Autorin
Die Philosophin und Kulturwissenschafterin Patricia Purtschert ist Professorin für Geschlechterforschung und Co-Leiterin des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung (IZFG) der Universität Bern. Sie lehrt und forscht zu feministischen Theorien, Intersektionalität und Postkolonialismus. 2019 ist ihr Werk «Kolonialität und Geschlecht im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte der weissen Schweiz» erschienen. patricia.purtschert@izfg.unibe.ch
Das Interview führte Theodora Peter
Die Vorstellung von «Rasse» als kategorialer Unterscheidung habe die moderne Welt auf eine grundlegende Art und Weise geformt, erklärt die Philosophin und Kulturwissenschaftlerin Patricia Purtschert. Ein Gespräch über strukturelle Diskriminierung, Alltagsrassismus und die koloniale Komplizenschaft der Schweiz.
Zum Begriff «Rassismus» gibt es verschiedene Definitionen. Wie beurteilen Sie aus wissenschaftlicher Sicht die Begrifflichkeit? Was heisst Rassismus im Jahre 2020?
Es ist wichtig zu verstehen, dass Rassismus, so wie wir ihn heute erleben und diskutieren, eine spezifisch moderne Erscheinungsform ist. Mit der europäischen Expansion und der Eroberung der Amerikas wurde die Welt ab 1498 neu organisiert. Im Rahmen dieser brutalen Eroberungen, bei denen es auch zu Genoziden kam, entstand ein Denken, das Differenzen zwischen Menschen betont. Ein Katalysator für dieses Denken war der Begriff «Rasse». Die Einteilung der Menschen in hierarchische «Rassen» ermöglichte es, einerseits eine extreme ökonomische Ausbeutung von Menschen zu legitimieren und andererseits eine politische und kulturelle Dominanz der einen über die anderen zu behaupten.
«Rasse» ist ein Hilfsmittel, um Herrschaft und Unterwerfung in einem globalen Kontext zu erklären – und dies in einer Epoche, in der Ideen von Gleichheit zunehmend wichtig wurden und sich politisch in demokratischen Staatsformen niederschlug. Brisant daran ist, dass «Rasse» es ermöglichte, Dinge zusammenzubringen, die sich eigentlich nicht vereinbaren lassen. Wenn man postuliert, Menschen seien gleich, dann kann man den Kolonialismus, der auf Ungleichheit beruht, nicht aufrechterhalten. Aber wenn man sagt, Menschen sind zwar gleich, aber einige befinden sich auf einer tieferen Entwicklungsstufe, dann legitimiert dies die Dominanz der einen über die anderen. Mit einem paternalistischen Modell eines ‘guten Kolonialismus’ kann man dann Menschen regieren, indem man behauptet, sie in die Zivilisation überzuführen – dieser Logik folgten einige Formen des Kolonialismus genauso wie die christlichen Missionen.
Ist der Begriff «Rasse» demnach obsolet geworden?
Vielleicht zur Klärung: Es gab und gibt keine «Rassen». Oder anders gesagt: Es gibt keine biologischen Gründe, welche es ermöglichen, die Idee einer «Rassendifferenz» zwischen Menschen aufrechtzuerhalten. Aber die Vorstellung von «Rasse» als kategorialer Unterscheidung hat die moderne Welt auf eine grundlegende Art und Weise geformt. Deshalb können wir nicht einfach sagen, dieses Denken sei vorbei. Es wäre schön, wir könnten es einfach hinter uns lassen. Aber das führt dazu, dass wir nicht mehr dort hinschauen, wo Rassismus und Rassifizierung, also die Zuschreibung von Unterschieden aufgrund rassistischer Vorstellungen, nach wie vor wirksam sind.
Eine wichtige Zäsur in der Verwendung des «Rassenbegriffs» ereignete sich nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach der Shoah wurde von weiten Kreisen anerkannt, welche mörderischen Folgen rassistisches Denken haben kann. In der Schweiz verwendete man den «Rassenbegriff» aber noch bis in die 1970er-Jahre, auch in der Wissenschaft. Dies war darum möglich, weil sich das Land in einer Sonderposition sah: Man dachte, der Nationalsozialismus wie auch der Kolonialismus beträfen die Schweiz nicht intrinsisch. Entsprechend war auch der Wille in der Mehrheitsbevölkerung nicht gross, sich an die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte oder der Rassenforschung in der Schweiz zu machen.
Mit der Zeit hat sich dann auch in der Schweiz der Sprachgebrauch durchgesetzt, der in weiten Teilen Westeuropas vorherrscht: Seit den 1970er-Jahren spricht man auch hier eher von verschiedenen Ethnien oder von Kulturunterschieden als von «Rasse». Diese Verschiebung ist zwar gut gemeint, weil der hochproblematische Begriff damit vermieden wird. Aber strukturelle Diskriminierungen werden teilweise einfach unter neuen Namen weitergeführt, zum Beispiel, indem behauptet wird, gewisse Kulturen seien mit der schweizerischen – was auch immer das sein soll – nicht vereinbar.
Viele weisse Schweizerinnen und Schweizer realisieren nicht, dass rassistische Vorannahmen noch immer viele Entscheidungen beeinflussen – zum Beispiel, wer eine Wohnung oder eine Stelle bekommt oder als potentiell kriminell eingeschätzt wird. Viele People of Colour sind in ihrem Alltag mit solchen rassistischen Strukturen konfrontiert. Dadurch entsteht eine Kluft in der Bevölkerung: Die einen behaupten, es gebe kaum oder gar keinen Rassismus, die anderen erfahren ihn Tag für Tag.
Wird diese Kluft mit der Mobilisierung rund um «Black Lives Matter» verkleinert?
«Black Lives Matter» bewegt zurzeit erfreulich viel. Es ist aber auch wichtig zu sehen, dass diese soziale Bewegung nicht aus dem Nichts kommt. Seit vielen Jahren engagieren sich Organisationen wie Bla*Sh, das Collectif Afro-Swiss, CRAN (Carrefour de Réflexion et d’Action Contre le Racisme Anti-Noir), die Allianz gegen Racial Profiling oder augenauf gegen rassistische Diskriminierungen. Der Schriftsteller James Baldwin beschrieb bereits in den 1950er-Jahren, wie er bei seinem Aufenthalt in Leukerbad exotisiert wurde. Mit anderen Worten: Stimmen, welche rassistisches «Ungleichmachen» aufzeigen, waren schon immer da. Der aktuelle Erfolg von «Black Lives Matter» ist auch auf die Hartnäckigkeit von Intellektuellen und Aktivist*innen zurückzuführen, die seit langem am Thema arbeiten.
Wichtig ist auch, dass sich eine neue Generation von People of Color meldet und ein anderes Selbstverständnis artikuliert: Sie wollen sie sich nicht länger zu Fremden machen lassen. Zudem wächst die Zahl weisser Menschen, die bereit ist, sich mit ihren Privilegien auseinanderzusetzen. Wie nachhaltig diese Bewegung ist, wird sich zeigen. Schaffen wir es, ein Bewusstsein herzustellen, das den Moment überdauert, oder setzt wieder eine koloniale Amnesie ein? Diese Frage werden wir erst zu einem späteren Zeitpunkt beantworten können.
Heftige Debatten gab es rund um die Benennung des «Mohren-Kopf».
Ja, und sie zeigt gut auf, wie Alltagsrassismus funktioniert. Diejenigen, die behaupten, man solle sich den «richtigen Problemen» zuwenden, anstatt sich bei einem «Detail» wie der Bezeichnung einer Süssspeise aufzuhalten, sehen nicht, dass Alltagrassismus eng verknüpft ist mit anderen Formen von Rassismus. Weisse Kinder, die Kinderbücher mit rassistischem Inhalt lesen, lernen Dinge, die sie eines Tages vielleicht umsetzen, wenn sie als Polizistin einen Schwarzen Menschen vor sich haben oder als Lehrer ein Schwarzes Kind. Schwarze Menschen erzählen immer wieder, wie sie auf Schweizer Schulhöfen und Spielplätzen als ‘M-Kopf’ rassistisch beschimpft wurden. Es geht darum, diese Geschichten zu hören und sie ernst zu nehmen.
Übrigens sieht man gerade beim Thema Schokolade, wie verwoben die Schweiz mit dem kolonialen Handel ist. Die Schokolade gilt als Schweizer Vorzeigeprodukt und ist tief mit kolonialem Handel verwoben. Sie ist aber auch ein Beispiel für den aktuellen Neokolonialismus: wie wir wissen, sind die Arbeitsbedingungen auf vielen Kakaoplantagen haarsträubend.
Sie sprechen in Ihrem Buch «Kolonialität und Geschlecht» von kolonialer Komplizenschaft. Welchen Anteil hatte die Schweiz am Kolonialismus?
Es gibt unterschiedliche Formen von Verstrickungen der Schweiz. Weil das Land formal keine Kolonialmacht war, lautet das gängige Narrativ, dass uns die Fragen rund um Kolonialismus nichts angehen. Als Teil von Westeuropa gehörte die Schweiz aber dem imperialen Raum an. Die wirtschaftliche Verstrickung von Schweizer Handelshäusern in koloniale Aktivitäten reichen zurück bis zum transatlantischen Sklavenhandel.
Eine weitere Verflechtung betrifft die Wissenschaft. Schweizer Wissenschaftler, es handelte sich vor allem um Männer, waren in Kolonialgebieten in wissenschaftlichen Expeditionen unterwegs – nicht nur als Mitläufer, sondern auch auf Eigeninitiative.
Eine grosse Rolle spielten zudem die Missionen, besonders Ende des 19. Jahrhunderts. Sie waren zentral für die Verbreitung der Idee von «primitiven Menschen», die noch nicht auf dem gleichen Entwicklungsstand sind und denen geholfen werden muss. Mit ihren Sammel- und Propagandaaktionen erreichten die Missionen Menschen über Klassengrenze hinweg, auch in der Arbeiter*innenklasse. Koloniales Denken bot damit die Möglichkeit, soziale Differenzen innerhalb einer weissen Bevölkerung zu überbrücken. Die Zuordnung der Schweizer Bevölkerung zu einer «zivilisierten» und weissen Kultur ermöglichte es, über soziale Spannungen hinaus ein Identitätsangebot zu erschaffen, auf der Grundlage einer gemeinsamen kolonialen Weltsicht.
Eine weitere Dimension betrifft den Alltagsrassismus. Er wird von vielen als «gesunder Menschenverstand» wahrgenommen und nicht weiter problematisiert. So wird beim Begriff «Entwicklung» selbstverständlich davon ausgegangen, der Westen sei entwickelt und der Rest der Welt befinde sich irgendwo auf der Entwicklungsachse am Aufholen. Alltagsrassismus zeigt sich überall – in Schulbüchern, in Zeitungsartikeln oder in der Werbung. Und er wird den Menschen von klein auf beigebracht. Eine wichtige Frage ist darum, wie Kinder in eine koloniale Kultur hineinwachsen und wie koloniale Differenzen so normalisiert werden, dass sie vielen von uns nicht mehr auffallen.
Weshalb tut sich die Schweiz schwer mit der Thematisierung der kolonialen Vergangenheit?
Im Vergleich zu anderen Ländern ist es für die Schweiz einfach zu sagen, wir hätten keine koloniale Vergangenheit gehabt. Diese Haltung können sich Länder wie Frankreich, Grossbritannien, Belgien oder Holland nicht leisten. Sie legitimieren ihr Handeln mit anderen Narrativen, etwa mit demjenigen der guten Kolonalmacht. Hierzulande aber wird die Darstellung gepflegt, wir stünden beim Kolonialismus aussen vor. So erklärte der Bundesrat nach der UNO-Weltkonferenz gegen Rassismus von 2001 in Südafrika, die Schweiz sei als «neutrales» Land gerne dazu bereit, zwischen den ehemaligen Kolonialmächten und den ehemaligen Kolonien zu vermitteln. Diese Selbstwahrnehmung steht uns im Weg, wenn es darum geht, die Position der Schweiz in einer globalisierten Welt zu verstehen.
Bewegt sich in dieser Frage etwas in der offiziellen Schweiz?
Auf jeden Fall. Auf der politischen Bühne sind unterschiedliche Akteur*innen seit längerem daran, an diesem Selbstbild zu rütteln. Auch geht die jüngere Generation anders mit dem Thema um, gerade weil viele junge Menschen selber Eltern, Grosseltern oder auch enge Freund*innen mit einer Migrationsgeschichte haben oder als People of Color andere Erfahrungen einbringen.
Die Debatte ist vergleichbar mit der Aufarbeitung der Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. Am neutralen Selbstbild der Schweiz zu kratzen wurde von einem Teil der Bevölkerung als bedrohlich empfunden, als Verrat. Als Gesellschaft können wir aber nur gewinnen, wenn wir unser Demokratieverständnis ernster nehmen als wir dies derzeit tun. Wenn wir versuchen zu verstehen, welchen Menschen die Partizipation erschwert oder sogar verunmöglicht wird. Zum Beispiel, weil sie in der Schweiz leben, und kein Stimmrecht haben. Weil sie Schweizer*in sind, aber durch Rassismus strukturell benachteiligt werden. Weil sie an einem Ort der Welt leben, in dem koloniale Ungleichheiten, die auch Schweizer Akteur*innen mitverantworteten, nachwirken. Weil sie als Bewohner*innen südlicher Länder unter prekären Bedingungen leben, um den hohen Lebensstandard im Norden zu sichern. Auch das ist ein koloniales Erbe.
In Ihrem Buch beschreiben Sie auch, wie koloniale Denkstrukturen untrennbar mit Geschlechterdiskursen verwoben sind. Inwiefern?
Die koloniale Struktur ist nicht von einer Geschlechterhierarchie ablösbar. Dies zeigt sich in der Schweiz mit der enorm späten Einführung des Frauenstimmrechtes und der nach wie vor bestehenden Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Es ist ganz wichtig, diese Themen verschränkt zu denken und nicht parallel zu sehen. Das koloniale Selbstverständnis von Expansion und Eroberung ist sehr männlich geprägt. Zwar waren die weissen Kolonialisten in der Realität oft alles andere als Helden, denn auch sie wurden krank und waren verletzlich. Doch dominierte das Bild vom unangreifbaren Eroberer, der sich die Welt zu eigen macht. Diese problematische Vorstellung weisser Männlichkeit ist nicht nur verknüpft mit kolonialer Vorherrschaft, sondern auch mit patriarchaler Dominanz gegenüber weissen Frauen, anderen Geschlechtern und Kindern.
Sie haben auch untersucht, was dies für die weisse Schweizer Hausfrau bedeutete.
Ich habe vor allem die 1930er-Jahre unter die Lupe genommen, als man die Frauen wieder stärker ins Haus drängte. Mit der Hausfrauen-Ideologie hat man versucht, weissen Frauen etwas anzubieten. Sie wurden zwar ökonomisch und politisch zurückgedrängt, man machte ihnen aber schmackhaft, dass sie global in einer Vorreiterinnenposition sind: gegenüber all jenen Frauen in der Welt, die noch nicht verstanden haben, wie man eine Familie und einen modernen Haushalt führt. Das war die Zeit der technischen Innovationen wie Staubsauger und Küchengeräte. Mit Hilfe dieser Abgrenzung zu nicht-weissen «Anderen» wurde eine bürgerliche weisse Weiblichkeit entworfen. Dies bedeutet auch, dass wir als weisse Feministinnen verstehen müssen, wie wir selber verwickelt sind in rassistische Ideologien, wenn wir nicht-weissen Frauen «helfen» wollen. Auch der Feminismus muss dekolonisiert werden.
Welchen Themen sollte sich die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) in den nächsten Jahren annehmen? Wo sollte sie aus Ihrer Sicht aktiver werden?
Im Raum stehen einmal mehr sehr berechtigte Forderungen nach einer gerechteren Repräsentation von People of Color in allen Gremien. Wer vertritt ihre sehr unterschiedlichen Anliegen? Die Forderung geht über die EKR als Akteurin hinaus und betrifft die ganze Gesellschaft. Wo ist die nichtweisse Schweiz vertreten – in Bildungsinstitutionen, in den Medien, in der Politik? Wenn man genauer hinschaut, wird schnell klar, dass hier ein riesiges Defizit besteht.
Sehr wichtig ist es auch, dass man dorthin schaut, wo die schwächsten Menschen sind. So sind es meist ‘illegalisierte’ oder geflüchtete Menschen, die Opfer von Polizeigewalt werden. Hier liegen spezifische Formen von Verwundbarkeit vor, und die Folgen von Rassismus sind hier öfters schwerwiegend und sogar tödlich, während dieser meist unter Ausschluss der Öffentlichkeit passiert.