Autor
Cédric Terzi ist Soziologe. Er ist Dozent für Informations- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Lille und Forscher am Centre d’Etude des Mouvements sociaux der EHESS, Paris. cedric.terzi@ehess.fr
Das Interview führte Samuel Jordan
«Der Verschwörungswahn ist seit 2001 zum Politikum geworden», sagt Cédric Terzi. Der Soziologe betrachtet ihn als polemische Beziehung zwischen zwei Lagern: auf der einen Seite die Ankläger (die Klarsichtigen), auf der anderen die Angeklagten (die Getäuschten). Seiner Meinung nach lässt dieses Misstrauensverhältnis wenig Raum für eine demokratische Debatte und öffnet dem Rassismus Tür und Tor.
Wie würden Sie den Begriff Verschwörungswahn definieren?
Der Verschwörungswahn ist ein neueres politisches Phänomen, das sich in den rund 20 Jahren seit dem 11. September 2001 verbreitet hat. Der Begriff Verschwörungswahn ist militant. Er wird herbeigezogen, um eine ernsthafte Bedrohung zu bezeichnen, die es gezielt und mit den nötigen Mitteln zu bekämpfen gilt. Er ist natürlich abgeleitet vom Begriff der Verschwörung, der existiert, seit Gesellschaften politisch organisiert sind. Wer von Verschwörung spricht, meint damit, dass Individuen oder Gruppen geheime Machenschaften treiben. Entstanden ist der Begriff des Verschwörungswahns durch die Mobilisierung der Denunzianten von Verschwörungstheorien. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Zeitgenossen zu warnen vor der massiven Verbreitung von Irrglauben, Fehlargumenten (Sophismen) und deren zerstörerischen Auswirkungen auf das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die öffentlichen Institutionen. Es ist ihnen gelungen, jede Kritik an der allgemein anerkannten Einordnung eines Ereignisses als grosse Bedrohung für die Demokratie erscheinen zu lassen. Aber gerade um die Demokratie zu erhalten, braucht es ab diesem Punkt drastische Präventionsmassnahmen.
Sie würden also den Verschwörungswahn nicht auf die Verbreitung von Irrglauben mit einem klaren Ziel reduzieren? Sie beschreiben ihn als Konfrontation zwischen verschiedenen Akteuren…
Ich betrachte gesellschaftliche Probleme aus soziologischer Sicht und lasse mich von der Überzeugung leiten, dass sich eine Gesellschaftsform charakterisiert durch die Fragen, die sie sich stellt, ihren Umgang damit und ihre Mittel zur Bewältigung von Problemen. Daher beobachte ich, dass der Verschwörungswahn als polemische Beziehung zwischen zwei Lagern entstanden ist: Anklagende und Angeklagte. Auf der einen Seite widersprechen die Militanten – oder die «Spinner» – der allgemein anerkannten Darstellung der Sachverhalte, die sie als «offizielle Version» bezeichnen, und behaupten, geheime Verschwörungen zu enthüllen, oft im Zusammenhang mit der Politik und der Finanzwelt. Auf der anderen Seite stehen die Denunzianten des Verschwörungswahns, die alles tun, um die als irreführend und «paranoid» bezeichneten alternativen Argumentationen zu entlarven. Schliesslich beschuldigen sich die beiden Lager gegenseitig, demokratische Werte zu untergraben. Beide Seiten rufen die Öffentlichkeit dazu auf, Massnahmen zu ergreifen, um das Problem zu regulieren oder zu lösen. Mit der Beschreibung der Interaktion dieser drei Gruppen von Akteuren möchte ich zu einem besseren Verständnis der Organisation unseres gesellschaftlichen Lebens beitragen. Ich stelle aber fest, dass die Forschenden ihre wissenschaftliche Arbeitsweise oft vernachlässigen, wenn sie gesellschaftliche Probleme definieren, und dass sie sich auf einen polarisierenden politischen Kampf um diese Themen einlassen. Dadurch wird das «Wissenschaftliche» mindestens teilweise durch das «Politische» überlagert.
Bezeichnen Ihrer Meinung nach die Begriffe «Verschwörungswahn» und «Verschwörungstheorie» nicht das Gleiche?
Die beiden Begriffe sind in der Tat austauschbar geworden, das ist bedauerlich. Wie ich bereits gesagt habe, ist «Verschwörungswahn» die Bezeichnung für ein gesellschaftliches Problem oder ein Politikum. Es geht eindeutig um einen Beziehungsbegriff. «Verschwörungstheorie» ist etwas ganz anderes. Es handelt sich dabei um falsche Überzeugungen, die man in einer Liste zusammenstellen könnte. Dazu ein Beispiel: Konkret führen die Denunzianten der Verschwörungstheorien Meinungsumfragen durch, um das statistische Ausmass des Problems aufzuzeigen und die Behörden zu den nötigen Schritten dagegen zu veranlassen. Meinungsumfragen als Warnsignal sind ein probates Mittel, denn sie führen zu drei entscheidenden Definitionen des Verschwörungswahns: 1. Sie assoziieren eine Klasse von falschen Aussagen mit einer Bevölkerungskategorie, die als Risikogruppe bezeichnet wird. 2. Sie führen zu einer deutlichen Trennung: die klardenkenden Menschen gegenüber den getäuschten, leichtgläubigen, die in die Verschwörungsfalle tappen. 3. Sie bezeichnen Bevölkerungskategorien, die falsch glauben oder falsch denken.
Sie betrachten also diese Umfragen als Hindernis für eine öffentliche Debatte und für das gute Funktionieren einer liberalen Demokratie...
Diese Umfragen führen zu einer polemischen Definition des Verschwörungswahns. Sie teilen die Bevölkerung in zwei antagonistische, unversöhnliche Lager, lassen keinen Raum für Auseinandersetzungen oder Kontroversen und sind daher tatsächlich eine Gefahr für die liberale Demokratie. Diese Haltung gegenüber dem Verschwörungswahn schränkt das Handlungsspektrum für geeignete Reaktionen drastisch ein. Sobald die Risikogruppen aufgrund von Umfragen identifiziert sind, muss man ihnen nur noch erzieherische Massnahmen angedeihen lassen (oder aufzwingen), um ihnen das «richtige» Wissen und das «richtige» Denken beizubringen. So ist es nicht erstaunlich, dass sich die Leitmedien und die Schulen an vorderster Front der Anti-Verschwörungs-Initiativen wiederfinden. Die Medien haben unzählige Rubriken, Sendungen und Websites mit «Faktenchecks» gestartet, um Fake News zu entlarven und komplizierte Sachverhalte zu klären. Die Schulen unternehmen alle Anstrengungen, um den kritischen Verstand der Schülerinnen und Schüler zu wecken, der sonst den Vereinfachungen des Verschwörungsdenkens zum Opfer fallen könnte.
Wenn ich Sie richtig verstehe, sind die Anti-Verschwörungs-Initiativen nicht von Vorteil für unser Zusammenleben…
Tatsächlich könnten solche Massnahmen die Polemik eher anheizen, anstatt die Lage zu beruhigen. Einerseits stützt die Allianz der Denunzianten der Verschwörungen mit den Behörden, den Bildungsinstitutionen, der Forschung und den Leitmedien den Verdacht, dass es im Interesse der Mächtigen liegen könnte, unangenehme oder kompromittierende Realitäten zu verbergen. Andererseits täuschen sich in einer solchen Polemik die Denunzianten der Verschwörungen und ihre Anhänger, wenn sie glauben, das Monopol der Klarsicht und des kritischen Denkens zu besitzen, denn genau das nehmen auch diejenigen Gruppen für sich in Anspruch, die sie als Verschwörer im Visier haben.
Wie Sie sagen, muss kritisches Denken gegenüber den Mächtigen und den Behörden erlaubt sein, ohne dass man zwingend in die Ecke der Verschwörer gedrängt wird. Aber was soll man sagen, wenn sogenanntes alternatives Denken sich eben ausdrücklich gegen ethnische oder religiöse Minderheiten richtet? Halten Sie die Theorie des grossen Austauschs oder das Wiederaufleben der antisemitischen Streitschrift «Protokolle der Weisen von Zion» nicht für eine Gefahr für das Gleichgewicht unserer Gesellschaften?
Ich verstehe Ihre Besorgnis. Wir leben in einer Zeit der Spaltungen und der Konfrontation, die Gewalt- und Hassreden den Weg bereiten. Wir müssen mehr denn je bei den Fakten bleiben. Bei diesen beiden Beispielen besteht das Vorgehen darin, die «Protokolle der Weisen von Zion» und die Theorie des grossen Austauschs nachzuverfolgen und zu aufzuzeigen, dass es sich im ersten Fall um einen falschen Antisemitismus und beim zweiten um einen hasserfüllten Betrug handelt. Diese Klarstellungen sind schon vor Langem gemacht worden und sind in unzähligen Formen verfügbar. Meines Wissens hat dies aber nicht genügt, um ihre Verbreitung zu stoppen oder zu verlangsamen. Den Betrug und die Gefahr dieser Texte und Ideen nur zu entlarven, ohne zu berücksichtigen, welche gesellschaftlichen Zusammenhänge ihre Verbreitung begünstigen, kann auch die Polemik und die Gegensätze und somit die Entschlossenheit derer bestärken, die solche Ideen verbreiten.
Was antworten Sie denen, die behaupten, dass solche verschwörerischen Inhalte den Rassismus anheizen?
Rassismus und allgemein identitäre Konfrontationen – Verachtung und die Feindseligkeit oder Gewalt, zu der sie führen kann – beschränken sich weder auf Taten (was getan wird), noch auf Worte (was gesagt wird). Sie sind vielmehr eine Frage des Ethos, eines Verhaltens und eines Bezugs zu den anderen. Alles weist darauf hin, dass das Klima der sozialen Beziehungen rauer wird, dass die Diskussionen oft in Polemik umschlagen, dass politische Konflikte regelmässig in harte Konfrontationen ausarten und dass sich identitäre Zuweisungen vervielfachen. Und die Art, wie der Verschwörungswahn heute verstanden wird, verschlimmert diese konfrontative Dynamik noch zusätzlich. Der Verschwörungswahn ist ein Kampf, in dem sich bestimmte Bevölkerungskategorien einander gegenseitig falsche Überzeugungen und falsche Denkweisen vorhalten. Damit sind alle Voraussetzungen erfüllt, um neue identitäre Fronten zu eröffnen und den Rassismus anzuheizen. Dies umso mehr, wenn die Konfliktparteien sich gegenseitig als echte Bedrohung wahrnehmen.