TANGRAM 48

Der zähe Einsatz für eine antirassistische Politik in einer zunehmend polarisierten Gesellschaft

Autor

Michele Galizia hat die Geschäftsstelle der EKR mitaufgebaut und 20 Jahre die FRB geleitet. michele.galizia@bluewin.ch

Als Michele Galizia 1995 mit der institutionellen Antirassismusarbeit begann, war das eine exotische Herausforderung: «Rassismus» irritierte, polarisierte. In seinem Beitrag zeigt der Autor auf, wie zäh der Einsatz für die Anerkennung von Rassismus als gesellschaftliches Phänomen war – und ist. Wie angesichts helvetischer Langsamkeit das Aufbegehren der direkt Betroffenen verständlich ist, und wie die Polarisierung kultiviert wird, um sich gegen eine inklusivere gerechtere Gesellschaft zu wehren.

1970 fand die fremdenfeindliche Überfremdungs-Initiative von James Schwarzenbach zwar knapp keine Mehrheit, sie hinterliess jedoch eine zutiefst polarisierte Gesellschaft. Der Film «Die Schweizermacher» (1978) erfasst auf tragisch-komische Art die fremdenfeindliche Stimmung der Mehrheitsgesellschaft und der helvetischen Institutionen; der neue Film von Samir «Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer» liefert die Dokumentarbilder dazu. Die quer durch alle politischen Lager etablierte Vorstellung von zwei sich gegenüberstehenden Menschengruppen ¬– Schweizer/-innen und Ausländer/-innen – galt als selbstverständlich, wurde kaum hinterfragt. Vor diesem Hintergrund hatte 1981 die Mitenand-Initiative für eine offenere Ausländerpolitik keine Chance, sie wurde haushoch abgelehnt. Die Initiative forderte eine Politik, «die davon ausgeht, dass der Ausländer ein Mensch gleichen Rechts und gleicher sozialen Ansprüche wie der Schweizer ist», ohne dass Ausländer gezwungen sind, ihre kulturelle Identität aufzugeben.

In der Folge verzichteten die etablierten linken Parteien auf visionäre emanzipatorische Projekte und beschränkten sich auf – erfolglose – Abwehrscharmützel der Verschärfungen des Migrations- und Asylrechts. Die Gewerkschaften öffneten sich dafür langsam für Migranten, und den zivilgesellschaftlichen Organisationen stand ein langer, zäher Kampf für eine offenere Gesellschaft bevor.

Polarisierende Hetze

In den 1980er-Jahren bestimmte zunehmend die Asylpolitik die Haltung gegenüber Ausländerinnen und Ausländern und Migration. Zwar hatte die fremdenfeindliche Propaganda immer auch mit dem Fremdländischen der Italiener und weiterer «Südländer» argumentiert, sie zu «rassifizieren» versucht. Doch mit den Tamilinnen und Tamilen, die nach Ausbruch des Bürgerkriegs auf Sri Lanka 1983 Schutz suchten, war es erstmals eine grössere Gruppe aus dem globalen Süden, die aufgrund ihres Äusseren ausdrücklich rassistisch ausgegrenzt werden konnte.

Die rechte Hetze gegen «Asylanten» und der rechtspopulistische Drall etablierter bürgerlicher Parteien waren Wasser auf die Mühlen der in diesen Jahren immer aktiveren rechtsextremen Szene – dem «kleinen Frontenfrühling»: Menschen wurden öffentlich beschimpft, zusammengeschlagen, terrorisiert, es brannten Kreuze und Asylheime. Allein zwischen 1989 und 1990 wurden mindestens sieben Menschen ermordet, fünf von ihnen Tamilen.

Und wie wirksam der auch heute tiefsitzende, subtile Antisemitismus der Schweizer Gesellschaft war, zeigte die Reaktion auf den klammheimlichen Abtransport einer Eisenplastik des Künstlers Schang Hutter zum Gedenken an die Shoah vor dem Bundeshaus durch die damalige Freiheits-Partei: keine einhellige Verurteilung, sondern eine polarisierende Debatte, ob dies eventuell akzeptierbar war, sei doch die Plastik drei Meter neben dem vorgesehenen Standort aufgestellt worden.

Gleichzeitig trug der Widerstand gegen die polarisierende Hetze dazu bei, sich auf zivilgesellschaftlicher Ebene politisch zu organisieren. Erste Demonstrationen gegen Rassismus fanden statt. Die AG Mitenand initiierte zusammen mit anderen Organisationen eine landesweite Petition «Für eine offene Asylpolitik». Die neue Bewegung für eine offene und solidarische Schweiz (BODS) stellte in der Charta 1986 fest: «Wir fühlen uns nicht bedroht von ein paar tausend Türken und Tamilen, sondern von einer Politik, die die Demokratie aushöhlt und die Menschenrechte missachtet.» Tamilinnen und Tamilen selber kamen in der aufgeheizten Berichterstattung zur «Tamilenfrage» allerdings noch selten zu Wort.

Das im selben Jahr ergriffene Referendum gegen eine zweite Verschärfung des Asylgesetzes der Berner Flüchtlingskoalition war das erste Referendum in der Geschichte der Schweizer Demokratie, das keine etablierte Gruppierung, sondern eine Basisbewegung einreichte – es scheiterte.

2000 schlossen sich die BODS, die Asylkoordination und weitere Kreise zur Solidarité sans frontières zusammen, die in ihren Statuten erstmals rassistische Diskriminierung als Konzept thematisierte: «Wir wenden uns gegen die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Weltanschauung, ihrer sozialen Lage.» «Rassismus» wurde nicht beim Namen genannt, obwohl an der Gründungsveranstaltung der implizite Rassismus der Schweizer Ausländerpolitik angesprochen wurde. Man zögerte selbst in diesen Kreisen, den Begriff zu verwenden, zu gross war die Befürchtung, man ecke damit an. Gleichzeitig wurde das Konzept noch sehr auf die psychologischen und moralischen Aspekte von Einzelfällen angewendet. Man redete zwar über Vorurteile, Anfeindungen, Diskriminierung, weniger aber darüber, woher sie kommen, wie sie gesellschaftlich verankert sind – und mit dem Konzept des strukturellen Rassismus war man noch nicht vertraut.

Beitritt zur Antirassismus-Konvention

Beim Beitritt zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung von 1994 glaubte das politische Establishment, dass dies die Schweiz kaum betreffe. Man dachte an den Rassismus und Antisemitismus der Nazis, an das zerbröckelte Apartheidsregime und allenfalls an ein paar ewiggestrige Rechtsextremisten.

Die für den Beitritt nötige Antirassismusstrafnorm wurde von einer Mehrheit der Stimmenden (rund 54 %) angenommen, in der Überzeugung, dass sie wohl selten zur Anwendung kommen werde und auch die zur aktiven Prävention gebildete Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) – eine weitere Voraussetzung zum Beitritt – beunruhigte nicht, die Mehrheitsgesellschaft fühlte sich kaum betroffen.

Der erste öffentliche Auftritt der Kommission nur ein Jahr nach deren Einsetzung war dann ein Paukenschlag: Die EKR kritisierte das «Drei-Kreise-Modell» der Ausländerpolitik als rassistisch. Damit machte sie klar, dass Rassismus ein gesellschaftliches Problem ist. Obwohl sie damit strukturellen Rassismus benannte, beschränkte sie sich in der Folge aber weitgehend auf ein individuelles Verständnis von Rassismus – weil weniger polarisierend.

Integration als einseitige Leistung

In den 2000er-Jahren etablierte sich nach und nach eine nationale Integrationspolitik mit Verantwortlichen in allen Kantonen und vielen Gemeinden. Integrationspolitik wurde vorerst von den Städten vorangetrieben. Auf Bundesebene war es die Eidgenössische Ausländerkommission (heute Migrationskommission), die ab 2001 Integrationsprojekte förderte und finanziell unterstützte. Mit der Institutionalisierung im Bundesamt für Migration (heute Staatssekretariat für Migration) ab 2008 und der erweiterten finanziellen Unterstützung von Projekten auf Kantons- und Gemeindeebene etablierten sich auch in allen Kantonen entsprechende Strukturen. Fachpersonen und Organisationen der Zivilgesellschaft fanden finanzielle Unterstützung, die Zusammenarbeit mit Migrantenvereinen institutionalisierte sich. Doch die flächendeckende Institutionalisierung musste von allen, auch den vorwiegend bürgerlich dominierten kantonalen Gremien akzeptiert werden. Das war nur durch einen grundlegenden Begriffswandel möglich: Integration wurde immer mehr als einseitige Leistung der Zugewanderten verstanden und nicht mehr, wie ursprünglich intendiert und in Abgrenzung zu «Assimilation», als Prozess, der von beiden Seiten, der aufnehmenden Gesellschaft und den Zugewanderten, gemeinsam zu entwickeln ist.

Die pragmatische Integrationspolitik trug dazu bei, dass in breiten Teilen der Öffentlichkeit Migration und Integration entdramatisiert betrachtet wurden. Doch das rief die Rechte auf den Plan, am polarisierendsten die SVP. Mit ihren Kampagnen zur Verschärfung des Asylrechts, gegen weniger diskriminierende Einbürgerungsverfahren, gegen die Erweiterung der Personenfreizügigkeit und mit der Lancierung der Ausschaffungs- und Masseneinwanderungsinitiative beschwor sie willentlich eine zunehmend rassistisch geprägte Fremdenfeindlichkeit: schwarze Raben und schwarze Schafe, die das weisse Idyll stören, dunkle Hände, die nach dem Schweizer Pass greifen, pauschalisierende Kriminalisierung aller «Kosovaren» als Mörder, Minarette als die Schweizer Fahne durchbohrende Raketen. Die Sujets solcher Plakate fanden dankbare Nachahmer bei den rechtsextremsten Parteien und Gruppierungen in ganz Europa.

Struktureller Rassismus als Tabu

Trotz der zunehmend rassistischen Kampagnen der Rechten blieb die Auseinandersetzung mit dem Konzept «Rassismus» eine zähe Herausforderung. Die Mechanismen rassistischer Diskriminierung in den verschiedenen Bereichen mussten erst noch erarbeitet und auf die Schweizer Realität angewendet werden.

Als Beispiel dafür, wie sehr die Begriffe «Rassismus», «Diskriminierung» und selbst «Menschenrechte» polarisierten, sei der Lehrplan21 erwähnt. In ersten Versionen war die Behandlung von «Rassismus» als Schulthema vorgesehen; später durfte «nur» noch von «Diskriminierung» die Rede sein; dann hiess es allgemein «Menschenrechte». Aber selbst bei der Verwendung dieses Begriffs wurde befürchtet, dass er nicht den Segen aller kantonalen Erziehungsdirektionen finden würde. Heute wird «Politik, Demokratie und Menschenrechte» hinter der Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) versteckt. Diskriminierung wird als zwischenmenschliches Phänomen verstanden, die strukturelle Dimension von Diskriminierung (und Rassismus), die zur Hierarchisierung und Differenzierung von Menschen beiträgt und so gesellschaftliche Machtverhältnisse prägt, wird nicht angesprochen.

Auch bei den von der Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB) unterstützten Projekten wurde damals Rassismus meistens auf individueller Ebene angegangen, gerne in Form von Begegnungen, Gesprächen, gemeinsamem Essen. Rassismus vorzuwerfen oder rassistisches Verhalten und Diskriminierung zu thematisieren, war schwierig, weil «polarisierend». Selbst Zugewanderte pflegten die Schizophrenie: In Interviews sprach kaum jemand spontan von Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen, selbst wenn evidente Erlebnisse beschrieben wurden.

Erste Ansätze einer postmigrantischen Gesellschaft

Im neuen Jahrtausend trat die zweite Migrationsgeneration, die sogenannten Secondos und Secondas auf die politische Bühne – als Subjekt, mit Ansprüchen und der Forderung, in der Politik mitzusprechen, zu wählen und gewählt zu werden: «Wir haben vielleicht nicht alle dieselbe Geschichte, aber das Land, in dem wir leben, gehört uns allen.» Doch der Aufruf verpuffte im etablierten politischen System weitgehend. Zwar sind sie auf den Listen der linken Parteien präsent und mit assimilatorischen Argumenten auch auf jenen der Rechten, doch gewählt werden sie selten, oft gar von der Liste gestrichen.

In Kultur, Werbung und Sport kam Diversität zunehmend an. Wenn auch gerade in der Werbung eher von «Tokenism» gesprochen werden muss: Kaum eine Werbung verzichtet heute auf schwarze und ostasiatisch aussehende Models. Die beworbenen Unternehmen glänzen allerdings selten mit einer Diversitätspolitik, die sowohl deren eigene Strukturen als auch Produktion und Verteilung ihrer Produkte umfasst.

Die ab 2008 publizierten Berichte des Netzwerkes der Beratungsstellen für Rassismusopfer DoSyRa trugen dazu bei, anhand von Einzelfällen, Rassismus in der Schweiz glaubhaft nachzuweisen. Darauf beruft sich auch der von der FRB herausgegebene regelmässig erscheinende Monitoringbericht, der unter Einbezug der Ergebnisse der repräsentativen Datenerhebungen des Bundesamts für Statistik eine umfassende Darstellung von Diskriminierung und Rassismus als gesamtgesellschaftliche Problematik anstrebt.

Doch die Politik weigert sich weiterhin weitgehend, Rassismus als Problem anzugehen. Polizeiliche Übergriffe können noch immer nicht von unabhängigen Stellen überprüft werden; Alltagsrassismus bleibt für Betroffene gelebte Realität; struktureller Rassismus und Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt, in der Schule, bei der Jobsuche und auch im Gesundheits- oder Justizwesen sind nach wie vor an der Tagesordnung.

Eine breite Bewegung bildet sich

Für migrantische Menschen der jüngeren Generation steht das im Widerspruch zur herrschenden Assimilationslogik. Das erklärt, warum die Frage «Woher kommst du?» für diese Generation als derart verletzend empfunden wird: Wenn die Frage immer noch, nach all den Anstrengungen von ihnen und ihren Eltern, gestellt werden kann – was haben sie dann falsch gemacht? Oder eben eher: Was läuft da falsch? Die Folgerung ist klar: Sie müssen akzeptieren, dass sie immer noch «anders» sind, sie müssen eine postmigrantische inkludierende Gesellschaft fördern und fordern.

Doch «anders sein» ist keine für sich sprechende, schlagkräftige Kategorie. Die Erkenntnis muss spezifisch ausgelebt und politisch umgesetzt werden. Folgerichtig meldeten sich neue Stimmen unterschiedlicher Positionen. Die Bewegung wurde bunter, lauter, sichtbarer und eben auch spezifischer: Schwarze Frauen, Verdingkinder, migrantische Transpersonen, versklavte Hausangestellte …

Das 2012 erschienene Buch «Postkoloniale Schweiz» von Purtschert & Co. markierte einen Wendepunkt. Schwarze Frauen organisierten sich und traten ab 2016 als Bla*Sh öffentlich auf, Afrolitt fördert Schwarze Literatur, das politische Kunstprojekt Die ganze Welt in Zürich (2015) verlangt eine städtische Citizenship: Aufenthaltsfreiheit, Diskriminierungsfreiheit und Gestaltungsfreiheit – eine Forderung, die in einigen Städten mit der City Card umgesetzt wird. Die Bewegung wurde facettenreicher, verspielter, humorvoller: Rassismuskritisches Humorfestival, Late Night Shows. Der Salon Bastarde formuliert es folgendermassen: «Der Salon ist eine kulturpolitische Intervention, um heimisch zu werden in einer Schweiz des Ausschlusses und des alltäglichen Rassismus. Der Salon bietet allen Menschen mit Migrationshintergrund und/oder People of Color sowie allen Interessierten und Verbündeten (einen) Raum für Kritik, Spass und Utopie.»

Das Collectif Afrosuisse setzt sich seit 2009 für die gesetzliche Verfolgung von Rassismusfällen ein. Die 2016 gegründete Allianz gegen Racial Profiling ermächtigt Menschen, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen und eigene Initiativen zu ergreifen, und beobachtet gerichtliche Verfahren. So konnte aufgrund eines bis an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) weitergezogenen Prozesses Racial Profiling in der Schweiz erstmals gerichtlich sanktioniert werden.
Der Berner Rassismus Stammtisch oder das Institut Neue Schweiz INES ermöglichen eine breite, von migrantischen Stimmen getragene Auseinandersetzung, «um sich aus dem Denken in ‹Wir› und ‹Ihr› zu lösen und gesellschaftspolitische Visionen zu entwickeln.» Bücher und Filme von jungen Schwarzen finden vermehrt Aufmerksamkeit, der Doyen der afroamerikanischen Literatur, James Baldwin, aber auch Vincent O. Carter erleben ein Revival. Theater setzen antirassistische Stücke auf die Spielpläne und versuchen das, was sie in den letzten Jahrzehnten versäumt haben, eiligst nachzuholen. Die kritische Auseinandersetzung mit der Schweizer Beteiligung am Kolonialismus ist nicht mehr nur eine Forschungsfrage, sondern betrifft die Gestaltung unserer Städte (Monumente, Strassen- und Häusernamen) bis hin zu Tourismusangeboten (Führungen).

Aufbruch mit Black Lives Matter

Als 2020 nach dem Mord von George Floyd die Black Lives Matter-Bewegung (BLM) die ganze Welt erfasste, konnte sie in der Schweiz auf dieser breiten Basis aufbauen. Um rassistische Diskriminierung anzuprangern, gingen trotz Corona Tausende auf die Strasse. Die Proteste richteten sich nicht nur gegen Rassismus von Ordnungskräften, sondern gegen die ganze Bandbreite diskriminierender Verhaltensweisen in der Schweiz. Nicht zuletzt hat Corona selber die Ungleichheiten aufgezeigt, die es in unserer Gesellschaft gibt.

Viele Schwarze in der Schweiz, die bis anhin nicht aktiv waren, fühlten sich durch BLM angesprochen und darin bestärkt, den alltäglichen Rassismus nicht mehr tatenlos hinzunehmen, sondern öffentlich anzuprangern. Den Reden der jungen People of Color (PoC) merkte man oft an, dass sie sich zum ersten Mal an eine «weisse» Öffentlichkeit wagten. Die Erleichterung, endlich «sichtbar» zu werden, war spürbar. Der Mut und die Wut, die diese Selbstermächtigung entfachte, waren mit Händen zu greifen.
Das erschreckte zwar nur jene, die sich bis dahin um eine Auseinandersetzung mit der Problematik drückten. Doch die starken Worte und Forderungen, die oft auch ausschliessende Tendenzen beinhalten, haben der BLM-Bewegung auch einige Kritiken eingebracht. Drei Punkte seien hier angesprochen: Die Übernahme des US-Diskurses, Wokeness, identitäre Verirrungen.

In einer ersten Phase wurden Parolen vielfach aus dem US-Diskurs mit wenig Anpassung an die Schweizer Realität übernommen. US-amerikanische Diskriminierungsstrukturen mit ihren Rückgriffen auf die Sklaverei sind nicht unmittelbar auf die Schweiz übertragbar, wo Rassismus eher mit der fremdenfeindlichen Grundstimmung in der helvetischen Gesellschaft zu tun hat – mit jenem Wahn, in dem sich das Land seit über 100 Jahren «überfremdet» glaubt. Darüber hinaus kommen im Gegensatz zu den USA die hierzulande «verhockten» Vorurteile ziemlich prosaisch daher, ausgrenzendes Verhalten ist selten offen und aggressiv, sondern eher unbewusst und verdeckt.

Wokeness, als Bewusstsein der eigenen Position in der Gesellschaft im Hinblick auf eine zu schaffende bessere, gerechtere Welt, ist zur Cancel Culture und Political Correctness, dem Ende der Meinungsfreiheit, umgedeutet worden. Einer Meinungsfreiheit allerdings, die nie für alle gleich gegolten hat, die deswegen aber um so echauffierter verteidigt wird. Woke Forderungen werden mit den totalitären Ideologien, mit dem «Newspeech» von George Orwell gleichgesetzt.

Sie können tatsächlich erschöpfend sein, die Diskussionen über Schreibweisen, Etikettierungen von öffentlichen Räumen, Umbenennung historisch gewachsener Bezeichnungen. Aber die Kultivierung der Empörung über diese Auswüchse muss auch als Strategie gesehen werden, die eigentlichen Probleme nicht anzugehen. Denen, die sich auf deren Lächerlichmachen einschiessen und die dahinter liegenden Absichten und Anliegen geringschätzen, sei entgegengehalten: «Wenn etwas aggressiver Mainstream wird und Minderheiten zu einer Gefahr aufgebauscht werden, dann ist eh klar: Da muss man nicht mit den Antiwoken witzeln, sondern dagegenhalten.» (Psychoanalytiker Peter Schneider im Interview mit der WOZ, 8. August 2024)

Kollektive Identität ist eine stille Ressource, solange sie nicht politisiert wird. Ihre emanzipative Dynamik beruht aber auch bei den vergleichsweisen harmlosen Auseinandersetzungen in der Schweiz auf ihrem kämpferischen Eifer. Kampf ist notwendigerweise spezifisch, erst durch das Sichtbarmachen der Differenzen, der unterschiedlichen Identitäten und der Lebenswelten, in denen sie entstehen, können neue Perspektiven und politische Forderungen entstehen. Allerdings können identitäre Ansprüche auf Ausschliesslichkeit und Exklusivität zersetzend wirken – und bemühend: wenn etwa darüber gestritten wird, wer für wen sprechen, wer wen repräsentieren oder in Film und TV darstellen darf.

Doch die Betrachtung der Geschichte und der gesellschaftlichen Verhältnisse aus anderen, identitären Sichtweisen ist erhellend und befreiend. Und dies nicht nur für die Angehörigen der betroffenen Minderheiten, auch für Angehörige der Mehrheitsgesellschaft, die sich dadurch über die bislang unbewusste Vorherrschaft von «weissen» Normen klar werden. Das geht natürlich nicht konfliktlos und kann der Rechten in die Hände spielen, die solche Forderungen gezielt polemisiert und gegen die Fordernden verwendet, um die Mehrheitsgesellschaft zu empören. Die Überhöhung solcher «Triggermomente» durch die Medien, vor allem aber durch die Zündschnurdynamik der sozialen Medien, stärkt die aggressiven Abwehrhaltungen, ja den Backlash.

BLM wirkt weiter

Die BLM-Bewegung war ein Aufbruch – das Mobilisierungspotenzial für eine selbstbewusste, pluralistische Gesellschaftliche bleibt. In den letzten Jahren haben sich die Aktivistinnen und Aktivisten viel Wissen angeeignet, haben sich quer über Differenzen hinweg ausgetauscht: Die Klimajugend interessiert sich für postkoloniale Analysen, Antirassismuskollektive befassen sich mit Diskriminierung von behinderten Menschen. Man löst sich aus der haarspalterischen Selbstzerfleischung und der Kultivierung der Konfliktgärtchen, spricht anders über Solidarität, geht neue Bündnisse ein und lenkt die Energie in konstruktive Bahnen.

Die Zusammenführung von unterschiedlichen identitären Visionen als Teil einer humanistischen, gesamtgesellschaftlichen Sichtweise ist eine Voraussetzung für eine postmigrantische Gesellschaft. Ein menschenrechtlich basiertes, humanistisches Verständnis fordert einen empathischen Umgang aller Gesellschaftsmitglieder. Aufeinander zugehen, gemeinsam kämpfen für eine humanere, diskriminierungsfreie Gesellschaft kann, gerade wenn die Widersprüche und Unterschiede besonders krass sind, schmerzhaft sein. Voraussetzung ist das Anerkennen der Schmerzen und Traumata der anderen. Einseitige Parteinahmen ohne differenzierte und eingehende Auseinandersetzung mit den historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen tragen, je weiter das Geschehen von der eigenen Realität entfernt ist, nur zu bitteren und unversöhnlichen Auseinandersetzungen bei.

Integration gelingt besser, wenn man im Streit ist. Solidarität heisst nicht nur strategische Bündnisse mit «Alliierten» einzugehen, sondern auch, sich selbst ebenso wie die Gesellschaft im gemeinsamen Kampf zu verändern, sich auf einen offenen Prozess der Transformation einzulassen, der in der Lage ist, bestehende Polarisierungen zu überwinden – mit Lebensfreude und ohne den Humor zu vergessen. Das geht, wenn man die starken Argumente der jeweils anderen Seite ernster nimmt als die schwachen. Die anstrengende Konsequenz ist allerdings, dass das erst einmal mehr Ansprüche produziert, die nicht elegant ideologisch und schon gar nicht elegant machtpolitisch auflösbar sind, sondern ausgehalten werden müssen.

Polarisierung als Strategie der Rechten

Die ununterbrochene Klage über die «Polarisierung» der schweizerischen Politik suggeriert, dass es zwei gleichwertige Pole gibt. Sie zwingt die Leute, zu meinen, sie müssten sich für das eine oder andere Lager entscheiden. Das ist bedrohlich, denn die sogenannte «politische Mitte» ist heute gefährlich nach rechts gerutscht: Fremdenfeindliche Argumente der Rechten werden von den Mitteparteien wie selbstverständlich übernommen, Menschenrechte infrage gestellt. Als Beispiel sei eine Umfrage zu Polarisierung von 2023 genannt, die in allen grossen Medien breit rezipiert wurde: «Links, urban, gebildet – und intolerant» oder «Studie entlarvt Linke als intoleranter und engstirniger als Rechte». Was nicht gesagt wurde, ist, dass damit auch die grundrechtliche Intoleranz gegenüber Gruppen und Positionen gemeint ist, welche die demokratische, rechtsstaatliche Ordnung infrage stellen – also die Ablehnung von demokratiefeindlichen, die Grundrechte und Menschrechte verletzenden und die Gewaltenteilung infrage stellenden Argumenten. Aus rechtsstaatlicher Sicht sind die beiden Pole keineswegs gleichwertig, und «Intoleranz» bedeutet beidseits nicht dasselbe.

Es gibt in unserer Gesellschaft nun mal Konflikte, es gibt Rassismus, eine postmigrantische Gesellschaft ist (noch) Utopie. Das widerspricht dem Selbstverständnis der Schweiz, wo man nach der Auseinandersetzung im Parlament gemeinsam ein Bier trinken gehen will.

Die Rechte hat von Beginn weg, mit Verweis auf die «Meinungsfreiheit», gegen die Verurteilung von Rassismus gekämpft. Sie hat die Polarisierung kultiviert, als politische Strategie, um nicht über gesellschaftliche Konflikte zu sprechen, um Privilegien und ausschliessliche und ausschliessende identitäre Ansprüche zu verteidigen und zu legitimieren, um sich gegen die Notwendigkeit zu wehren, zu einer postmigrantische Gesellschaft beizutragen.

Die von der Rechten vorangetrieben Polarisierung hinderte selbst progressive Organisationen daran, offen gesellschaftliche Strukturen zu kritisieren, die Rassismus tragen und fördern. Erst die Bewegung der Betroffenen selber vor und mit BLM hat diese tief in der Schweizer Gesellschaft verankerte Abwehr gegen das Thema aufgebrochen – jetzt wird sie der «Polarisierung» bezichtigt. Ein Vorwurf, der heute tatsächlich gefährlicher als bisherige politische Auseinandersetzungen ist: Weil die akribische Kultivierung dieser Polarisierung von rechts tiefe Wurzeln geschlagen hat und die sozialen Medien und das oft verzweifelte Ringen um Aufmerksamkeit der etablierten Medien sie bedrohlich anfachen.

Was tun? Die Worte des Altmeisters Antonio Gramsci sind (leider) noch immer gültig: «Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster. Diese Zeit bringt immer moralische Unordnung mit sich, und wir müssen Menschen schaffen, die umsichtig und geduldig sind und sich nicht über jede Narrheit aufregen.»

Hinweis:
Er dankt den Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern, die zur Erarbeitung dieses Textes beigetragen haben: Monique Eckmann, Claudia Kaufmann, Rohit Jain, Tarek Naguib, Alex Sutter.