TANGRAM 44

«Die Rassenforschung war nicht unpolitisch»

Autor

Der Historiker Pascal Germann ist Oberassistent am Institut für Medizingeschichte der Universität Bern. Seine preisgekrönte Dissertation «Laboratorien der Vererbung. Rassenforschung und Humangenetik in der Schweiz 1900-1970» erschien 2016 im Wallstein-Verlag, Göttingen. pascal.germann@img.unibe.ch

Das Interview führte Theodora Peter

Schweizer Forschende spielten eine wichtige Rolle beim transnationalen Austausch von Ideen, Ergebnissen und Instrumenten in Rassenforschung und Humangenetik des 20. Jahrhunderts. Der Historiker Pascal Germann zeigt auf, wie die angeblich rein wissenschaftliche Rassenexpertise für Herrschaftszwecke benutzt wurde.

Sie haben die Rolle der Schweiz in der Rassenforschung und Humangenetik von 1900-1970 unter die Lupe genommen. Welche Erkenntnis hat Sie am meisten überrascht?

Überrascht hat mich, wie global die Rassenforschung in der Schweiz ausgerichtet war. Wenn man den Begriff Rassenforschung hört, denkt man zunächst an Nazideutschland oder stellt sich skurrile Gelehrte vor, die in einsamen Studierzimmern Schädel vermessen. Diese Vorstellung blendet aber aus, dass die Rassenforschung stark international vernetzt war. Das zeigt sich in der Schweiz besonders deutlich.

Inwiefern?

Sowohl Zürich wie Genf waren in den 1920er- und 1930er-Jahren wichtige Zentren der globalen Rassenforschung. Im Anthropologischen Institut der Universität Zürich verkehrten nicht nur Forscher aus ganz Europa, sondern auch Wissenschaftler aus den USA, Südafrika, Neuseeland, Indien und China. Auch die Genfer Universität war in der Rassenforschung international ausgerichtet. So pflegte der Genfer Anthropologie-Professor Eugène Pittard enge Kontakte zur Türkei und war gar mit Staatspräsident Atatürk befreundet. Dies ermöglichte Pittard, massgeblich zur Förderung der Rassenforschung in der Türkei beizutragen. Dieses Beispiel zeigt, dass Schweizer Rassenforscher nicht nur an der Klassifikation von Menschen in der Schweiz interessiert waren. Vielmehr wandten sie sich weltweit ganz unterschiedlichen politischen Kontexten zu, in welchen ihre angeblich rein wissenschaftliche Rassenexpertise für Herrschaftszwecke benutzt wurde.

Eignete sich die Schweiz als «neutraler Kleinstaat» ohne Kolonien besonders gut als Standort der Rassenforschung?

Wichtig zu wissen ist, dass die Rassenforschung bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter Ideologieverdacht stand. Kritisiert wurde an der Rassenforschung schon damals, dass sie koloniale Expansionsstrategien legitimiere und von nationalistischen Vorurteilen geprägt sei. Diese Kritik zielte vor allem auf Rassenforscher in den grossen imperialen Ländern wie Deutschland, England und Frankreich. Weil die Schweiz ein Land ohne Kolonien war, konnte glaubwürdiger ein Image der rein wissenschaftlichen, empirisch gewissenhaften und scheinbar unpolitischen Forschung gepflegt werden. Deshalb war die globale Forschung am Standort Schweiz sehr interessiert: Das Land galt als Garantin für wissenschaftliche Objektivität.

Wie unabhängig beziehungsweise unpolitisch war die Rassenforschung tatsächlich?

Es wäre falsch anzunehmen, die Rassenforschung sei bloss pseudowissenschaftliche Scharlatanerie gewesen. Die Wissenschaftler waren hoch angesehen und wendeten oft eine strenge Methodik an, die den damaligen Standards entsprach. Doch ihre Forschung war nicht unpolitisch – im Gegenteil. Dies nur schon deshalb, weil die Forschung abhängig war von der politischen Nachfrage nach rassischem Differenzwissen. Ein politischer Kontext wie der Kolonialismus war somit unabdingbar. Ab den 1930er-Jahren profitierte die Rassenforschung vom Aufschwung des Faschismus, weil der wissenschaftliche Rassismus nun verstärkt staatlich gefördert wurde.

Die Rassenforschung ging auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiter?

Lange ging man davon aus, dass die Rassenforschung nach 1945 erledigt gewesen sei, weil sie durch Nazideutschland diskreditiert worden war. Dieser vermeintliche Bruch muss aus Sicht der heutigen Forschung aber stark relativiert werden. Das gilt nicht nur für die Schweiz. In vielen Ländern lässt sich zeigen, dass die Rassenforschung nach 1945 eine Fortsetzung fand, zum Teil in neuem Gewand und mit einer veränderten Begrifflichkeit. In der Schweiz kam es im ersten Jahrzehnt nach 1945 zu einer besonders engen Verflechtung von Rassenforschung und Humangenetik. Renommierte Genetiker setzten sich an Schweizer Universitäten für eine Kontinuität der Rassenforschung ein und es kam zu grossen Kooperationsprojekten, in welchen Genetiker, Mediziner und Rassenanthropologen zusammenarbeiteten, um eugenisch relevante Rassenfragen zu erforschen. Um 1950 verfügte die Rassenforschung über ein erhebliches Renommee in der Schweiz und wurde beispielsweise auch vom neu gegründeten Schweizerischen Nationalfonds gefördert.

Erst Ende der 1950er-Jahre kam es zu einem Bedeutungsverlust der Rassenforschung. Dabei spielten drei globale, politische Entwicklungen eine zentrale Rolle: Erstens die Dekolonialisierung. Damit fiel ein wesentlicher Kontext weg, der zuvor noch eine grosse Nachfrage nach rassischem Differenzwissen generiert hatte. Zweitens der europäische Einigungsprozess, der Ende der 1950er-Jahre Fahrt aufnahm. Dadurch wurden innerhalb Europas stärker Gemeinsamkeiten und weniger die Differenzen betont. Drittens der Kalte Krieg, in welchem neue Differenzkategorien wie West-Ost eine wichtige Rolle spielten und gleichzeitig die rassische Binnen-Differenzierung an Bedeutung verlor. Im Kontext des Kalten Krieges wendete sich die biowissenschaftliche Forschung zudem neuen Richtungen zu. So floss viel Geld in die Atom- und Strahlenforschung. Durch den damit zusammenhängenden Aufschwung der menschlichen Cytogenetik richtete sich die Humangenetik stärker medizinisch aus, während Rassenfragen an Bedeutung verloren.

Wie haben Schweizer Forscher konkret dazu beigetragen, Menschen in Rassen einzuteilen?

Am Anthropologischen Institut in Zürich wurden Methoden und Instrumente zur Vermessung von Menschen entwickelt. Keine andere Methodik kam weltweit so häufig zur Anwendung wie die in Zürich entwickelten Messtechniken. Die Schweizer Anthropologen entwickelten einen Baukasten, der international und in unterschiedlichen politischen Kontexten einsetzbar war, um Menschen in Rassen einzuteilen. Vom kolonialen Ruanda bis zu deutschen Konzentrationslagern wurden Zürcher Methoden und Instrumente benutzt, um Menschen rassisch zu klassifizieren.

Welche Rolle spielte die Julius Klaus-Stiftung, die sich in ihren Statuten die «Verbesserung der weissen Rasse» auf die Fahne schrieb?

Die Julius Klaus-Stiftung spielte bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. Sie wurde 1921 mit eugenischer Zielsetzung in Zürich gegründet und war sehr finanzstark. Im Zentrum stand die wissenschaftliche Fundierung der Eugenik. Gefördert wurde nebst der Rassenforschung auch die medizinische sowie die experimentelle Genetik. Die Stiftung trug massgeblich zum Aufschwung dieser Forschungsfelder an der Universität Zürich bei. Erst durch die Gründung des Schweizerischen Nationalfonds 1952 und anderer Förderinstitutionen nahm die Bedeutung der Julius Klaus-Stiftung ab.

Weshalb dauerte es bis ins Jahr 1971, bis die Stiftung die rassenhygienischen Zielsetzungen aus ihren Statuten entfernte?

Das ist aus heutiger Sicht schwer nachzuvollziehen. Aber man muss wissen, dass die Julius Klaus-Stiftung über ein grosses Renommee verfügte. Mehrere Rektoren der Universität Zürich gehörten noch während ihrer Amtszeit der Stiftung an und unterstützten dadurch deren rassenhygienischen Ziele. Bis in die 1960er-Jahre gab es daran kaum Kritik. Das änderte sich ab 1970, als es plötzlich hiess, der Begriff Rassenhygiene sei nicht mehr zeitgemäss. In der Folge wurde die Formulierung «Verbesserung der weissen Rasse» aus den Statuten gestrichen. Dafür gab es zwei Gründe: Einerseits setzte in Deutschland eine verstärkte Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen ein. Zudem besuchten in den 1960er-Jahren Schweizer Biowissenschaftler vermehrt die führenden US-amerikanischen Universitäten und lernten die dortige akademische Kultur kennen. In den Vereinigten Staaten konnte man in den 1960er-Jahren nicht mehr von Rassenhygiene sprechen, ohne in eine bestimmte politische Ecke gestellt zu werden. Auch dank dem Einfluss des Antirassismus in den USA verlor die Schweizer Rassenforschung an Bedeutung.

Inzwischen ist die Rassenhygiene in der Wissenschaft passé. Gibt es in der modernen medizinischen Genetik dennoch eugenische Tendenzen?

Diese Frage muss man differenziert betrachten. In der Tat kann man feststellen, dass beispielsweise mit der Reproduktionsmedizin und der Pränataldiagnostik eugenische Tendenzen verbunden sind, weil sie eine Selektion bereits vor der Geburt ermöglichen. Im Gegensatz zu den Kollektiv-Ideen der Eugenik geht es jedoch nicht darum, den Genpool des «Volkskörpers» zu verbessern, sondern eine individuelle Beratung für Paare anzubieten. Während die Eugenik darüber entschied, welche Bevölkerungsgruppen sich fortpflanzen dürfen, ermöglicht die heutige Reproduktionsmedizin auch Paaren Kinder zu haben, die Eugeniker von der Fortpflanzung ausschliessen wollten.

Zurück zur Rassenforschung: Welche Fragen müssen aus Ihrer Sicht noch weiterbearbeitet werden?

Eine wichtige Frage ist, was mit der Rassenforschung nach 1945 passiert ist. Dies wird in der internationalen Forschung kontrovers diskutiert. Auch die transnationalen und globalen Verflechtungen der Schweizer Rassenforschung sind noch keineswegs erschöpfend erforscht. Hier gibt es noch viel historischen Aufarbeitungsbedarf.