Autorin
Pamela Ohene-Nyako ist Doktorandin und Assistentin am Historischen Institut der Universität Genf, wo sie an einer Dissertation über den Internationalismus der schwarzen europäischen Frauen von Ende der 1960er-Jahre bis 2001 arbeitet. Sie ist Gründerin der zweisprachigen Plattform Afrolitt’, die Literatur von Autorinnen und Autoren mit afrikanischem Hintergrund fördern und kritisch reflektieren will. Pamela.Ohene-Nyako@unige.ch
Das Interview führte Samuel Jordan
Antirassismus muss in erster Linie in seinem historischen Kontext verstanden werden, sagt Pamela Ohene-Nyako. Die engagierte junge Akademikerin betrachtet Sexismus und Rassismus als zwei untrennbare Formen der Dominanz, die beide bekämpft werden müssen. Sie spricht auch über das koloniale Erbe, strukturellen Rassismus und ihre persönlichen Erfahrungen.
Was bedeutet antirassistisch sein heute?
Antirassismus resultiert aus den Aktionen von Aktivistinnen und Aktivisten, Vereinen, Gruppierungen, Forschenden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Kunst- und Kulturschaffenden, Lehrpersonen und Institutionen. Antirassismus trägt der Tatsache Rechnung, dass Rassismus eine historische Dimension hat und ein historisches Konstrukt ist. Er erachtet Rassismus als institutionell und alltäglich. Grundlage des heutigen Antirassismus ist das folgende Prinzip: Ob bewusst, unbewusst, beabsichtigt oder unbeabsichtigt – Rassismus bleibt ungeachtet seiner Form und seines Ausdrucks Rassismus. Daher ist die Meinung, eine Person mit schwarzen Frauen und Männern in ihrem Freundeskreis könne nicht rassistisch sein, nicht länger haltbar. Zu lange lag der analytische Fokus auf den entsetzlichsten Ausprägungen von Rassismus wie dem Holocaust und der Sklaverei, während die gesamte Bandbreite seiner Auswirkungen auf die heutigen Gesellschaften unbeachtet blieb. Rassismus wurde auf eine politische Randgruppe reduziert. Dabei handelt es sich um ein viel komplexeres und weiter verbreitetes Phänomen, das nicht nur mit extremistischen Gruppen in Verbindung gebracht werden kann. Bleibt noch zu erwähnen, dass die Historizität des Rassismus ein altes, vom Antirassismus aufgestelltes Postulat ist, das mit den Protestbewegungen nach der Ermordung von George Floyd 2020 wieder an Bedeutung gewonnen hat.
Der Feminismus hält mehr und mehr in antirassistischen Veranstaltungen Einzug und umgekehrt. Wie kommt es zu dieser Annäherung?
Die Engführung dieser beiden Bewegungen ist nicht neu. Schwarze Frauen setzen sich seit Langem für diesen doppelten Kampf gegen Diskriminierung aufgrund von Geschlecht und Herkunft ein. In der Schweiz sind die feministischen antirassistischen Gruppen seit mehr als dreissig Jahren aktiv. Die Afro-Feministinnen haben sich sowohl an der Frauendemo 2019 als auch an der antirassistischen Mobilisation 2020 beteiligt. Aus meiner Sicht muss die Genderperspektive in den Kampf gegen Rassismus integriert werden – und umgekehrt. Ist jemand gleichzeitig mehreren Formen von Dominanz oder Diskriminierung ausgeliefert, spricht man von Intersektionalität.
Werden in einer westlichen Gesellschaft wie der Schweiz schwarze Frauen oder schwarze Männer mehr diskriminiert?
Es liegen keine Statistiken vor, mit denen diese Frage wissenschaftlich untersucht werden könnte. Nach unserer teilnehmenden Beobachtung wandelt sich die Realität kontinuierlich. Demnach werden schwarze Männer eher physisch misshandelt und sind eher Opfer von Racial Profiling. Im Unterschied zum schwarzen Mann wurde die schwarze Frau nie als gefährlich oder bedrohlich, jedoch als beliebig ausbeutbares Objekt oder als jedermanns Lastesel rassifiziert. Schwarze Männer und Frauen erfahren beide eine Sexualisierung und Phantasmatisierung ihres Körpers: Männer sollen ein übergrosses Geschlecht haben, Frauen grossartig im Bett sein. Als Frauen sind letztere jedoch eher sexuellen rassistischen Übergriffen ausgesetzt.
Kann der akademische postkoloniale Diskurs, der hauptsächlich in den USA entstand, auf die Schweiz übertragen werden und im Kampf gegen Rassismus eine relevante Rolle spielen?
Ja, er ist in unserem Land sehr bedeutsam. Auch wenn die Postcolonial Studies zunächst in den USA und Grossbritannien betrieben wurden, dürfen wir nicht vergessen, dass der Kolonialismus vor allem eine europäische Realität war. Zwar war die Schweiz keine Kolonialmacht, doch beteiligten sich zahlreiche Personen und Unternehmen – direkt und finanziell – an Kolonialismus und Sklaverei. Und bereicherten sich damit. Durch Wissenschaftler wie Carl Vogt oder Louis Agassiz, künstlerisches Schaffen und Missionierung hat auch die Schweiz zur Entstehung und Verbreitung von rassistischen Inhalten und Vorstellungen in Europa beigetragen. So gesehen kommt der Förderung der postkolonialen Forschung in der Schweiz eine zentrale Rolle zu. Nicht in der Absicht, Schuld zuzuweisen, aber mit dem Ziel, dank der Vergangenheit die Herausforderungen und die Realität des Rassismus in seiner heutigen Ausprägung besser zu verstehen.
Heute sprechen manche lieber von «rassifizierten Personen» als von Personen fremder Herkunft. Was halten Sie von diesem Sprachgebrauch im Zusammenhang mit dem Kampf gegen Rassismus?
Jede und jeder möchte idealerweise über den Vornamen statt über das Aussehen definiert werden. Doch hier geht es darum, durch Wörter Realitäten abzubilden. Das Wort «rassifiziert» wurde geschaffen, um Personen zu bezeichnen, die – aufgrund ihres Aussehens – potenzielle Opfer von Rassismus sind. In mehrheitlich weissen Gesellschaften ist ihrem Körper ein Unterscheidungsmerkmal eingeschrieben. Statt wie in den USA von nichtweissen Personen oder von Farbigen zu reden, greife ich lieber auf die Bezeichnung «rassifizierte» Personen zurück.
Sehen Sie keinen Widerspruch darin, auf ein Rassenkonzept zurückzugreifen, obwohl der Begriff Rasse wissenschaftlich keine Gültigkeit hat?
Es gibt keine biologische Grundlage für den Begriff der Rasse. Hingegen existiert und wirkt er von einem gesellschaftlichen Standpunkt aus gesehen durchaus. «Rassifiziert» verweist auf einen Prozess der Rassisierung von Körpern und bezieht sich keinesfalls auf Rasse als Minderwertigkeitsmerkmal.
Heute wird viel von strukturellem Rassismus gesprochen. Wie kann dieser definiert werden?
Ausgangspunkt ist die Annahme, dass sich Gesellschaften auf lange Sicht durch Integration verschiedener Weltanschauungen konstituieren. Struktureller Rassismus bedeutet, dass Rassismus dauerhaft in die privaten und öffentlichen Strukturen und in den Alltag integriert worden ist. Vereinfachende Analysen wie etwa jene, wonach eine ethnische Durchmischung in den Schulklassen bereits zu einer antirassistischen Gesellschaft führe, reichen nicht, um eine Veränderung zu bewirken. Solange man sich nicht bewusst ist, dass Rassismus in den Strukturen verankert ist, führt kein Weg aus dieser Sackgasse. Nun herrscht bei uns zum Glück kein Fatalismus vor, der Veränderungen verhindert. Alles, was aufgebaut wurde, kann auch abgebaut werden. Rassismus kann aus den Strukturen entfernt werden, sofern der Wille vorhanden ist, die damit verbundenen Herausforderungen und Privilegien bewusst zu machen und man bereit ist, die dafür erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen. Dies geschieht zunächst durch Bildung, aber nicht nur.
Gibt es in der Schweiz strukturellen Rassismus?
Ja, man sieht und erlebt ihn tagtäglich. Er wird im Racial Profiling und der Gewalt, die manchmal damit einhergeht, sichtbar. Er kommt in der Schule, bei der Personalrekrutierung, aber auch in der Berichterstattung der Fachstellen gegen Rassismus und der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus zum Ausdruck. Man erlebt ihn durch persönliche Geschichten und Reportagen. Ja, der strukturelle Rassismus bleibt in unserer Gesellschaft gegenwärtig. Fragt sich, ob die Mehrheit bereit ist, ihn wahrzunehmen.
Sie haben an öffentlichen Veranstaltungen gesagt, dass Sie als kleines schwarzes Mädchen in einer weissen Welt aufgewachsen sind. Ihr Vater ist Ghanaer und ihre Mutter Schweizerin, das heisst, Sie sind afrikanisch-europäischer Herkunft. Warum wurden Sie mehr mit Afrika als mit Europa in Verbindung gebracht?
Es wäre interessant, Weisse zu fragen, warum es ihnen nicht gelingt, Personen mit einer Mischidentität als Weisse zu betrachten. Ich konnte mich nirgends in meiner Mischidentität identifizieren, obwohl ich über einen vielfältigen kulturellen Hintergrund verfüge und mehrheitlich von einer weissen Frau erzogen worden bin. In meinem Fall hat die vorherrschende Norm und der Blick der anderen zur afrikanischen Prägung geführt. Die Schwarzen haben mich akzeptiert und als eine der ihren angesehen. Die Weissen haben mich eher abgelehnt und als anders identifiziert, schwarz und minderwertig. Zuerst habe ich diejenige Gruppe gewählt, in der ich mich am besten entfalten konnte. Es ist eine Tatsache: Ob tiefschwarz oder hellschwarz, man zählt zu schwarz und nicht zu weiss – denn diese Ungleichheit ist in der Vergangenheit entstanden. Wäre die Geschichte anders verlaufen, würde man 2020 vielleicht aufgrund der Ohrengrösse diskriminiert. Heute ist es für mich klare Sache, schwarz zu sein. Es beunruhigt und verunsichert mich nicht mehr wie früher.
Eine Frage der Einstellung, und schon lösen sich Diskriminierungen in Luft auf?
Nein. Es bleiben die strukturellen und alltäglichen Diskriminierungen. Für mich und viele andere. Je nach Situation bekomme ich sie als Frau, als Schwarze oder als schwarze Frau zu spüren. In der Arbeitswelt werde ich zum Beispiel mehrheitlich für mein Frausein bestraft. Im Alltag wird eher mit dem Finger auf meine Afrikanität gezeigt. Ein Beispiel, das unbedeutend erscheinen mag, aber nicht ist: Wenn ich Ski fahre und wandere, liegen in den Blicken der anderen oft Bewertungen in der Art: Ach, schau her, eine Schwarze in den Bergen, die muss wirklich gut integriert sein. Ich erinnere mich auch an die sexistische und rassistische Bemerkung eines Professors während einer mündlichen Prüfung über die Sklaverei: Passen Sie auf, junge Dame, wenn die Antwort falsch ist, peitsche ich Sie aus. Nicht immer endet heute Rassismus tödlich, und doch kann er sich jederzeit und überall manifestieren. Geschützt davor ist man nie wirklich, ausser in den eigenen vier Wänden.