TANGRAM 44

N wie …: Wettbewerb zum Kulturerbe der Kolonialzeit

Autorin

Kathrin Oester ist Mitglied der Jury, spezialisiert in visueller Anthropologie, Bildung und Migration. kathrin.oester@anthro.unibe.ch

Ein historisches Wandbild in einem Berner Schulhaus zeigt ein Alphabet mit rassistischen Stereotypen. Um das problematische Kunstwerk aufzuarbeiten, hat die Stadt Bern einen transdisziplinären Wettbewerb ausgeschrieben. Im Zentrum steht die Frage nach dem Umgang mit unserem kolonialen Erbe.

Im Jahre 1949 realisierten die Berner Maler Eugen Jordi und Emil Zbinden zusammen ein Wandbild im neu gebauten Schulhaus Wylergut in Bern. Es handelt sich dabei um ein illustriertes Alphabet - ein früher verbreitetes Lehrmittel. Um Kindern das Lesen und Schreiben zu erleichtern, setzten Didaktiker*innen das abstrakte Zeichen 'Buchstabe' in den Kontext eines konkreten Bildes, das den Laut mit der bildlichen Repräsentation verband: I wie Indianer, N wie Neger, C wie Chinese. Der didaktischen Logik und lerntheoretischen Überlegungen folgend hatten die bildlichen Illustrationen möglichst eingängig und plakativ zu sein. Denn die Aufmerksamkeit des lernenden Kindes sollte nicht auf einen visuell komplexen Sachverhalt gelenkt werden, vielmehr sollte dem Kind das Lernen des abstrakten Zeichens durch die Verbindung mit einem möglichst eingängigen Referenten erleichtert werden. Dies im Sinne einer Eselsbrücke, die den Buchstaben I ein für alle Mal mit dem Bild des Indianers verband.

Dass sich gerade die stereotypisierende Darstellung von Menschen aus 'fernen Kontinenten' so gut als Eselsbrücke eignete, führt uns mitten ins Thema des von der Stadt Bern ausgeschriebenen «Transdisziplinären Wettbewerbs zum Kulturerbe der Kolonialzeit» (1). Das Beispiel verweist auf die in der Schweiz der 1940er-Jahre unhinterfragten Stereotypisierungen von Menschen «anderer Hautfarbe».

Für Kinder als Adressaten des Wandbildes, aber wohl auch für die Maler und die Lehrpersonen jener Zeit, war das Verhältnis zu den dargestellten Menschen von einer aus heutiger Sicht erstaunlichen Unbekümmertheit und Ignoranz geprägt: Je ferner geographisch die Menschen, desto leichter musste damals deren Stereotypisierung fallen. Mit zum irritierenden Subtext des Wylergut-Alphabets gehört, dass die Menschen, die den Buchstaben als Referenten dienen, in Form der Produkte ihrer Arbeit – Kaffee, Gewürze und Schokolade –, aber auch als Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Alliierten gekämpft hatten, wichtiger Teil der 1940er-Jahre waren.

Dass Eugen Jordi und Emil Zbinden zu einer Gruppe kritischer, sozialistischer Maler gehörten, macht deutlich, dass die stereotypisierende Darstellung von Menschen aus «fernen Kontinenten» in jener Zeit auch von progressiver Seite kaum infrage gestellt wurde.

Komplexer Sachverhalt

Heute haben wir diese Unschuld verloren. Und im Zentrum des ausgeschriebenen Wettbewerbs steht die Frage nach dem Umgang mit unserem kolonialen Erbe. Anders als bei der strafrechtlichen Ahndung rassistischer Vorkommnisse in der Gegenwart, geht es beim historischen Wandbild nicht um das Dingfestmachen einer Täterschaft und deren Bestrafung. Denn der Sachverhalt ist insofern komplexer, als wir alle Verantwortliche sind. Wir sind alle Erben einer Geschichte, deren stereotypisierende Bilder «fremder Völker» unsere Gegenwart prägen und potenziell zu Gewalt und zur Verletzung der Identität nicht-weisser Bevölkerungsgruppen beitragen. In diesem Sinne sind wir alle auch Opfer einer simplifizierenden, Komplexität reduzierenden (Bild-)Sprache, die uns ein produktives Zusammenleben in einer kulturell vielfältigen Gesellschaft erschwert. Wie stark stereotypisierende Bilder den Alltag und das Zusammenleben prägen, zeigt heute das Racial Profiling und sein zunehmend gefährlicher Niederschlag in Algorithmen, die soziale, politische und polizeiliche Praxen prägen.

Hand in Hand mit der Transnationalisierung der Gesellschaft hat sich unser Empfinden beim Betrachten des stereotypisierten Indigenen, Afrikaners und Asiaten aber grundlegend verändert. Wir nehmen exotisierende Darstellungen heute im besten Falle als positive Diskriminierung wahr: Das folkloristische Outfit verbannt die dargestellten Menschen in eine vormoderne Zeit - sie gehören nicht dazu. Und wenn, dann bloss – und vor allem – als Zeichen für eine ferne Vergangenheit, für ein Leben anderswo. Dieses kann Ort der nostalgischen Sehnsucht sein, aber ebenso der herablassenden Verachtung.

Jordi und Zbindens Wandbild und dessen stereotypisierenden Darstellungen von «Fremden» sind ikonographisch also fest in der Kolonialzeit verankert. Sie sind symbolischer Ausdruck einer Gewalt, welche die Menschen in den ehemaligen Kolonien real erlitten haben (und vielerorts bis heute erleiden). Insofern die Schweiz auf vielerlei Weise an der kolonialen Ausbeutung beteiligt war – allen voran über ihre transnational tätigen Geldinstitute –, trifft auch sie die historische Schuld an der begangenen Ausbeutung und Gewalt.

Täter-Opfer-Schema überwinden

Die kritische Auseinandersetzung mit dem Wandbild von 1949 ist folglich eine Auseinandersetzung mit unserer Geschichte - in der Gegenwart. Es geht ums Erinnern und Durcharbeiten, um die Feststellung und Anerkennung einer kollektiven Schuld. Und es geht heute darum, wie die Beziehungen in einer transkulturalisierten Gesellschaft produktiv zu gestalten sind. Wird diese Frage ins Zentrum gerückt, wird unmittelbar deutlich, wie sehr die koloniale Vergangenheit Gegenwart ist und in welcher Weise die Rassismusstrafnorm selbst Ergebnis dieser Geschichte ist. Diese ist nicht nur in unseren Wirtschaftsbeziehungen, der Migrationspolitik, den Konsumprodukten und im Tourismus allgegenwärtig, sondern auch in der alltäglichen Diskriminierung am Arbeitsplatz, in den Schulen und nicht zuletzt in den Routinen des Racial Profiling und der Polizeigewalt. Die Kolonialgeschichte wird zwar kritisch hinterfragt, aber ebenso unkritisch wird sie jeden Tag fortgeschrieben und unsichtbar gemacht – etwa durch eine geschichtsvergessene Diversitäts-Politik, die mit denselben Management-Strategien Behinderte, Frauen und Migrant*innen integrieren will.

Allerdings sind Begriffe wie «historische Schuld», «Vergangenheitsbewältigung» und «Wiedergutmachung» gefährlich, da die Selbstanklagen häufig ohne ökonomische und politische Konsequenzen bleiben. Das haben People of Color (zusammen mit solidarischen Weissen) längst erkannt, und sie setzen sich dagegen zur Wehr: theoretisch im post- und dekolonialen Diskurs, mit künstlerischen und musikalischen Mitteln, mittels globaler politischer Proteste, mit Strategien der Ironisierung und des Sarkasmus – talking back. Es hat also niemand auf die weinerliche Selbstanklage der Weissen gewartet. Denn solche Selbstanklagen dienen nur zu oft der (ungewollten) Reproduktion von «Wir und die Anderen», Opfern und Tätern. Die Antwort auf das Wandbild von 1949 muss folgerichtig aus der transnationalisierten Gesellschaft und einem multikulturell zusammengesetzten Team kommen. Für dieses Team gilt es, in der kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte und mittels der gemeinsamen künstlerischen Produktion das Täter-Opfer-Schema zu überwinden. Damit entsteht ein für transnationalisierte Gesellschaften wichtiges Praxisfeld.

Mit seiner visuellen Präsenz in der Öffentlichkeit schreibt das Berner Wandbild die Kolonialzeit fort und verlangt nach einer Antwort. Damit sind wir mitten in der intensiv geführten Debatte, die zur Durchführung des vorliegenden Wettbewerbs geführt hat:
Festgelegt wurde in der Ausschreibung, dass die Debatte über die koloniale Schweiz anhand einer Auswahl der eingegangenen Projekte öffentlich geführt werden soll. Vorentschieden wurde auch, dass sich die Projektteams transdisziplinär zusammensetzen sollen, z.B. aus Künstler*innen, Sozialwissenschaftler*innen und Pädagog*innen. Dabei bleibt offen, mit welchen ästhetischen, intellektuellen und pädagogischen Mitteln die Antwort gestaltet wird.

Darauf mochte eine Gruppe von Aktivist*innen nicht warten: im Zeichen der Black Lives Matter-Bewegung übermalte sie im Juni die stereotypisierten Darstellungen schwarz.

Mit Hinweis auf die Unterstützung der «aktuellen Debatte gegen Rassismus» verzichtete die Stadt Bern auf eine Strafanzeige und löste damit kontroverse Reaktionen aus. Die fünf Wettbewerbsteams sind nun herausgefordert, mit ihren Projekten auf die aktivistische Intervention zu reagieren.

Vielfältige Projektideen

Letzten Herbst hatte die Jury von 25 Eingaben fünf zur Ausarbeitung für die zweite Wettbewerbsrunde ausgewählt. Nach einer öffentlichen Ausstellung der Projektideen und einer Debatte, die aufgrund der Corona-Epidemie auf diesen Herbst verschoben werden musste, wird die Jury anschliessend ein Projekt zur Ausführung empfehlen.

Den fünf Projektvorschlägen ist gemeinsam, dass sie dem stereotypisierenden Wandbild etwas Anderes gegenüberstellen, etwas vor das Wandbild rücken oder das Wandbild entfernen und verrücken (um ihm einen neuen Ort zu geben). Allen Eingaben gemeinsam ist auch, dass sie einen Bezug zur kolonialen Geschichte herstellen und daraus reflektierend einen Lernanlass für Schüler*innen gestalten. Allerdings tun sie dies ästhetisch, intellektuell und pädagogisch auf ganz unterschiedliche Weise.

Für die Jury wird ein wichtiges Kriterium im Selektionsprozess die Nachhaltigkeit sein: Welches Projekt kann die Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichte und der post-kolonialen Gegenwart am überzeugendsten und über einen längeren Zeitraum - d.h. auch für kommende Generationen von Schüler*innen - in Gang setzen? Das sind hohe Anforderungen an die transdisziplinären Teams, denn es gilt analytisch, ästhetisch und pädagogisch einen weiten Bogen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu spannen.

Note:
Auf der Website finden sich die Wettbewerbsausschreibung und die Angaben zu den Jury-Mitgliedern. www.bern.ch> wandbild-wylergut.