TANGRAM 48

«Wir müssen an den Strukturen arbeiten, die Polarisierung speisen»

Autorin

Nora Refaeil ist Anwältin und Expertin für Mediations- und Transformationsprozesse. Sie ist Vizepräsidentin der EKR. nora.refaeil@gmail.com

Das Interview führte Theodora Peter

Polarisierung führt dazu, dass eine Gruppe mit Macht die andere Seite besiegen will. Doch statt «Power-over»- sollten «Power-with»-Prozesse gestärkt werden. Die Anwältin und Mediatorin Nora Refaeil plädiert dafür, Bedingungen zu schaffen, die kollaborative Ansätze ermöglichen.

Als Mediatorin vermitteln Sie zwischen Konfliktparteien. Kann die Mediation angesichts zunehmender Polarisierung zur Förderung der Dialogfähigkeit in der Gesellschaft beitragen?
Nora Refaeil: Zunächst zu den Begriffen: Mediation ist ein Verfahren, bei dem ein neutraler Dritter bei der Beilegung von Streitigkeiten zwischen zwei oder mehreren Parteien hilft. Mediation kommt dann zum Zuge, wenn ein Dialog nicht mehr möglich ist. Die Rolle des Mediators besteht darin, die Kommunikation zwischen den Parteien zu erleichtern, ihnen dabei zu helfen, sich auf die wirklichen Streitpunkte zu konzentrieren und Optionen zu entwickeln, die den Interessen oder Bedürfnissen aller betroffenen Parteien entsprechen, um den Konflikt zu lösen. Die Frage der Allparteilichkeit allerdings hat im letzten Jahrzehnt eine neue Dimension erhalten, insbesondere im Zusammenhang mit Fragen des strukturellen Sexismus und Rassismus. Bei einem derart krassen Ungleichgewicht stellt sich die Frage, ob es diese Allparteilichkeit gibt und ob sie sinnvoll ist.

Polarisierung wiederum ist der Prozess, der dazu führt, dass Menschen Partei ergreifen. Einzelpersonen oder Gruppen von Menschen nehmen zunehmend extreme Positionen ein und heben sich mehr und mehr voneinander ab. Es entsteht eine «Wir-gegen-sie»-Rhetorik, die sowohl gemeinsame als auch individuelle Interessen untergräbt, anstatt sie zu fördern. Diese Gruppen definieren sich dann über ihre Gegnerschaft zu einem gemeinsamen Feind. Vertrauen und Respekt nehmen ab, und es entstehen verzerrte Wahrnehmungen und vereinfachte Stereotype. Die Parteien nehmen immer starrere Positionen ein und weigern sich, sich auszutauschen. Es wird also weniger verhandelt und mehr gekämpft. Es geht um den Sieg über den anderen, auch wenn dabei nicht nur gesellschaftliche Normen wie die Fairness verletzt, sondern durch Gewaltausübung auch Regeln gebrochen werden.

Bei Polarisierung geht es somit darum, mit Macht die andere Seite zu besiegen. Es findet ein «Power-over» statt und nicht ein «Power-with». Deshalb ist es wichtig, Bedingungen zu schaffen, die kollaborative Ansätze ermöglichen. Dabei geht es darum, ein gemeinsames Verständnis des Problems zu erlangen und eine gemeinsame Vision des Ziels zu entwickeln. Das erlaubt, demokratische Gesellschaften erfolgreich zu machen.
Im Rahmen meiner Arbeit erlebe ich oft, dass das, was wir als Polarisierung auf einer gesellschaftlichen Ebene wahrnehmen, die Ansichten, Erwartungen und Haltungen auf einer interpersonellen Ebene oder zwischen Gruppen beeinflusst. Die Polarisierung wirkt sich somit direkt auf unseren Alltag aus.

Wie können die Erfahrungen und Methoden aus der Mediationsarbeit ganz konkret genutzt werden? Gibt es dazu Beispiele sowie Ideen für gesellschaftliche Initiativen?
Es ist wichtig, dass wir in diesem Zusammenhang unterscheiden, wie stark polarisiert die Menschen sind und auf welcher Ebene (interpersonell, gruppenübergreifend, gesellschaftlich) der Konflikt stattfindet. Geht es um interpersonelle Konflikte oder um gesellschaftliche Polarisierung? Je nach Ebene braucht es andere Formen von Interventionen.

Mediation hat viele verschiedene Entwicklungen durchgemacht – von der klassischen Win-win-Mediation bis hin zur transformativen Mediation und darüber hinaus. Deshalb würde ich Mediation weiterdenken und von einem Konfliktlösungsrepertoire sprechen: gemeint sind Deeskalation, aktives Zuhören, Dialog, Ermächtigung von Gruppen mit geringerer Macht. Um jedoch auf einer breiteren Ebene wirksam zu sein, sind Ansätze aus der Friedensförderung sowie System- und Komplexitätsdenken notwendig. Je nachdem, auf welcher Stufe wir uns bewegen, sind Elemente aus all diesen Disziplinen wichtig, um einen Schritt in eine positive Richtung zu gehen.

Anders gesagt: Je komplexer die Thematik, desto komplexer die notwendigen Interventionen: Wir müssen somit an den Strukturen arbeiten, die das Problem der Polarisierung speisen wie auch an den Attraktoren, die das Problem aufrechterhalten. Der Schlüssel zum Ausweg aus der politischen Polarisierung und der politischen Verachtung der anderen Seite liegt also darin, zu lernen, wie man Attraktoren sowohl auf der zwischenmenschlichen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene aufbrechen und ihnen entkommen kann.

In Bezug auf das Thema Rassismus bedeutet dies, an den Faktoren zu arbeiten, die das Problem des Ausschlusses, des mangelnden Zugangs, der mangelnden Repräsentation und weiteren Ungerechtigkeiten aufrechterhalten. Auf der anderen Seite stellen wir die Frage, welche Systemfaktoren notwendig sind, um einen gerechten Wandel herbeizuführen. Das trifft sowohl auf Konflikte im Zusammenhang mit Rassismus und Ausschluss wie auch auf die Themen Klimawandel, Gesundheit und Politik zu. Diese Art der Arbeit geht weit über die klassische Mediation hinaus, ist aber notwendiger Teil eines Konfliktregelungsprozesses.

Ein konkretes Beispiel bezieht sich auf ein EU-Projekt: Dabei werden via Mediation Methoden zur Entscheidfindung für die Klimawandelanpassung bereitgestellt oder bei Konflikten zu diesem Thema Konfliktregelungsverfahren angeboten.

Die Polarisierung geht oft mit einem Rückzug in die eigene «Bubble» einher. Wie und wo können Räume geschaffen werden, in denen gegnerische Lager in einen konstruktiven Austausch kommen und gegenseitiges Verständnis aufbauen?
Meine Erfahrung ist, dass man allzu schnell meint, darauf hinwirken zu müssen, die verschiedenen «Bubbles» in einen vermeintlich konstruktiven Austausch zu bringen. Das funktioniert meistens nicht. Es geht vielmehr darum, zunächst in den jeweiligen Lagern mit den Menschen und ihren Ansichten, Haltungen und Werten zu arbeiten. Das braucht Zeit, ist aber ein wichtiger Prozess.