TANGRAM 44

Whiteness und deren Privilegien in der Schweiz

Autorin

Anne Lavanchy ist Anthropologin an der HES-SO – HETS Genf. Sie forscht über Rassifizierungsprozesse, mehrfache strukturelle Diskriminierung, soziale Geschlechterbeziehungen, Autochtonie und Interkulturalität. anne.lavanchy@hesge.ch

Im vorliegenden Beitrag wird die Relevanz der Forschung über Whiteness – als soziales Konstrukt, das Ungleichheiten reflektiert und reproduziert –diskutiert, ein Konzept, das im Zuge der kritischen «race» Theorien entstanden ist.

Am 7. November 2016 malte sich der Bibliothekar und Autor Mohamad Wa Baile das Gesicht weiss an, um vor dem Bezirksgericht Zürich zu erscheinen, nachdem er sich gegen eine Personenkontrolle gewehrt hatte, die er als Racial Profiling beurteilte (Michel 2019). Mohamed Wa Baile erklärte, dass er nicht sicher sei, ob er sein Haus verlassen, einkaufen oder zum Gericht gehen könne, ohne kontrolliert zu werden, und dass er aus diesem Grund das Privileg gewählt habe, weiss zu sein – unsichtbar und öffentlich immun. Dieses Privileg ist durchaus nicht unbedeutend, sondern entscheidet im wahrsten Sinn des Wortes über Leben und Tod: 2001 starb Samson Chukwu, 27, im Wallis durch Ersticken, als er sich gegen seine Zwangsausschaffung wehrte. Im Oktober 2017 verhaftete die Polizei aufgrund eines Identifizierungsfehlers in Lausanne den Asylsuchenden Lamine Fatty aus Gambia bei seinem Spitalaustritt. In der Nacht verstarb Lamine Fatty in seiner Zelle, weil er keinen Zugang zu seinen Medikamenten hatte. Am 1. März 2018 wurde wiederum in Lausanne der Nigerianer Mike Ben Peter bei einer Polizeikontrolle getötet. Die Polizei gab an, er sei an einer Überdosis gestorben, als er versucht habe, die Fingerlinge zu schlucken, die er hätte verkaufen wollen. Der Autopsiebericht sah den Grund für den Tod jedoch in den «übermässigen Zwangsmassnahmen (mesures de contrainte disproportionnées)» bei der Identitätskontrolle.

Im vorliegenden Beitrag wird die Relevanz der Forschung über Whiteness – als soziales Konstrukt, das Ungleichheiten reflektiert und reproduziert –diskutiert, ein Konzept, das im Zuge der kritischen race (1) Theorien entstanden ist. So sollen die Erscheinungsformen von Rassismus in der Schweiz und der Einfluss des Konzepts auf die Bekämpfung von Rassismus erfasst werden. Die im angelsächsischen Raum entstandenen kritischen race-Theorien gewinnen in den deutsch- und französischsprachigen Ländern an Bedeutung, auch in der Schweiz. Diese Theorien werden hier allerdings mit einer gewissen Zurückhaltung aufgenommen, vor allem aufgrund der Verwendung des Begriffs «Rasse» und seiner Ableitungen zur Analyse der sozialen Beziehungen und Machtverhältnisse in der Schweizer Gesellschaft, deren Zusammensetzung und Geschichte sich von denjenigen der Vereinigten Staaten oder Grossbritanniens unterscheiden. Die Verwendung dieser Konzepte führt zu emotionalen Reaktionen und polarisiert die Debatte über die Wünschbarkeit, die Problematik oder gar Gefahr der Verwendung dieser Begriffe im Kontext der Rassismusbekämpfung.

In den angelsächsischen Ländern ist race in den Medien, in der Forschung und im Kontext der Rassismusbekämpfung ein geläufiger Begriff. Er stellt auch eine politische und behördliche Kategorie dar und wird beispielsweis in Volkszählungen explizit aufgeführt. Auf Französisch ist dies nicht der Fall, und auf Deutsch noch viel weniger. Hier ist der Begriff umstritten und kann schockierend wirken. Die spontane Reaktion einer weissen Studentin («Mais la race, ça n’existe pas! [Rasse, das gibt es doch gar nicht!] ») beim Lesen eines Vorlesungsprogramms (Lavanchy 2020), widerspiegelt die Feststellung, dass die wissenschaftlichen Definitionen von Race im biologischen Sinn nicht geeignet sind, um über die Vielfalt der Menschheit nachzudenken. Diese Feststellung wird in der Schweiz mehrheitlich akzeptiert (Michel 2015) und entspricht der Erklärung der UNESCO von 1950 (Maurel 2007), wobei es darum geht, sich von den nationalsozialistischen Rassentheorien zu distanzieren. Somit werden der Begriff «Rasse» und seine Ableitungen im deutschen Sprachraum spontan mit dem nationalistischen Extremismus in Verbindung gebracht (Cretton 2018).

Zur besseren Einordnung der kritischen race-Theorien soll zunächst gezeigt werden, welche Phänomene sie verdeutlichen können. Anschliessend wird die Spannung zwischen dem Fehlen des race-Begriffs in der Alltagssprache und dem rassisierenden Blick auf den Körper behandelt. Schliesslich wird auf die Frage eingegangen, wer das Privileg hat, von Rassendiskriminierungen zu sprechen – und sich Gehör zu verschaffen – und wie gewisse Äusserungen über Rassismus je nach Positionierung der Sprecherin oder des Sprechers als richtig oder falsch beurteilt werden. Diese Betrachtungen sollen zu einer differenzierten Antwort auf die Ausgangsfrage führen: Ist die Schweiz weiss?

Von «Rassen» zu «race»: Eine soziale Kategorie an ihrer Wirkung erkennen

Das vorliegende theoretische Korpus beruht auf der Ambivalenz zwischen der nicht haltbaren Idee der Existenz menschlicher Rassen und dem Rassenbegriff, der sich hartnäckig in unserer Wahrnehmung hält. Er erscheint beispielsweise in Artikel 8 der Schweizerischen Bundesverfassung zur strafbaren Diskriminierung. Die Rasse wird dort neben Religion, Sprache, Herkunft, Geschlecht und Nationalität genannt.

Dass der Begriff der Rasse in dieser Auflistung vorkommt, unterstreicht den Bezug zwischen Rasse und Diskriminierung, aber auch den Bezug zwischen Rasse und Rassismus. Zudem lässt die Aneinanderreihung von «Nationalität», «Herkunft», «Sprache», «Geschlecht» und «Rasse» darauf schliessen, dass es zwischen diesen Begriffen eine gewisse Verwandtschaft gibt: Es handelt sich bei allen um soziale Realitäten. Eine soziale Realität kann als kollektives Konstrukt sozialer Kategorien verstanden werden. Soziale Realitäten widerspiegeln Machtverhältnisse und haben für alle Beteiligten konkrete Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit.

Race wird durch eine Selektion der Unterscheidungsmerkmale zum Element der sozialen Kategorisierung (N’Diaye 2006). Nicht nur der Hautfarbe, sondern auch anderen somatischen Merkmalen, die den Körper in Einzelaspekte fragmentieren, wird der Ausdruck rassischer Spezifizität zugeschrieben: Farbe und Beschaffenheit der Haare, Form der Nase und der Lippen usw. (Giloy 2000 35). Auch wenn es keine Rassen gibt, existiert eine reale Wirkung der Kategorisierung aufgrund körperlicher Unterschiede, die als natürlich und bedeutungsvoll betrachtet werden (Balibar 2007; Guillaumin 1992).

Wenn das Sichtbare das Unsagbare verdrängt

Bei einer Forschungsarbeit in Zivilstandsämtern stellte ich fest, welche Bedeutung der Rassenkategorisierung zukommt (Lavanchy 2013; 2015). Eine Analyse der Bearbeitung von Heiratsgesuchen zeigte, dass die äussere Beurteilung der Paare einen Einfluss auf die Einstufung des Gesuchs als verdächtig und damit auf dessen Bearbeitung hat.

Dies bezieht sich auf sogenannte «gemischte» Ehen, das heisst auf Paare, bei denen nicht beide Partner die Schweizer Staatsangehörigkeit besitzen. Nicht alle Gesuche von binationalen Paaren werden gleich behandelt. In Interviews und bei Beobachtungen verweisen die Zivilstandsbeamtinnen und -beamten einhellig auf die Bedeutung der äusserlichen «Vereinbarkeit» oder «Ähnlichkeit» für den Nachweis der Legitimität eines Paares. Wenn sie diese angeblich fehlende Ähnlichkeit beschreiben sollen, verweisen die Beamtinnen und Beamten systematisch auf «körperliche Besonderheiten», die «offensichtlich nicht zusammenpassen», genauer gesagt auf eine «Schweizer» Frau und einen «afrikanischen» Mann:

Die Frau will einen Afrikaner heiraten. Aber das ist schon das zweite Mal. Sie ist schon von einem Afrikaner geschieden. Da frage ich mich wirklich, warum sie immer Afrikaner wählt. Wenn sie hier keinen Mann findet, warum geht sie denn nicht dorthin?

In diesem Zitat, wo «Afrikaner» und «Schweizerin» auch «Schwarzer» und «Weisse» bedeuten, kommt der Verdacht aus dem Gefühl (Lavanchy 2014), dass das Paar – auch die Schweizer Verlobte, die immer «afrikanische» Partner wählt – «hier», in die Schweiz, nicht hingehört und «dorthin» gehen sollte. Die doppelte Analogie zwischen «weiss» und «Schweizerin» und «schwarz» und «Afrikaner» ist nicht unerheblich: Sie verstärkt die Idee, dass Schwarze «von anderswo» herkommen. Diese Vorstellung scheint in einem Kontext selbstverständlich, in dem die Präsenz von Schwarzen als neu und ungewöhnlich wahrgenommen und beschrieben wird. Dieses Klischee ist durch historische Studien zwar längst widerlegt. Doch zeigen die Arbeiten von Dos Santos Pinto, dass das Wissen um die Anwesenheit von Schwarzen in der Schweiz aktiv aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht wird. So sind Personen wie die 1971 gewählte Neuenburger Parlamentarierin Tilo Frey mit einer Kameruner Mutter und einem Schweizer Vater (Dos Santos Pinto 2014) oder die Sklavin Pauline Buisson, die 1776 durch den Industriellen David-Philippe de Treytorrens aus Santo Domingo in die Schweiz gebracht wurde (Dos Santos Pinto 2018), lang in Vergessenheit geraten. In seiner Forschungsarbeit über die «Histoires et figures de la ‹race alpine› en Valais [Geschichten und Figuren der ‹alpinen Rasse› im Wallis]» (in Vorbereitung) beleuchtet V. Cretton noch einen weiteren Aspekt der Schweizer Vergangenheit: Er weist darauf hin, dass die Präsenz der Kategorie der «Rasse» bei der Herausbildung einer nationalen Vorstellungswelt der Berggebiete für das europäische Konzept der «Rasse» als biologische Tatsache von Bedeutung war, wobei auch die Schweizer Intellektuellen eine Rolle gespielt haben. Auch Menschenzoos haben dazu beigetragen, koloniale Bilder, insbesondere der afrikanischen Andersartigkeit zu verbreiten und zu verankern (Minder 2011).

In einer race-losen Welt leben: ein weisses Privileg

Die Verbreitung historischer Zeugnisse, Darstellungen und Verwaltungspraktiken trägt aktiv zur Wahrnehmung der Schweiz als weisses Land bei. Das ist ein Problem, denn «weiss sein» ist auch ein bedeutungsvolles soziales Merkmal in einem Kontext, der das Weiss der Haut mit Reinheit, Neutralität, Überlegenheit der westlichen Zivilisation, Universalität und Normalität assoziiert (Cervulle 2013; Essed & Trienekens 2008; Fanon 1952). Die Gesamtheit dieser Assoziierungen von Hautfarbe und moralischen Werten bilden das «Weiss-Sein» als Macht und zwingende Realität mit einer starken sozialen und politischen Wirkung (Guillaumin 1992: 215–216).

Somit versteht sich whiteness als rassistische Ideologie, die nicht nur die Grenzen der Zugehörigkeit, sondern vor allem auch die damit verbundenen Privilegien festlegt. Darunter die unterschiedliche Legitimität von weissen und schwarzen Körpern im öffentlichen Raum, eine Legitimität, die einzufordern einen hohen Preis kosten kann, im Extremfall das Leben, wie die tragischen Todesfälle von Samson Chukwu, Lamine Fatty und Mike Ben Peter zeigen. Whiteness als Ideologie trägt zur Reproduktion einer strukturell rassistischen, vernichtenden Gewalt bei (Kilani 2019). Wenn Rassismus auf ein individuelles Vorurteil reduziert wird, wird seine strukturelle Dimension unsichtbar gemacht, verneint oder gar verstärkt Diese Gewalt manifestiert sich zum Beispiel, wenn in einer verstörenden Umkehrung die Personen, die für den Tod von Mike Ben Peter verantwortlich sind, zu «victimes de leurs préjugés [Opfern ihrer Vorurteile]» werden. Dies waren die Worte des Lausanner Stadtrats und Sicherheitsverantwortlichen Hildbrand, als er auf eine Frage in der Sendung Temps présent (27.09.2018) zu Rassismus bei der Polizei sichtlich verunsichert und stockend antwortete: «Vous devez avoir en tête… l’hypothèse que… sur près de 500 policiers… on peut imaginer évidemment… que certaines personnes soient… soient… soient… victimes de leurs préjugés. [Sie müssen sich bewusst sein...von rund 500 Polizisten...kann man sich natürlich vorstellen... dass einzelne Personen... zu Opfern ihrer Vorurteile werden.] »

Whiteness postuliert a priori und absolut «weisse Unschuld» (Wekker 2016). Diese Unschuld drückt sich in den Behauptungen aus, die besagen «Rasse gibt es nicht» und die damit Menschen zum Schweigen bringen, die täglich erfahren, was es heisst, in der Schweiz eine schwarze Hautfarbe zu haben. Es ist das Privileg der Weissen, zu glauben, dass der wissenschaftliche Beweis der Nichtexistenz biologischer Menschenrassen ausreiche, um den Rassismus zu beseitigen, wie die Walliser Künstlerin Estelle Borel in einem Post vom 10. Juni 2020 geschrieben hat:

«Ich erinnere mich sehr gut an den Moment, als ich entdeckt habe, dass ich schwarz bin und dass das bedeutete ‹mit allen negativen Folgen›». Ich war fünf Jahre alt.
(Wenn du mir jetzt sagen möchtest, ich sei dunkelhäutig und nicht schwarz, dann erwidere ich dir, dass die Gesellschaft keinen Unterschied dabei macht, wie sie mich behandelt und wenn du ihn machst, ignorierst du, was mir die Gesellschaft wegen meiner Hautfarbe antut. Darum glaube ich, dass ich das Recht habe, mich mit Stolz als Schwarze zu bezeichnen.)
Wenn ihr nicht bereits schon als Kind gemerkt habt, dass eure Hautfarbe für euer Leben ein Nachteil sein könnte, ist das ein Privileg.

Von Rassismus gegen Weisse zu sprechen ist daher unhaltbar. Die Begriffe «Schwarze» und «Weisse» sind zwar auch rassisiert. Beide Gruppen sind definiert durch ihre Beziehung, die aus einem System von Kontrasten und von Differenzbildungen entsteht. Die Kategorie der «Weissen» existiert nur, weil es die Kategorie der «Schwarzen» gibt und umgekehrt. Doch dieser Unterschied ist nicht neutral, und er hat nicht die gleiche Bedeutung für die so definierten Gruppen: Er stellt diese (und andere) Gruppen nicht nur her, er organisiert sie in asymmetrischen Machtverhältnissen, indem er die schwarzen Menschen auf eine niedrigere Stufe stellt, als anders darstellt, diskriminiert – indem er sie rassisiert. Der Rassismus ist Teil dieser strukturellen Machtverhältnisse, wo die Weissen systematisch überlegen sind.

Schlussfolgerungen

Weiss-Sein in der Schweiz ist ein Privileg in vielerlei Hinsicht. Es bedeutet, nicht zu bemerken, dass die Hautfarbe ein soziales Erkennungszeichen ist, beim Kontakt mit Behörden nicht systematisch Verdachtsopfer zu sein; zu denken, heiraten sei etwas Persönliches und ein Recht; seine Anwesenheit im Land nicht rechtfertigen zu müssen oder im öffentlichen Raum nicht sein Leben zu riskieren.

Insofern ist die Schweiz weiss.

Doch das bedeutet nicht, dass die gesamte Bevölkerung historisch und aktuell tatsächlich und ausschliesslich weiss gewesen wäre und ist. Bloss wurden die in der Schweiz lebenden nicht weissen Menschen aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht, wodurch es möglich wurde zu sagen, dass diese Präsenz «bei uns» neu (im historischen Sinn) und speziell (im Vergleich mit den Nachbarländern mit der eindeutig kolonialen Vergangenheit) sei.

Die Inanspruchnahme des Begriffs race und seiner Ableitungen ist ein politischer Akt, der die alltäglichen Diskriminierungen von Schwarzen hervorhebt. Race und Rassismus sind untrennbar miteinander verbunden: ein positioniertes, kritisches Wissen über race ist ein Instrument, das nicht nur das Erkennen der alltäglichen Formen von Rassismus, sondern auch das Handeln ermöglicht, um die zutiefst auf Ungleichheit beruhenden Strukturen der Schweizer Gesellschaft zu ändern.

Bibliographische Referenzen auf Anfrage

(1) Wie deutschsprachige ForscherInnen in einer offenen Tribüne erwähnt haben, darf der US-Begriff «race»" nicht mit dem deutschen Wort «Rasse» verwechselt werden, da – ungleich «Rasse» – «"race»" immer auch für den Kampf gegen Ungerechtigkeiten stand. www.sueddeutsche.de> kultur> rassismusdebatte-lost-in-translation