TANGRAM 48

Was ist Wissenschaftsfreiheit und warum ist sie in Gefahr?

Autoren

Barbara Lüthi ist Historikerin am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) der Universität Leipzig. Sie promovierte an der Universität Basel und habilitierte an der Universität Freiburg i. Üe. barbara.luethi@uni-leipzig.de

Patricia Purtschert ist Philosophin, Geschlechterforscherin und Kulturwissenschaftlerin. Sie ist Professorin am und Co-Leiterin des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung (IZFG) der Universität Bern. patricia.purtschert@izfg.unibe.ch

Im Rahmen der Debatten zum Gaza-Israel-Konflikt steht die gesellschaftliche Rolle der akademischen Forschung im Fokus – wie bereits bei der Covid-Pandemie, dem Ukraine-Krieg oder der Klimakrise. Damit verbunden ist eine affektive Polarisierung in Medien, Gesellschaft und Politik, welche die wissenschaftliche Arbeit infrage stellt oder gar bedroht.

Wissenschaften sind an vielen Orten der Welt unter Druck; das zeigen etwa die regelmässig zusammengestellten Berichte der Scholars at Risk. Auch in Europa ist diese Tendenz zunehmend zu beobachten. In Ungarn beispielsweise musste vor wenigen Jahren die renommierte Central European University ihren Sitz von Budapest nach Wien verlegen. Die Universität wurde Opfer einer anhaltenden und antisemitischen Kampagne gegen deren Gründer George Soros durch Ungarns rechtsextremen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Dieser hat den in Ungarn geborenen Philanthropen und Financier George Soros als Drahtzieher eines Plans dargestellt, der Europa mit liberalen Werten und verstärkter Migration zerstören wolle.

Neu und beunruhigend ist, dass solche illiberalen Tendenzen und die damit verbundene Einschränkung der wissenschaftlichen Freiheit nicht nur vorwiegend Länder mit autoritären Regimen betreffen, sondern zunehmend auch demokratisch regierte Länder erfassen. Aktuell werden die Debatten zum Gaza-Israel-Konflikt vielerorts als Arena inszeniert, in der über die gesellschaftliche Rolle der akademischen Forschung und Lehre gestritten wird. Als solche Kulminationspunkte haben sich in jüngster Vergangenheit bereits die Covid-Pandemie, der Angriffskrieg von Russland gegen die Ukraine oder die Klimakrise erwiesen. Bei all diesen Themen ereignete sich jeweils eine affektive Polarisierung in Medien, Gesellschaft und Politik, die die wissenschaftliche Arbeit infrage stellt und sie manchmal diskreditiert oder sogar bedroht.

Gesellschaftsrelevantes Wissen

Zwischen Wissenschaft und Gesellschaft gibt es viele Schnittstellen, und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nehmen dabei unterschiedliche Rollen ein: Sie stellen gesellschaftsrelevantes Wissen her, entwickeln Lösungen, geben Anleitungen und beziehen Stellung. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler treten als Fachpersonen bei Gerichtsfällen oder in den Medien auf, sie beraten Politikerinnen und Politiker oder führen staatliche Auftragsarbeiten zu so vielfältigen Themen durch wie Gleichstellung der Geschlechter, Erinnerungskultur oder fürsorgerische Zwangsmassnahmen oder arbeiteten in der Covid-19 Science Task Force mit. Mittlerweile werden – neben der staatlichen Wissenschaftsförderung und mit der Hoffnung auf einen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Mehrwert – vermehrt Stiftungsprofessuren und Projekte auch von privaten Geldgebern, Banken und Firmen finanziert. Kollaborationen zwischen Wissenschaft und Praxis werden somit nicht nur universitär, sondern auch staatlich und privatwirtschaftlich gefördert.

Der Dialog zwischen Gesellschaft und Wissenschaft ist damit einerseits ein anerkanntes und auf unterschiedliche Weise institutionalisiertes Faktum. Andererseits werden spezifische Wissenschaftszweige immer wieder dafür angegriffen, die gesellschaftliche Relevanz ihrer Ergebnisse aufzuzeigen. Gerade in Zeiten politischer Unruhen und gesellschaftlicher Krisen sind einzelne Wissenschaften enorm gefordert und exponiert. So werden etwa Klimaforschung, postkoloniale Studien oder Gender Studies immer wieder als «Ideologien» dargestellt und ihnen damit die Wissenschaftlichkeit abgesprochen. Gemeinsam ist diesen Disziplinen, dass ihre Resultate gesellschaftliche Missstände belegen und damit Argumente für dringliche Veränderungen bereitstellen können, etwa mit Blick auf strukturell verankerte soziale Ungleichheiten oder klimaschädliche Praktiken.

Dimensionen der Wissenschaftsfreiheit

Was bedeutet in diesem Kontext nun Wissenschaftsfreiheit? Dafür müssen zunächst die beiden Begriffe Wissenschaft und Freiheit kurz umrissen werden. Wissenschaft verkündet keine letztgültigen Wahrheiten, sondern macht Aussagen auf der Basis von vorhandenem Wissen, Analysen oder Modellansätzen und ist immer auch zeitlichen Veränderungen unterworfen. Wissenschaft stellt eine Art Gegenöffentlichkeit dar, wenn sie etwa mit anderen Resultaten aufwartet als dem, was politisch erwünscht ist. Für die Kultur- und Sozialwissenschaften kann das bedeuten, gängige «Meistererzählungen» zu hinterfragen, marginalisierte Perspektiven sichtbar zu machen oder Ungleichheitsverhältnisse zu thematisieren. Weil Wissenschaft auf bestimmten Vorannahmen und methodischen Entscheidungen gründet, bleibt immer ein Restzweifel bestehen. Wissenschaftliche Befunde können sich aufgrund unterschiedlicher Prämissen und Verfahren zudem widersprechen. Aus diesem Grund ist und bleibt Wissenschaft angreifbar. Oder anders gewendet: Gerade innerhalb der Wissenschaft führt die beständige Kritik an gewählten Methoden, Theorien und Fragestellungen zu fortwährenden Debatten über wissenschaftliche Vorgehensweisen und Ergebnisse. Wer diesen grundlegend streitbaren Aspekt der Wissenschaft verkennt und stattdessen einschlägige Wahrheiten fordert, missachtet den Kern wissenschaftlichen Arbeitens.

Auch Freiheit hat unterschiedliche Dimensionen. Entgegen einer individualistischen Auslegung scheint uns wichtig, dass Freiheit immer nur in Bezug auf andere und nur von diesen her denkbar ist. Somit ist auch die wissenschaftliche Freiheit von Einzelnen eng an kollektives und sozialverantwortliches Handeln geknüpft. Bezüglich der akademischen Freiheit bedeutet dies, dass nicht nur formale Regeln und Wissenschaftsstandards, sondern auch wissenschaftliche Integritätsregeln eingehalten, und der Methodenpluralismus und die Vielfalt von Themen und Herangehensweisen innerhalb der Wissenschaften anerkannt werden. Die «Freiheit der wissenschaftlichen Lehre und Forschung» ist in der Schweiz mit der 1999 in Kraft getretenen Bundesverfassung explizit als eigenes Grundrecht gewährleistet (Art. 20), auch wenn dies in einzelnen Kantonen bereits im 19. Jahrhundert in den jeweiligen Hochschulgesetzen festgeschrieben wurde. Als hilfreiche Richtlinie in Bezug auf die Wissenschaften gilt eine Erklärung der American Association of University Professors von 1915, die dann von verschiedenen internationalen Organisationen übernommen wurden, darunter die UNESCO und kürzlich die EU in ihrer Bonner Erklärung. Demnach besteht die akademische Freiheit im Prinzip aus drei Dimensionen: Freiheit der Forschung, Freiheit der Lehre und die akademische Meinungsfreiheit, sprich das Recht von Hochschullehrerinnen und -lehrern, ihre Meinung ausserhalb der Universität frei zu äussern oder sich in ihrer Eigenschaft als Bürgerinnen und Bürger in politisch zu betätigen.

Akademische Meinungsfreiheit

Der dritte Punkt – die akademische Meinungsfreiheit – mag in Zeiten politischer Unruhen und affektiver Polarisierungen den komplexesten Aspekt darstellen. Im Vorfeld Regeln für das Reden ausserhalb der Universität festzulegen, widerspricht der akademischen Vorstellung des Freiheitsgedankens. Es liegt in erster Linie an jeder einzelnen Person zu beurteilen, was der jeweiligen medialen und gesellschaftlichen Situation angemessen ist. Eine Schwierigkeit besteht für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler darin, konstruktiv und transparent mit dem Verhältnis der beiden Rollen als Forschende und Bürge/in oder Bürger umzugehen. Denn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hören nicht, auf Bürgerinnen und Bürger zu sein, wenn sie die Räume der Universität betreten oder verlassen. Obwohl Akademikerinnen und Akademiker sich an öffentlichen Debatten beteiligen können und auch sollten, können verschiedene Prämissen formuliert werden, die für ein verantwortungsvolles Handeln und Sprechen leitend sein mögen. Dies kann zum Beispiel in der Transparenz darüber bestehen, was eine persönliche Meinung ist und was die wissenschaftliche Forschungslage darstellt. Dabei kann es durchaus sein, dass wissenschaftliche Erkenntnisse politische Handlungen nahelegen – etwa, wenn die Forschung gesundheitsschädigende Folgen bestimmter Produkte oder Praktiken aufzeigt.

An dieser Stelle ist es ethisch bedeutsam, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Konsumierenden von Medienberichten klarmachen, ob sie als Expertinnen und Experten über ein Thema sprechen, zu dem sie auch geforscht haben. Oder ob sie sich als interessierte Bürgerinnen und Bürger äussern – mit einem Laienwissen und ohne wissenschaftliche Autorität in Anspruch zu nehmen. Umgekehrt lässt sich hier ein Aspekt des wissenschaftlichen Populismus ausmachen, dass nämlich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihren Status nutzen, um Forschungsfelder zu diskreditieren, in denen sie gar nicht aktiv sind. So zeigt Marion Näser-Lather, dass einige der führenden Stimmen, die in der medialen Öffentlichkeit lautstark gegen die Gender Studies agieren, keine fundierten Kenntnisse in dieser Forschungsrichtung vorweisen können. Ihnen wird aber, zum Beispiel aufgrund ihres «symbolischen Kapitals in ihrer Disziplin, auch für Gebiete Autorität im Sinne weltlichen wissenschaftlichen Kapitals zugeschrieben, die sie gar nicht vertreten».

Innerwissenschaftliche Korrektive

Innerhalb der Universität ist es zentral, sich kontinuierlich um eine offene und demokratische Diskussionskultur zu bemühen, gerade in konflikthaften Situationen. Dass diese in Forschungsprojekten und Lehre eingehalten und Qualität garantiert wird, dafür gibt es inner- und aussenwissenschaftliche Mechanismen, wie Peer Review-Verfahren, Gutachten, Beiräte, Co-Teaching und vieles mehr. Eine besondere Rolle kommt der innerwissenschaftlichen Selbstreflexion und -kritik zu, wie sie seit Jahrzehnten etwa von der feministischen, dekolonialen oder postkolonialen Wissenschaftskritik, den Science and Technology Studies, der Kritischen Theorie oder der Wissenschaftsethik geleistet wird. Darüber hinaus ist eine ständige Auseinandersetzung mit Diskriminierungen und ausschliessenden Praktiken im akademischen Raum notwendig. Damit gemeint ist nicht nur die Bereitschaft, einen diskriminierungsfreien Raum zu schaffen, sondern auch eine selbstkritische Beschäftigung mit den kolonialen, sexistischen, rassistischen, behindertenfeindlichen, antisemitischen und homophoben Traditionen dieser Wissenschaft. Dazu gehört die Frage, wie diese bis in die Gegenwart hinein nachwirken und welche strukturellen Veränderungen nötig sind, um Universitäten und Forschungsinstitutionen demokratischer und partizipativer zu gestalten.

Auf Wissenschaftsfreiheit bestehen

Medien sind wichtig, weil sie Bürgerinnen und Bürgern Informationen und einen Überblick über Ereignisse vermitteln und bei der Meinungsbildung Hilfestellungen leisten können. Gleichzeitig sind Medien Agenda Setter, die ökonomischen Bedingungen unterliegen und politische Haltungen widerspiegeln. Diese Aspekte haben sich in den letzten Jahren akzentuiert: Zum einen, weil die Medien unter erhöhtem wirtschaftlichem Druck oft einer kurzfristigen Aufmerksamkeitslogik gehorchen, um Clickbaits zu generieren. Zum anderen, weil die Medienlandschaft sich homogenisierte und rechtspopulistische Kreise vermehrt Medienerzeugnissen dafür nutzen, ihre politische Weltsicht kundzutun.

Die Wissenschaften sind somit von einer Ökonomisierung und dem Verständnis davon, was «nützlich» für die Gesellschaft sei, bedroht. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass die in den Wissenschaften bestehenden Restzweifel von Populisten und den (neuen) Medien genutzt werden, um komplexe Inhalte und Sachlagen zu vereinfachen oder Wissenschaften anzugreifen. Beispielsweise scheinen sich Kontext und Kontextualisierung – als eines der leitenden Denkprinzipien in den Kultur- und Sozialwissenschaften – gegenwärtig zu einem Unwort entwickelt zu haben. Mit Bezug auf die Ereignisse in Israel und Gaza wird behauptet, Kontext einzufordern suggeriere eine Relativierung von Gewalt. Kontextualisierung bleibt aber ein notwendiges Instrument, um Vorgänge und Entscheidungen zu rekonstruieren, unterschiedliche Perspektiven sichtbar zu machen und gegeneinander abzuwägen und um die Mythologisierung von Ereignissen zu verhindern.

Diese Ausgangslage erschwert nicht nur die Arbeit von Medienschaffenden, die sich weiterhin um sorgfältig recherchierte Inhalte bemühen, sondern verunsichert auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Umgang mit den Medien – insbesondere in gesellschaftlich und politisch exponierten Feldern. Wenn mittlerweile viele Medien einer Polarisierung und Diffamierung der Wissenschaften durch journalistisch «gehypte» Narrative Vorschub leisten, etwa indem bestimmte Fächer, Ansätze und Theorien als «ideologisch» oder «aktivistisch» gewertet werden, sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufgerufen, mediale Übersetzungsarbeit zu leisten, Vereinfachungen und Kurzschlüssen differenziertere Perspektiven entgegenzusetzen und auf der Komplexität von Analysen zu insistieren. Auch und gerade das ist gegenwärtig ein wichtiger Beitrag zur fortwährenden Verwirklichung von Wissenschaftsfreiheit.

Die Quellen und bibliographischen Hinweise sind im PDF angegeben.