Ich danke Olivier Massin für seinen fundierten, gut belegten und respektvollen Beitrag zur Diskussion über den Rassismus und dessen Entwicklung in der heutigen Zeit. In vielen Punkten bin ich allerdings mit seiner Argumentation nicht einverstanden. Doch bevor ich näher auf sie eingehe, möchte ich, wie er, hervorheben, dass der Kampf gegen Rassismus in den letzten Jahrzehnten Fortschritte gemacht hat. Und ebenso betonen möchte ich, dass diese Fortschritte dem Mut und der Intelligenz von rassifizierten Personen zu verdanken sind und nicht dem Wohlwollen oder der Einsicht der weissen Gesellschaft. Im Gegenteil, viele weisse Personen sperrten sich mit aller Kraft dagegen. Wir wissen zum Beispiel, dass Martin Luther King zu Lebzeiten weithin als «Extremist» betrachtet wurde und dass er seinen Mut schliesslich mit dem Leben bezahlte. Ich sehe in diesen historischen Fakten die Aufforderung, genau hinzuhören und ernst zu nehmen, was Aktivistinnen und Aktivisten uns heute sagen. Wenn die jüngste Geschichte in eine positive Richtung zeigt, so ist dies weitgehend auf ihr intellektuelles und politisches Engagement zurückzuführen.
Zu den Fakten: Können wir mit Olivier Massin behaupten, dass «der Rassismus [in unseren liberalen Demokratien] auf einem historischen Tiefststand stagniert»? Glaubt man den Medien, so ist eine der grössten Krisen der liberalen Demokratien heute der Aufstieg des weissen Nationalismus und die Stigmatisierung rassifizierter Minderheiten. In diesem Zusammenhang hat Olivier Massins These den nützlichen Effekt, dass wir uns die Daten genau ansehen müssen. Und in der unmittelbaren Gegenwart sprechen sie leider nicht für ihn. Auch wenn die Situation in den einzelnen Ländern unterschiedlich ist, warnte der UN-Sonderberichterstatter für Minderheitenfragen vor Kurzem vor einem «Tsunami des Hasses» gegen Minderheiten, der sich in den sozialen Medien austobe, und das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte berichtete von nur «geringen Fortschritten» im Kampf für die Gleichstellung von Menschen afrikanischer Abstammung.
In der Schweiz hat die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus für die Jahre 2021 bis 2023 einen Anstieg der gemeldeten rassistischen Vorfälle um 10, 12 und 23 Prozent festgestellt. Diese Zahlen umfassen nur die gemeldeten Vorfälle, die als eindeutig rassistisch motiviert beurteilt wurden. Wir haben es also nicht mit blossem «wahrgenommenem Rassismus» zu tun (ein Begriff, auf den ich noch zurückkommen werde), sondern mit Vorfällen, die von unabhängigen Fachpersonen als rassistisch eingestuft wurden.
Olivier Massin stellt fest, dass der Rassismus einen historischen Tiefstand erreicht hat, und er hinterfragt, was er als neue politische Ideologie der «Identitätspolitik» oder des «Wokeismus» bezeichnet. Insbesondere argumentiert er gegen die erweiterte Definition von Rassismus innerhalb der «woken Ideologie», die über absichtliche oder unbewusste rassistische Handlungen hinausgeht und systemische Formen des Rassismus analysiert. In seinen Worten ist das erste Prinzip des Wokeismus, dass «unsere liberalen Demokratien auf allgegenwärtigen und verborgenen Unterdrückungsverhältnissen beruhen».
Wie auch an anderen Stellen in seinem Artikel stützt sich Olivier Massins Argumentation hier auf eine zugespitzte und/oder falsch dargestellte Position seiner Gegner. Der Fehler liegt darin, dass systemisch mit systematisch verwechselt wird. Wenn die Autorinnen und Autoren einige Formen des Rassismus als systemisch bezeichnen, meinen sie damit nicht, dass jeder Austausch, jede Politik, jede institutionelle Entscheidung von Rassismus bestimmt ist. Im Übrigen ist der systemische Rassismus nicht «verborgen»; er ist einfach nicht direkt im Diskurs oder in sozialen Interaktionen zu beobachten. Tatsächlich wurde das Konzept bereits vor (!) dem sogenannten Wokeismus entworfen, um die anhaltenden Ungleichheiten in Bezug auf Wohlstand, Bildung und Gesundheit zwischen weissen Menschen und rassifizierten Menschen zu erklären, obwohl die Politik auf den ersten Blick nicht rassistisch war. Diese Form des Rassismus zu erkennen, setzt voraus, dass die durch diese Politik hervorgerufenen Ungleichheiten zwischen rassifizierten Menschen und weissen Menschen anhand statistischer Korrelationen ermittelt werden.
Ein klassisches Beispiel aus den USA sind die standardisierten Eignungstests, mit denen ermittelt wird, welche Studierenden an welchen Universitäten zugelassen werden. Nach einer Analyse bestätigte die National Education Association, dass diese auf der Grundlage weisser kultureller Weltanschauungen und Referenzen konzipierten Tests Massstäbe für die intellektuelle Eignung ansetzen, die rassifizierte und ethnische Minderheiten benachteiligen, die mit diesen Weltanschauungen nicht vertraut sind. Die Tests sind weder bewusst mit dieser Absicht konzipiert, noch sind sie von unbewusst rassistischen Haltungen geprägt, sie sind schlicht ethnozentrisch. Denn in einer Gesellschaft, in der Politik und Programme nicht die Weltanschauungen einer Gruppe gegenüber anderen fördern sollen, sind sie ein schlechtes Instrument zur Auswahl junger Talente.
Wie dieses Beispiel zeigt, erlaubt uns das Konzept des systemischen Rassismus unser Verständnis davon, wie Rassismus funktioniert, zu vertiefen. Die meisten Analystinnen und Analysten, darunter die vielen von Olivier Massin zitierten «woken» Forschenden, würden ihm jedoch zustimmen, dass «Rassismus nicht alle Rassenungleichheiten erklären» kann. Konkret müssen mindestens zwei weitere potenziell diskriminierende Klassifizierungssysteme berücksichtigt werden, nämlich Klasse und Geschlecht, wobei auch andere Kriterien wie Alter, körperliche Leistungsfähigkeit oder sexuelle Orientierung eine Rolle spielen können. Wie Olivier Massin selbst betont, wurde die Theorie der Intersektionalität entwickelt, um genau diese Interaktionen zu untersuchen. Es ist daher schwer zu verstehen, wie seine Feststellung, dass viele Faktoren berücksichtigt werden müssen, um rassistische Ungleichheiten zu erklären, die These schwächen könnte, dass Rassismus «systemisch» funktioniert, indem er in Organisationsinstrumenten und -formen sowie in politischen Programmen und Institutionen festgeschrieben ist.
Olivier Massins Analyse hat das Verdienst, dass sie unterschiedliche erkenntnistheoretische und methodologische Thesen zur Untersuchung der bewussten, unbewussten und systemischen Formen von Rassismus in die Überlegungen aufnimmt. Kurz gesagt wird die erste Form durch Diskursanalysen und Beobachtungen sozialer Interaktionen untersucht, die zweite kann allenfalls durch psychologische Experimente und Tests gemessen werden. Die dritte wiederum erfordert statistische Analysen, um die Zusammenhänge (wenn auch nicht unbedingt die Ursachen) zu ermitteln. Massins Fehler besteht darin, die unterschiedlichen Niveaus nicht genügend zu berücksichtigen. Wie die Kriminologin Coretta Phillips gezeigt hat, erfordert die Operationalisierung des Konzepts des institutionellen Rassismus einen mehrstufigen Rahmen (Mikro-, Meso- und Makroebene), der die Beziehungen zwischen sozialer Interaktion, organisatorischer Funktion und übergreifenden gesellschaftlichen Normen und Strukturen untersucht.
Diese vermeintlich unbedeutende Fehlüberlegung baut in Wirklichkeit auf einem – aus der Sicht der Sozialwissenschaften – bedeutend weitreichenderem Missverständnis auf: dem epistemologisch-methodologischen Individualismus. Aus dieser Sicht geht das Individuum der Gesellschaft voraus, und die Entscheidungen und Urteile, die es trifft, können unabhängig von ihrem sozialen Kontext betrachtet werden. Auch wenn der derzeitige Konsens in den Sozialwissenschaften die Rolle individueller Entscheidungen und Urteile anerkennt, wird doch ein radikaler Individualismus dieser Art seit Durkheim abgelehnt, da er die Entstehung und Funktionsweise der Gesellschaft selbst nicht erklärt.
Massin scheint zu behaupten, dass Rassismus in erster Linie, wenn nicht gar ausschliesslich, eine individuelle Haltung oder ein individuelles Verhaltensmuster ist, ungeachtet von dem, was die Sozialwissenschaft (in Anlehnung an Durkheim und Mauss) als «Institutionen» bezeichnet. Es stellt sich somit die Frage, woher diese individuellen Haltungen und Muster überhaupt kommen. Wären sie nur persönlicher Natur, würden die Menschen willkürlich Vorurteile und diskriminierendes Verhalten an den Tag legen: Die einen würden Menschen mit kurzen Beinen verachten, anderen wäre es unangenehm, mit jemandem in einem Raum zu sein, der grosse Ohren hat. Individuelle Vorurteile sind aber nicht willkürlich; Vorlieben und Abneigungen spiegeln die kumulierte Geschichte kollektiver Repräsentationen und Praktiken wider. Seit der Kolonisierung durch die Euro-Amerikaner im 18., 19. und 20. Jahrhundert ist «Rasse» das grundlegende System, das zur Vorstellung und Darstellung von Unterschieden zwischen sozialen Gruppen verwendet wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Rassismus zuallererst ein kognitives und emotionales soziales System ist und erst in zweiter Linie ein individuelles Phänomen.
Viele von Massins Referenzen und Beispielen stammen aus den USA, meine Gegenbeispiele auch. Ungleichheiten aufgrund von «Rasse» und Ethnie sind jedoch in den verschiedenen nationalen Kontexten aufgrund der unterschiedlichen historischen Beziehungen zu Sklaverei, Kolonialismus und Migration unterschiedlich ausgeprägt. Die Schweiz hat keine direkte Geschichte der Sklaverei oder des Kolonialismus, obwohl viele ihrer historisch wohlhabenden Familien beides finanziert haben (siehe Tangram 47). Minderheitenbevölkerungen sind im Wesentlichen das Ergebnis von Zuwanderungswellen, die Mitte des 20. Jahrhunderts einsetzten. Sie werden zwar oft rassifiziert (wie die Italiener in den 1950er-Jahren, die als ethnisch verschieden von der inländischen Bevölkerung betrachtet wurden), die Hautfarbe ist aber nur einer der Faktoren, die zu einer potenziell diskriminierenden Stereotypisierung führen: Nationalität, Religion und eine ungenau definierte «ethnische Herkunft» sind ebenfalls wichtige Kriterien. Daraus lässt sich schliessen, dass sowohl unbewusste als auch systemische Formen der Diskriminierung in erster Linie im Systeminnern selbst vorhanden sind, das seit jeher zwischen willkommenen und nicht willkommenen zuwandernden Menschen unterscheidet und mit der Hautfarbe oder mit der euphemistisch als «kulturell» bezeichneten Distanz begründet wird. Systemische Diskriminierung gibt es aber auch in der täglichen Arbeit der Gemeinde- und Kantonsverwaltungen, wenn zum Beispiel «bikulturelle» Ehen verstärkt auf «Echtheit» geprüft werden, oder auf dem Arbeitsmarkt, wo Hautfarbe und ethnisch markierte Familiennamen statistisch mit der relativen Wahrscheinlichkeit korrelieren, eine Stelle zu bekommen.
Dies bringt uns zu einer weiteren Ursache für die anhaltenden Rassenungleichheiten, die Massin aufgrund seiner individualistischen Sichtweise nicht erkennt, nämlich zum internalisierten Rassismus. Gestützt auf W. E. B. Du Bois, Frantz Fanon und andere Forschende of Color, weist die Soziologin Karen Pyke in einem inzwischen klassischen Artikel auf die Realität der «Verinnerlichung der rassistischen Unterdrückung der rassifizierten Menschen» hin. Weitere Forschungen haben gezeigt, dass internalisierter Rassismus bei rassifizierten Minderheiten nicht nur zu einem verminderten Selbstwertgefühl und geringeren Erwartungen und Leistungen führt, sondern auch zu gesundheitlichen Problemen, Gewalt und Depressionen. Internalisierter Rassismus ist eine Bürde, die rassifizierte Menschen in allen Lebenslagen tragen, unabhängig davon, ob die Umstände ausdrückliche rassistische Haltungen spiegeln oder nicht. Wird beispielsweise einer Angehörigen einer rassifizierten Gruppe ein Arbeits- oder Mietvertrag verweigert, erhält sie nicht einfach nur die Stelle oder die Wohnung nicht, sie muss auch die – schmerzliche und stigmatisierende – Frage aushalten, ob es an ihrem rassifizierten Status liegt oder nicht.
Vor diesem Hintergrund muss die Vorstellung Massins, dass rassifizierte Minderheiten Rassismus «falsch wahrnehmen» können, überdacht werden. Denn unter bestimmten Umständen können rassifizierte Personen die Absichten ihrer weissen Gesprächspartner durchaus missverstehen, genauso wie sie die Ergebnisse einer institutionellen Interaktion falsch interpretieren können. Diese harmlosen Ereignisse ändern jedoch nichts an der systemischen Tatsache, dass Rassismus potenziell jederzeit auftreten kann. Die Realität kennen und erleben weisse Menschen einfach nicht. Weisse Menschen mögen aus anderen Gründen benachteiligt sein, aber sie sind nicht mit internalisiertem Rassismus belastet. Dies ist nur ein Aspekt dessen, was man als «weisses Privileg» bezeichnet.
Diese Realität wird in Massins Analyse ausgeblendet. Er ist vielmehr der Meinung, dass internalisierter Rassismus keinesfalls eine Konsequenz von als belastend erlebten Erfahrungen rassifizierter Menschen ist, sondern auf eine Art das schlichte Produkt der Diskussion über systemischen Rassismus. Ich zitiere: «Die Identitätspolitik (der Wokeismus) vermittelt rassifizierten Minderheiten die Botschaft, dass sie systemisch diskriminiert sind. Diese Botschaft ist falsch, so meine Argumentation. Und sie ist auch schädlich, denn sie verhindert, dass die grundlegenden Ursachen von Rassenungleichheiten aufgedeckt werden, sie führt Angehörige rassifizierter Minderheiten zu der falschen und entmutigenden Annahme, dass sie den feindlichen Kräften eines Systems ausgesetzt sind, das sich ganz gegen sie wendet, und sie verleitet sie dazu, die Chancen zu unterschätzen, die ihnen dieses System bietet.» Abgesehen von der Frage, worauf sich Massin betreffend «die grundlegenden Ursachen von Rassenungleichheiten» bezieht, kann ich nur antworten, indem ich auf meinen ersten Punkt zurückkomme. Die überwiegende Mehrheit der Anti-Rassismus-Aktivistinnen und -Aktivisten ist zum Schluss gekommen, dass Rassismus nur zu bekämpfen ist, wenn man von der Erfahrung der rassifizierten Menschen ausgeht. So gesehen ist Rassismus zwar nicht immer und überall tatsächlich vorhanden, aber potenziell. Und diese Potentialität selbst ist diskriminierend. Es bedeutet auch, dass die individualistische Sichtweise, die das Leben unabhängig von der Hautfarbe als ein offenes Feld frei nutzbarer Chancen sieht, nicht der Realität entspricht, die rassifizierte und ethnische Minderheiten in den euro-amerikanischen Gesellschaften erleben.
Ich kann an dieser Stelle meine Einwände gegen Olivier Massins Argumentation nicht weiter ausführen. Dazu gehören eine Tendenz zur Radikalisierung von Gegensätzen statt zur Suche nach Nuancen («beim Thema Rassismus stehen sich zwei radikal gegensätzliche Denkschulen gegenüber»), eine verkürzte Darstellung dessen, was er «Identitätspolitik» nennt, eine falsche Beschreibung der Auswirkungen von Affirmative Action in den USA und ein Missverständnis des Konzepts des «situierten Wissens».
Abschliessend möchte ich jedoch auf den Wert seines Beitrags hinweisen. Der Austausch mit Olivier hat mir geholfen, genauer über diese schwierigen Fragen nachzudenken. Und genaues Nachdenken wird in der heutigen polarisierten Zeit immer wichtiger. Der Kampf gegen Rassismus hat Resultate gebracht und kann es auch weiterhin tun, doch dies erfordert kontinuierliche Anstrengungen, insbesondere von Seiten der Weissen. Dies ist keine deterministische oder pessimistische Sichtweise. Sie erkennt einfach die Tatsache an, dass man, um mehr als nur das Produkt seines sozialen Kontextes zu sein, darüber nachdenken muss, inwiefern man selbst auch das Produkt seines sozialen Kontextes ist. Um Rassismus zu überwinden, muss man nicht nur darüber nachdenken, was es bedeutet, eine Person of Color zu sein, sondern auch darüber, was es bedeutet, weiss zu sein.
Die Quellen und bibliographischen Hinweise sind im PDF angegeben.