager, nährt Subversion und Untergrundbewegungen, führt zum Kampf und lässt die Gesellschaft schliesslich implodieren. Führt diese neue Zensur zu einer «Säuberung» der Ansichten, um eine tolerante, gleichberechtigte, hassfreie Gesellschaft ohne Rassismus zu erreichen? Weit gefehlt. Mit Geld lassen sich alle Meinungen, ob gute oder schlechte – in den Vordergrund rücken. Und ohne Geld könnten Haltungen – ob gute oder schlechte - durch wichtige Interessen verhindert werden.
Warum ist es plötzlich so dunkel? Weil Voltaire in diesem Augenblick erlöscht.