TANGRAM 39

«Die Überfremdungsangst wurde zu einer Chiffre für Antisemitismus». Bergier-Kommissionsmitglied Jakob Tanner im Interview

Jakob Tanner ist emeritierter Professor für Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte an der Universität Zürich. Der Historiker gehörte von 1996-2001 der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg an, die nach ihrem Präsidenten (Jean-François Bergier) auch Bergier-Kommission genannt wurde.
tanner@fsw.uzh.ch

Das Gespräch führte Theodora Peter.

Der Zürcher Historiker Jakob Tanner war Mitglied der Unabhängigen Expertenkommission, die Ende der 1990er-Jahre die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg untersuchte. Die Bergier-Kommission zeigte auf, wie stark der Antisemitismus das Handeln der Behörden prägte.

Der 2001 publizierte Kommissionsbericht kam zum Schluss, dass die Schweiz im Zweiten Weltkrieg antisemitischer war als bis dahin angenommen. Woran lässt sich das festmachen?

J. T.: Die Kommission konnte in Fortsetzung bereits laufender Forschungen aufzeigen, dass die Flüchtlingspolitik, die Fremdenfeindlichkeit und die Überfremdungsangst in den 1930er-Jahren zunehmend zu einer Chiffre für Antisemitismus wurden. Es war tatsächlich eines der wichtigsten Ziele, die Schweiz vor einer sogenannten «Verjudung» zu schützen – wie dies Heinrich Rothmund, Chef der eidgenössischen Fremdenpolizei formuliert hatte. Dies zeigte sich besonders krass bei der sogenannten Kinderhilfe, in deren Rahmen die Schweiz um die 60 000 Kinder aufnahm. Bis gegen Kriegsende wurden jedoch jüdische Kinder von den humanitär motivierten Aufnahmeaktionen ausgeklammert. Damit übernahm die Schweiz die nationalsozialistische Definition in ihre Flüchtlingspolitik. Im Herbst 1942, als auch im Schweizer Parlament Kritik aufkam, hielt Bundesrat Marcel Pilet-Golat höchstpersönlich fest, dass die Schweiz keine jüdischen Kinder aufnehmen wolle.

Welche Rolle spielte die Frage der nachrichtenlosen Vermögen?

Das war ein ganz wichtiger Punkt, der die Einsetzung der Bergier-Kommission schliesslich ausgelöst hatte. Nazideutschland bürgerte Ende 1941 alle Juden aus, womit diese staatenlos wurden. Die Schweiz hat dies akzeptiert. Als die Behörden gegen Kriegsende auf US-amerikanischen Druck hin die deutschen Guthaben blockieren mussten, behandelte man die Juden wieder als Deutsche und unterstellte sie der allgemeinen Vermögensblockierung. Versuche, die Schweizer Banken zur Herausgabe der Vermögen der von den Nationalsozialisten ermordeten Juden zu zwingen, wurden als eigentlicher «Beutezug auf die in der Schweiz liegenden Vermögenswerte» dargestellt und mit dem Hinweis auf die schweizerische Rechtsordnung (Bankgeheimnis) abgelehnt.

Weshalb dauerte es so lange, bis sich die Schweiz diesem Thema stellte?

International wurde die Frage der nachrichtenlosen Vermögen während der ganzen Nachkriegszeit sehr aufmerksam wahrgenommen. In der Schweiz hatte man hingegen aufgrund eines geschönten Geschichtsbildes das Gefühl, das Problem sei gelöst. Zwar erliess der Bundesrat Anfang der 1960er-Jahre einen sogenannten ‹Meldebeschluss› zur Suche nach nachrichtenlosen Vermögen. Ein Jahrzehnt später wurde die Aktion fast ergebnislos eingestellt. Die Rhetorik, wonach es den Juden «nur ums Geld gehe», setzte sich allerdings fort. 1997 benutzte Christoph Blocher in der vielbeachteten Rede «Die Schweiz und der Zweite Weltkrieg» diese Formulierung erneut. Nachdem der Sonntags-Blick die antisemitische Aussage Blochers in die Schlagzeile gesetzt hatte, erklärte Blocher, er sei falsch verstanden worden. Das Zürcher Bezirksgericht kam jedoch zum Schluss, seine Aussagen seien eine «unzulässige Verharmlosung und eigentliche Entstellung der relevanten historischen Bezüge». Blocher habe sich in «ausgesprochen beleidigender Weise» geäussert und gleichzeitig das «Klischee vom geldgierigen Juden in ernster Weise strapaziert». Mit anderen Worten: Auch noch zum Zeitpunkt, als die Schweiz das erste Mal seriöse Anstrengungen unternahm, um die Frage der nachrichtenlosen Vermögen zu klären, kämpfte Christoph Blocher mit antisemitischen Stereotypen dagegen an.

Die Bergier-Kommission hat vor allem die Haltung der Behörden untersucht. Wie antisemitisch war die Bevölkerung? Es gab ja durchaus auch Solidarität mit den verfolgten Juden.

Es gab in der Bevölkerung immer wieder starke Bestrebungen, Menschen in Not zu helfen. Eine schroffe Entgegensetzung von ‹hilfsbereiter Bevölkerung› und ‹inhumaner Regierung› funktioniert in einer direkten Demokratie aber nicht. Es lässt sich vielmehr ein Zusammenspiel zwischen der Haltung der Behörden und der Wahrnehmung in breiten Bevölkerungsschichten feststellen. Ein Beispiel: 1942 verhinderte die Schweizer Regierung einen öffentlichen Appell des IKRK, mit dem in einer verschlüsselten, aber dennoch erkennbaren Form die Deportationen von Juden verurteilt worden wäre. Dies, obwohl man damals längst über die Massenermordungen Bescheid wusste. Schon 1938 hatte ein Schweizer Diplomat berichtet, wenn den verfolgten Juden nicht geholfen werde, würden sie «über kurz oder lang ihrer vollständigen Vernichtung entgegen(gehen)». Behördlicherseits gab es aber keine Bereitschaft, eine in der Bevölkerung vorhandene Hilfsbereitschaft wachsen zu lassen.

Man warf der Kommission vor, die Angst vor dem Krieg zu wenig berücksichtigt zu haben.

Die Kommission verfügte über ein klares Mandat. Sie hatte ein breites Spektrum von Themen zu untersuchen. Die Forschungsteams haben die Mentalität der Schweizer Bevölkerung in den Kriegsjahren durchaus berücksichtigt. Eine spezielle Studie dazu hatten wir nicht erarbeitet. Wir konnten aber zeigen, dass sich die vorhandenen Ängste mit der Bereitschaft zu einer eigennützigen Kooperation verbunden haben. Weshalb sonst wurden Wirtschaftsabkommen abgeschlossen und die Goldtransaktionen bis ins Frühjahr 1945 als ‹Business as usual› weitergeführt? Die These, es seien in der Schweiz während der Kriegsjahre besondere Bedrohungsängste vorhanden gewesen, würde es dann auch nahelegen, dass man 1945 aufgeatmet und sich gefragt hätte, wie stark das Land in den Krieg verwickelt war. Stattdessen hat man mit der ‹Geistigen Landesverteidigung› einfach weitergemacht und konnte sich damit bald im Kalten Krieg einrichten.

Ein Umdenken fand also auch später nicht statt?

Nein. Es war schon erstaunlich, wie die Schweiz noch Mitte der 1990er-Jahre alle Gelegenheiten verpasste, in angemessene Verhandlungen mit amerikanisch-jüdischen Klägern zu treten. Es gab kein Sensorium dafür, dass schon in den 1980er-Jahren, noch stärker aber nach dem Ende des Kalten Krieges, Restitutionsfragen und Erinnerungspolitik international intensiv diskutiert worden sind. Noch im Frühling 1996 geriet der Besuch einer amerikanisch-jüdischen Delegation bei Banken und Bundesbehörden in Bern zum kommunikativen Fiasko. Die Schweizer signalisierten kein Verständnis, so dass die erzürnten Kläger den Druck massiv erhöhten. Weniger überraschend war dann, dass Parlament und Regierung Ende 1996 inmitten einer dramatischen Krisensituation zu einem Befreiungsschlag ausholten und unter anderem die Expertenkommission einsetzten.

Wie erlebten Sie die fünfjährige Arbeit in der Bergier-Kommission?

Es war für mich eine positive Erfahrung, wie gut die heterogen zusammengesetzte Kommission zusammenarbeitete. Wir informierten die Medien regelmässig, liessen uns aber nicht auf persönliche Auseinandersetzungen oder auf Abwehrkämpfe ein. Die im Kalten Krieg verharrende Schweizerische Volkspartei, welche unsere Arbeit als Angriff auf die Schweiz darstellte und uns dauernd kritisierte, hätte vielfältigen Anlass dafür geboten. Wir konzentrierten uns aber auf unsere Aufgabe und legten innerhalb der auf fünf Jahre gesetzten Frist die mehr als zwei Dutzend Studien ohne Zeitverzögerung auf den Tisch.

Legte man Ihnen Steine in den Weg?

Die Kommission konnte unbeeinflusst vom Politikbetrieb störungsfrei arbeiten. Keinen Einfluss auf die Kommissionsarbeit hatte der Abschluss des Vergleichs zwischen den US-Klägern und den Schweizer Banken im August 1998. Es gab gegen Ende der Mandatszeit einige interne Friktionen, die wir autonom lösen konnten. Ein Problem war hingegen, dass es 2001 zu keiner angemessenen Übergabe unseres Schlussberichtes an die Regierung kam. Schliesslich war es Bundesrätin Ruth Dreifuss, die anlässlich eines letzten Zusammentreffens den Ordner mit der Zusammenfassung entgegennahm.

Es gab also keinen Rapport Ihrer Befunde bei den politischen Behörden?

Nein. Einige parlamentarische Vorstösse wollten das ändern, erreichten aber nichts. Man spürte, dass es keine Bereitschaft zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den Forschungsresultaten der Kommission gab. Ich bin zwar nicht der Meinung, dass es Aufgabe der Regierung sein soll, der Bevölkerung einen Bericht zu oktroyieren. Doch die Regierung müsste sich in solch einer Situation trotzdem engagieren und insbesondere Räume zur kontroversen Auseinandersetzung schaffen. Als Minimum hätte man eine Taschenausgabe des Berichtes - einen «Bergier Poche» - anbieten können, damit das Wissen in der Gesellschaft zirkulieren kann.

Immerhin entstand später ein Geschichts-Lehrmittel zur Schweiz und dem National-sozialismus.

Die Schulen haben meines Erachtens einen guten Job gemacht. Ich sass im Beratungsgremium für das Lehrmittel «Hinschauen und Nachfragen», das für die Sekundarstufen I und II erarbeitet wurde. Dabei ging es nicht einfach um eine Popularisierung des Bergier-Berichts, sondern darum, auch weitere Forschungsergebnisse zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg zusammenzubringen und die Kontroversen sichtbar und diskutierbar zu machen. Der Erfolg des Lehrmittels zeigt, dass ein Potential für kritische Auseinandersetzung besteht. Als Historiker bedaure ich, dass der Geschichtsunterricht in der Schule abgebaut wird. Das macht kurzsichtig.

Fand in der Schweizer Zivilgesellschaft eine Auseinandersetzung mit dem Bericht statt?

Ich fand es sehr spannend, dass Bundespräsident Arnold Koller im März 1997 die Idee einer mit 7 Milliarden Franken dotierten Solidaritätsstiftung in den Raum stellte – unter dem Motto «Etwas Grosses Tun». Damit hätte die Schweiz auch die kritische Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und den damit verbundenen Fragen von Kollaboration, Ausgrenzung und Diskriminierung voranbringen können. Doch die öffentliche Debatte drehte sich dann zunehmend um die Frage, ob man die Gelder aus den überschüssigen Goldreserven der Nationalbank nicht besser in die AHV investieren oder den Kantonen überlassen sollte. Man brach Kollers grosszügige Idee auf ein kleinkariertes Ausrechnen von Vorteilen herunter. Hier wurde eine Chance verpasst.

Welche Spuren hinterliess der Bergier-Bericht nach seiner Veröffentlichung?

Nach der Veröffentlichung berichteten die Medien dicht und kompetent über die Befunde. Diese Berichterstattung fand aber im Rahmen eines medialen Verwertungszyklus statt, und nach einem halben Jahr waren die Resultate unserer Kommission Schnee von gestern. Danach passierte kaum mehr etwas. Studien wie jene von Nicole Burgermeister und Nicole Peter zeigen, dass die Forschungsergebnisse doch stark in der Versenkung verschwunden sind. Das heisst aber nicht, dass durch die Medien, über die Schulen und durch Diskussionen in der Gesellschaft nicht doch etwas erreicht wurde.

Der Bundesrat setzte 2001 mit der Schaffung des Fonds für Projekte gegen Rassismus und für Menschenrechte immerhin ein Zeichen.

Das ist eine sinnvolle Aktion, auch wenn der Fonds nur einen Bruchteil der Mittel erhielt, die für die Solidaritätsstiftung vorgesehen waren. Es ist aber richtig, dass Behörden und Politik nach dem Inkrafttreten der neuen Verfassung von 1999, welche die Grundrechte stärkt, etwas für die Menschenrechte tun wollten. Es besteht allerdings die Gefahr, dass der Fonds zu einer Selbstbestätigung der offiziellen Schweiz wird, weil er doch nur beschränkt wirken kann und auch nicht sehr bekannt ist.

Welcher Forschungsbedarf bleibt 15 Jahre nach der Publikation des Bergier-Berichts?

Die Kommission hat meines Erachtens einen Meilenstein gesetzt. In verschiedenen Bereichen läuft die Forschung weiter. So insbesondere die Provenienzforschung, welche die Herkunft von Kulturgütern und Kunstgegenständen zu klären versucht. Forschungsbedarf gibt es auch weiterhin bei der Analyse der Eliten in der Schweiz und ihrer Beziehungsnetze. Hier geht es im weiteren Sinne auch um das Zusammenwirken von Demokratie und Kapitalismus, um die Verflechtung der Schweiz mit der europäischen und globalen Wirtschaft und ihre Rolle für die Migration und in Flüchtlingskrisen.

Bibliografie

Tanner, Jakob: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, München, Beck, 2015.

Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg: Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schlussbericht. Pendo, 2002. Download Schlussbericht und Zwischenberichte: www.uek.ch

Burgermeister, Nicole/Peter, Nicole: Intergenerationelle Erinnerung in der Schweiz. Zweiter Weltkrieg, Holocaust und Nationalsozialismus im Gespräch. Springer, 2014.