Autoren
Myriam Diarra ist Bewegungspädagogin und -therapeutin und in verschiedene Tanz- und Theaterprojekte involviert. myriamdiarrra@gmail.com. Franziska Schutzbach ist Soziologin und Geschlechterforscherin und lehrt an verschiedenen Universitäten. franziska.schutzbach@unibas.ch.
Seit der Ermordung von George Floyd durch einen weissen Polizisten am 25. Mai 2020 ist viel passiert. Weltweit kam es zu Protesten gegen rassistische Polizeigewalt und gegen antischwarzen Rassismus. Es wurde ein Zeitfenster erkämpft, in dem es möglich war, über Rassismus zu sprechen. Auch hier in der Schweiz.
In Genf demonstrierten im Juni über 10'000 Menschen gegen Rassismus, in Basel, Zürich, Biel und anderen Schweizer Städten gingen Menschen auf die Strasse, und in den Medien wurde über die kolonialrassistische Vergangenheit und Gegenwart der Schweiz diskutiert. Expert*innen gaben Interviews, die Migros und andere Detailhändler zogen den M****kopf aus dem Sortiment.
Viele Menschen, die sich vorher kaum für das Problem interessierten, traf man plötzlich an Kundgebungen an. Es schien, als wäre die Zeit reif – oder zumindest reifer – für eine Auseinandersetzung, wie sie vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Diese Solidarität ist, besonders für rassismusbetroffene Menschen, eine wichtige Erfahrung. Und gleichwohl ist sie ambivalent. Es kam die Frage auf: Wo wart ihr all die Jahre? Dass eine breite Auseinandersetzung rund um Rassismus in der Schweiz erst jetzt stattfindet, kann einerseits frustrierend sein für diejenigen, die schon lange auf das Problem hinweisen. Andererseits ist sie eben jetzt möglich, weil unzählige Menschen wichtige, wenn auch oft unsichtbare antirassistische Vorarbeit geleistet und den gesellschaftlichen Wandel längst angestossen haben.
Die derzeitigen Auseinandersetzungen sind nicht ein Anfang, sondern sie sind Ausdruck dieser Vorarbeit, und nicht zuletzt sind sie Ausdruck davon, dass sich tradierte Machtstrukturen bereits grundlegend verändern. Die offen ausgetragenen Konflikte – zum Beispiel um Begriffe, Statuen, Polizeigewalt oder Einbürgerungspraxen – sind ein Indikator dafür, dass Ungleichheit und Diskriminierung abnehmen und weiter abnehmen werden. Die Migrationsforscherin Naika Foroutan nennt es das Tocqueville-Paradox: Es kommt nicht zu Auseinandersetzungen, wenn die Unterdrückung am schlimmsten ist, sondern dann, wenn mit Reformen begonnen wurde. Anders gesagt: In einer Situation unhinterfragter Unterdrückungsstrukturen ist es schwierig, Ungleichheit anzuprangern und Forderungen zu stellen.
Tatsächlich sind heute Minderheitenanliegen bekannt, von denen vor wenigen Jahren noch kaum jemand wusste. Je mehr Sichtbarkeit und Legitimität diese Anliegen erhalten, desto eher nimmt auch das Bewusstsein dafür zu, wenn sie missachtet werden. In dem Moment also, in dem sich die Dinge in Richtung mehr Teilhabe und Gleichheit verändern, erscheint die Gesellschaft paradoxerweise erst einmal besonders ungerecht. Auch deshalb, weil mit der zunehmenden Sichtbarkeit von Minderheitenanliegen meist auch verstärkte Zurückweisungen einhergehen. Je selbstbewusster die Forderungen nach Veränderung vorgetragen werden, desto aggressiver wird versucht, diese abzuwehren und den Status quo zu wahren. Oder anders gesagt: Je offensiver Rassismus kritisiert wird, desto offensiver tritt dieser zutage. Das ist die Kehrseite jeglichen emanzipativen Wandels und eine Erfahrung all jener, die sich in den letzten Monaten öffentlich zu Rassismus geäussert haben. Viele wurden angegriffen, delegitimiert, lächerlich gemacht. Etwa in Kommentarspalten, auf Social Media oder indem rechte Politiker öffentlich M****köpfe verspeisten.
Es sind die vorhersehbaren Reaktionen derjenigen, die Privilegien und Einfluss abgeben müssen. Es sind die Reaktionen von Menschen, die die Definition von Sprache und Erinnerungskultur (siehe Streit um Statuen) aber auch mediale Aufmerksamkeit, politischen Einfluss, Macht und Ressourcen zunehmend teilen müssen. Ein solcher Macht-Transformationsprozess ist kein Sonntagsspaziergang sondern führt unweigerlich zu Konflikten. Der M****kopf ist nur ein kleines Beispiel: Die Möglichkeit, unbescholten einen Begriff zu benutzen, wird jenen, für die er selbstverständlich war, weggenommen. Diejenigen, die bisher nicht reflektieren mussten, was sie sagten oder wie sie sich verhielten, erleben das verständlicherweise als Einschränkung und Verlust.
Der Verlust an Deutungshoheit zeigt sich aktuell auch in den Medien: Das Schweizer Fernsehen etwa plante im Zuge der Rassismusdebatte eine Sendung unter dem gut gemeinten Titel «Jetzt reden wir Schwarzen». Man lud schwarze Menschen ein, aber nur wenige, und liess sie zudem während der Sendung in der zweiten Reihe sitzen. Während in der ersten Reihe eine weisse SVP-Politikerin und ein republikanischer Trump-Anhänger in weiten Strecken das Gespräch dominierten. Etwa, indem sie rassistische Klischees bedienten. All das passierte, weil solche Sendungen – so wie auch andere kulturelle Formate - in diesem Land bisher von Menschen gemacht werden, die wenig bis keine Ahnung von Rassismus haben. Diese Menschen fühlten sich, wie der Moderator und Journalist Uğur Gültekin auf Facebook die Sendung kommentierte, in ihren Privilegien bisher so sicher, «dass sie sich eine derartige Ignoranz gegenüber den Lebensrealitäten und Erfahrungen der ‘Anderen’ (die in vielen Fällen Schweizer Staatsbürger sind!) überhaupt leisten können. »
Diese Ignoranz gerät nun zunehmend unter Druck. So gab es umgehend laute öffentliche Stimmen, die die besagte Arena scharf kritisierten. Die Macher*innen mussten sich rechtfertigen und es kam zu einer Wiederholung der Sendung. Diesmal mit einem hundertprozentigen Anteil von Menschen of Color. Sofort hiess es, die öffentlichen Medien liessen sich in der Schweiz die Meinung «diktieren». Und ein Stück weit stimmt das auch. Nur ist nicht zwangsläufig negativ, sich von anderen - von Expertinnen etwa - etwas sagen zu lassen. Vor allem dann, wenn es nicht, wie behauptet wurde, um die Durchsetzung von autoritären Massnahmen geht, sondern: Wenn Medien und andere demokratische Instanzen bereit sind, dazu zu lernen, ist das Ausdruck einer sich pluralisierenden, offenen Gesellschaft und eben gerade nicht Ausdruck von «Totalitarismus». Die Neugestaltung der Arena war der Versuch, das Thema Rassismus sachgerechter aufzubereiten und dabei mehr Teilhabe und also mehr Demokratie zu ermöglichen.
Aber Teilhabe führen eben nicht nur zu Harmonie. Die Teilhabe von unterschiedlichen Menschen geht einher mit der Zunahme von Kontroversen, mit Verteilungs- und Interessenkonflikten. Das hat auch, wie der Migrationsforscher Aladin El-Mafaalani schreibt, mit einer neuen Generation von Menschen mit Migrationshintergrund zu tun: Die erste Generation der Einwandernden war noch vergleichsweise bescheiden und fleissig und beanspruchte keine volle Zugehörigkeit, wollte keine Teilhabe am gesellschaftlichen Kuchen. Die ersten Nachkommen begannen, sich an den Tisch zu setzen und bemühten sich um einen guten Platz (soziale Positionen) und ein Stück des Kuchens (gesellschaftliche und ökonomische Teilhabe). Nach einer länger andauernden Phase der Integration geht es jetzt nicht mehr nur um ein Stück des bestehenden Kuchens, sondern auch darum, welcher Kuchen auf den Tisch kommt. Die Rezeptur des Kuchens und die Regeln am Tisch werden neu ausgehandelt.
Das wird schnell als Zumutung empfunden. Diejenigen, die es gewohnt waren, dass ihre Sichtweise als überlegen, als wichtiger galt, werden zurückgestuft. Und zwar ausgerechnet von denjenigen, die in der gesellschaftlichen Hierarchie eher unten standen (Frauen, Migrant*innen usw.). Wenn diejenigen, die man als «schwach» oder minderwertig betrachtet, sich eine Position der Stärke und Gleichrangigkeit erlauben, wird das unweigerlich als unerhört empfunden, als «extrem» oder «totalitär». So besagen Studien: Wenn der Frauenanteil in einer Gruppe 50 Prozent beträgt, wird das von Männern oft als Frauen-Übermacht wahrgenommen. Wenn Menschen, die man nicht als gleichrangig betrachtet, als solche auftreten oder prozentual gleich viel mitreden und mitbestimmen, wird das nicht als ein akzeptabler Durchbruch von Gleichrangigen anerkannt (so, wie etwa männliche Opponenten einander zum Sieg gratulieren, weil sie sich als gleichrangig betrachten). Der Aufschwung der vermeintlich «Schwachen» bzw. deren Gleichstellung wird vielmehr als illegitimer Angriff, als eine «Machtübernahme» empfunden.
Tatsächlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass es bei Gleichstellungsprozessen oder der Herstellung von tatsächlicher Chancengerechtigkeit darum geht, die bisherige Höherstellung und Bevorzugung mancher Menschen im Verhältnis zu anderen aufzuheben. Es geht eben tatsächlich um eine Einschränkung von bisherigen Privilegien. Anderes gesagt: das Verlustgefühl derjenigen, die bisher von besseren Chancen profitierten, ist nicht ganz falsch. Entgegen der naiven Vorstellungen, die Herstellung von Gerechtigkeit verlaufe zum Wohle und zur Freude aller, ist der Vorgang der Emanzipation auch ein Vorgang von Zurückstufung, Verlust und Einschränkung von Vorteilen. Diese Einschränkungen sind gemäss dem Politikwissenschaftler Karsten Schubert nicht einfach ein unangenehmer Nebeneffekt emanzipativer Politik, sondern ihr notwendiger Kern.
Der Weg zu einer gerechteren Gesellschaft wird deshalb kaum harmonisch ablaufen – selbst wenn Antidiskriminierung auf lange Zeit der Gesellschaft als Ganzes zu Gute kommt und zu einem besseren Zusammenleben aller führt. Aus liberaler Sicht werden die antagonistischen Vorgänge von Emanzipation meist abgestritten bzw. Emanzipationsprozesse werden als machtfreie Entwicklungen idealisiert, in denen es um die Verwirklichung gleicher Freiheit für alle geht. Oft wird etwa, wie Karsten Schubert ausführt, politisch korrekte Sprache bejaht, solange sie nur als politisches Argument auftritt. Wenn sie sich in sanktionsbewährten Regeln niederschlägt, gilt es als «totalitär». Eine solche Sicht stellt emanzipatorische Politik und das Einklagen von Nichtdiskriminierung als Verletzung von individuellen Rechten dar und delegitimiert sie damit. Die tatsächliche Umsetzung von Nicht-Diskriminierung ist aber ohne Sanktionen, wenn diese nicht eingehalten werden, kaum zu erreichen. Auch ist eine Einschränkung von individuellem Verhalten nicht grundsätzlich problematisch oder anti-liberal. Sie wird es erst dann, wenn dadurch die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie infrage gestellt werden.
Aber ist die liberale Demokratie tatsächlich bedroht, wenn in Verwaltungen eine gendersensible Sprache verwendet werden soll oder wenn der M*****Kopf aus dem Sortiment genommen wird? Stellt es die liberale Gesellschaft in Frage, wenn an Schulen und Universitäten mehr über nicht-weisse Menschen oder Frauen gelehrt werden muss, wenn Menschen mit Migrationserfahrungen in Institutionen oder Jobs mehr befördert werden, oder wenn unabhängige Beschwerdestellen eingerichtet werden, die Racial Profiling prüfen? Unterminieren wir die Freiheit, wenn Statuen von Sklavenhändlern ins Museum gebracht oder mit Schildern versehen werden?
Nein. Natürlich ist die liberale Demokratie dadurch nicht in Gefahr. Denn es geht bei diesen Forderungen um mehr Demokratie, um mehr Inklusion und um mehr Teilhabe. Es geht darum, den in demokratischen Verfassungen und Grundgesetzen festgehaltenen Auftrag der Antidiskrimierung tatsächlich durchzusetzen. Man muss nicht mit jeder dieser Forderungen einverstanden sein und man mag die eine oder andere konkrete Protestform falsch finden - etwa das Herunterreissen von Statuen, Shitstorms im Internet usw. Aber zu behaupten, die Forderungen nach einer neuen Erinnerungskultur oder das Einstehen für eine nicht-diskriminierende Sprache würden eine totalitäre Herrschaft errichten, ist falsch. Diese Forderungen haben gerade keine totalitäre Gesellschaft im Blick, sondern das Ziel, sie zu demokratisieren und die Bedürfnisse und Lebensweisen von vielen, nicht nur von wenigen zu berücksichtigen.
Es geht bei Antidiskriminierung gerade nicht um eine Politik, die die Macht von wenigen zementieren soll – das wäre im eigentlichen Wortsinn totalitär. Sondern es geht um die Neujustierung von Regeln, die es möglich machen, Macht und Chancen gerechter, das heisst an viele zu verteilen. Dass das nicht ohne Verluste und Einschränkungen geht, lässt sich nicht verhindern, ist aber kein «Totalitarismus».
Um es noch einmal klar zu formulieren: Die Umsetzung von Antidiskriminierung ist nicht einfach ein Verwaltungsakt, der universelle Freiheit herstellt, von der alle gleich profitieren. Sondern es geht eben in der Tat oft um die Förderung von Spezialinteressen, von bestimmten Menschen, die zwangsläufig eine «Schlechterstellung» von jenen, die bisher Vorteile hatten, mit sich bringt. Quoten zum Beispiel bevorzugen und fördern bestimmte Menschen. Natürlich bedeutet das eine (temporäre) Schlechterstellung derjenigen, die nicht in die Quote fallen. Das ist aber nicht anti-liberal, sondern: eine solche Schlechterstellung ist, wie auch juristisch festgestellt wurde, angesichts der vorherrschenden und historischen Unterrepräsentation bestimmter Menschen menschenrechts- und verfassungskonform. Quoten dienen einem verfassungsdienlichen Zweck – der tatsächlichen Durchsetzung von Antidiskriminierung und Gleichheit – und sind deshalb verhältnismässig. Denn sie beruhen auf der nachweislich strukturellen Benachteiligung einer bestimmten Gruppe in bestimmten Bereichen. Dementsprechend ist es inzwischen juristischer Mainstream, dass eine Schlechterstellung von bestimmten Menschen, zum Beispiel über eine Quotenregelung gerechtfertigt sein kann.
Menschen of Color, Menschen mit Migrationshintergrund, Frauen, queere Menschen, Menschen mit Behinderung und viele andere wollen endlich als vollwertige Subjekte mitreden und fordern nicht nur ein Stück vom vorhandenen Kuchen, sondern neue Rezepte. Dass die Aushandlung neuer Regeln des Zusammenlebens nicht harmonisch abläuft, ist kein Zeichen von «Polarisierung» oder «Spaltung», wie von konservativer Seite oft behauptet wird. Vielmehr ist dies ein Ausdruck davon, dass die realen Konfliktlagen offen zutage treten und benannt werden. Und das ist eine Voraussetzung dafür, dass emanzipatorische Schritte stattfinden können.