Autor
Esteban Piñeiro ist Professor an der Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz. Er forscht zur Schweizer Integrationspolitik und zu Ethnizität im Kontext der öffentlichen Verwaltung. esteban.pineiro@fhnw.ch
Die Geschichte der Migration ist eine Geschichte politischer Kämpfe für und gegen die anderen. Seit den Anfängen der Ausländerpolitik wurde mit dem Fremden und Überfremdungsängsten in der Schweiz polarisiert. Auch heute noch provoziert das Thema Migration Spaltungen und Verhärtungen. In welchem Verhältnis steht eigentlich die offizielle Integrationspolitik dazu?
Migrationspanik, Krisenrhetorik gegen Flüchtlinge und sozialpolitische Empörungsnarrative nähren die Kontroversen um jene Menschen, die kamen, um zu bleiben. In den letzten hundert Jahren wurden sie wiederholt als «unerwünschte Fremde» diskriminiert und zu «Triggerpunkten» eines nationalistischen und rechtspopulistischen Alarmismus hochstilisiert. Das beunruhigende Gefühl, das auch heute noch Gesinnungskämpfe und streitende Parteien antreibt, hat Zygmunt Bauman einmal «Mixophobie» genannt: die Angst vor einem nicht beherrschbaren Ausmass an Unbekanntem. Solche Gefühle können sich zu toxischer Gegnerschaft ausformen und xenophobe oder rassistische Züge annehmen. Vor dieser metaphysischen, hochentzündlichen Energie sollten sich unsere Gesellschaften in Acht nehmen. Denn glaubt man der jüngsten Polarisierungsdiagnose von Mau, Lux und Westheuser, so scheint bei dem gegenwärtigen Gerede um gesellschaftliche Spaltungsdynamiken nur ein Thema wirklich von sozialer Sprengkraft zu sein: das Thema Migration. Darüber hinaus lasse sich bei uns eine affektive Polarisierung, wie sie für den US-Kontext festgestellt wird, empirisch nicht nachweisen.
Das mag wohl daran liegen, dass Nationalstaaten eine scheinbar unauflösbare Grundspannung innewohnt: Staatlich-territoriale Kontrolle trifft auf Wanderungsbewegungen und Migrationsbiografien. Daran entzünden sich Konflikte um den Grad an territorialer Öffnung oder Schliessung, um soziale Barrieren und humanitäre Aufnahmen oder um ökonomische Erwartungen oder politische Rechte. Über viele Jahrzehnte hinweg wurde der Affekthaushalt westlich-demokratischer Gesellschaften für solche Spannungen bewusst sensibilisiert.
Inzwischen wird der Dissens als Diversitäts- oder Dichtestress politisch kapitalisiert. Wenig überraschend gelten Abwehren und Ausgrenzen weiterhin als probate Mittel in der Migrations- und Flüchtlingspolitik. Man wird sich aber gleichzeitig fragen müssen, was die Politik der Integration mit den gegenwärtigen Verteidigungstaktiken zu tun hat. Denn mit dem offiziellen Leitbild der Integration gewann Mitte der 1990er-Jahre eine politische Kraft an Bedeutung, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Ideal einer vielfältigen, von Migration geprägten Gesellschaft propagiert. Der Bundesrat (und die Bundesverwaltung) liess ethno-kulturelle Vielfalt als Bereicherung erscheinen und begann, die Zugewanderten als gesellschaftliches Potenzial zu fördern.
Zumindest auf diskursiver Ebene stellte dieses neue staatliche Programm das jahrzehntelang kultivierte Ausländerproblem auf den Kopf. Fortan galt es, geeignete Rahmenbedingungen für die Integration zu schaffen – und nicht mehr wie früher, die ausländische Bevölkerung zu bekämpfen. Für diese positive Neubewertung der Migration finden sich vielerlei Gründe. Mit Blick auf eine Polarisierung gegen Ausländerinnen und Ausländer soll hier eine These profiliert werden, die zunächst einmal etwas ungewohnt klingen mag.
In den Anfängen der Schweizer Ausländerpolitik Anfang des 20. Jahrhunderts verfolgte der Bundesrat eine fremdenpolizeiliche Strategie der Überfremdungsabwehr. Die Behörden stuften den «Ausländerzudrang» als eine «sehr akute Überfremdungsgefahr» ein, welche die «Aufnahmefähigkeit des Landes» überforderte. Das damals dominierende offizielle Überfremdungsszenario polarisierte. Die staatliche Statistik teilte die Gesamtbevölkerung in zwei durch Staatsbürgerschaft gespaltene Bevölkerungsblöcke, die in einem unverträglichen Verhältnis zueinanderstanden: Nicht nur, dass die Einflüsse der Fremden die «Eigenart» der Schweizer langsam zu «zerstören» drohten. Wuchs die ausländische Bevölkerung mengenmässig an, so verringerte sich der Anteil der Schweizer an der Gesamtbevölkerung – bis sie gänzlich zu verschwinden drohten. Dieser vitalen Gefahr für «Volk» und «Vaterland» wollte sich der Staat mit «entsprechendem Energieaufwand der Behörden» entgegenstellen. «Kampf» schien «unausbleiblich». Bereits 1917 wurde die eidgenössische Fremdenpolizei eingerichtet, 1934 ein erstes Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) in Kraft gesetzt. Die Behörden reglementierten und registrierten mit Beharrlichkeit, um den «Zustrom» der Fremden zu drosseln. Die stetig «ansteigende Ausländerkurve» sollte durch eine restriktive Bewilligungspraxis ausgebremst und durch eine konsequente behördliche Beschränkung der Aufenthaltsdauer bzw. Niederlassungen verringert werden.
Die Polarisierung der Ausländerfrage nahm in den 1960er-Jahren eine neue Qualität an. Die Ablehnung gegenüber Ausländerinnen und Ausländern entwickelte sich zu einem veritablen öffentlichen Konflikt. Politische Gruppierungen bekämpften die ausländische Bevölkerung mit den Mitteln der Demokratie. Eine ganze Serie von Überfremdungsinitiativen forcierte den restriktiveren Umgang mit den «Fremdarbeitern» und forderte eine Senkung des Ausländeranteils auf 10 Prozent. Rechtspopulistische Akteure bewirtschafteten nicht nur die traditionelle Spaltung zwischen einheimischer und ausländischer Bevölkerung. Sie stellten auch die offizielle Überfremdungspolitik des Bundesrates infrage. Obwohl die Volksinitiativen (z. T. knapp) scheiterten, dominierte der Überfremdungsdiskurs weiterhin die offizielle Politik.
Allerdings begann der Bundesrat, das «Überfremdungsproblem» vermehrt als gesellschaftlichen Konflikt zwischen der schweizerischen und ausländischen Bevölkerung zu rahmen. Als eigentliches Kernproblem entpuppte sich das eingespielte Polarisierungsmuster der Überfremdungsabwehr. Fatalerweise hatte der Bundesrat selbst mit seiner offiziellen Überfremdungspolitik dem Konflikt in die Hände gespielt. Nun begegnete er den öffentlichen Spannungen mit einer taktischen Innovation: Die restriktive Kontrolle des «Ausländerbestandes» ergänzte er mit einer Politik der Eingliederung und Assimilation. Damit reagierte er auf die kulturellen und sozialen Konfliktlinien, die die gesellschaftliche Polarisierung anschwellen liessen. Was war der Plan? Assimilierten sich Ausländerinnen und Ausländer, so würden sie von der einheimischen Bevölkerung weniger bekämpft. Die Eingliederungspolitik wiederum zielte auf eine Verbesserung der Beziehungen zwischen den beiden vermeintlich gegensätzlichen Bevölkerungen. Mit dieser Neuprogrammierung der bisherigen offiziellen Spaltungspolitik strebte der Bundesrat eine Heruntertemperierung und letztlich die Befriedung des öffentlichen Konflikts an.
Inzwischen bekennt sich der Bundesrat zum «gesamtgesellschaftlichen» Projekt der Integration und damit zu einer Politik der Gastfreundschaft. Als Hauptziel der Integration deklarierte er ein «einvernehmliches» und «besseres Zusammenleben zwischen der schweizerischen und der ausländischen Bevölkerung». Statt Kampftaktiken gegen Überfremdung in Anschlag zu bringen, problematisiert der Staat heute die Überfremdungsgefühle der Einheimischen. Fremdenfeindlichkeit und Rassismus will er nun als Integrationshemmnisse bekämpfen. Die Integrationspolitik weicht die alten migrationspolitischen Spaltungen zwar auf und gibt sich als Antipolarisierungsprogramm zu erkennen. Indes wirkt das Gegengift der Integration nur begrenzt. Im Zeitalter der Integration verzeichnen wir weiterhin rechtspopulistische Initiativen in Serie (gegen den Bau von Minaretten; gegen Masseneinwanderung; gegen Überbevölkerung – zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen; gegen eine 10-Millionen-Schweiz usw). Auch im behördlichen Format ist der «Kampf gegen unerwünschte Fremde» keineswegs verschwunden. Er verlagerte sich auf die Gruppe der sogenannten nicht-integrierbaren oder integrationsunwilligen, irregulären oder fehlbaren Ausländerinnen und Ausländer. Ein restriktives Zuwanderungsregime und eine fordernde Politik des Integrationszwangs flankieren die gesellschaftliche Entspannungspolitik der Integration. Dabei werden Personen aus Drittstaaten gegenüber EU/EFTA-Staaten strukturell ungleichbehandelt.
Der Staat will die alten Spaltungen und Verhärtungen hinter sich lassen – und entwickelte dabei eine Politik der Integration, die selbst anfällig geworden ist für polarisierende Vereinnahmungen. Gelingt es nicht, das zugrunde liegende ethno-nationalstaatliche Freund-Feind-Schema zu entkräften, so werden sich Mixophobie und Integration weiterhin affektpolitisch zu einer Polarisierungsmasse aufladen lassen. Dieses Risiko dürfen wir nicht eingehen.
Die Quellen und bibliographischen Hinweise sind im PDF angegeben.