Autor
Linards Udris ist Oberassistent am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (IKMZ) und Leitungsmitglied des Forschungszentrums Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) an der Universität Zürich. l.udris@ikmz.uzh.ch
Das Interview führte Theodora Peter
Gemäss dem Medienforscher Linards Udris übernehmen die professionellen Medien in der Schweiz eine wichtige Rolle für den Dialog in der Gesellschaft. Voraussetzung dafür ist ein Journalismus, der nicht aus kommerziellen Gründen Klicks generieren muss.
Wie manifestiert sich gesellschaftliche Polarisierung in der Schweizer Medienlandschaft?
Linards Udris: In der Schweizer Medienlandschaft fällt die Polarisierung relativ gering aus. Das zeigt sich, wenn man die drei Ebenen näher betrachtet, in denen sich eine Polarisierung manifestieren könnte: Die Medienbesitzenden, die Inhalte sowie das Publikum. Angefangen bei der Frage, wem die Medien gehören, ist festzustellen, dass es heute kaum Verflechtungen mit der Politik gibt. Das war früher anders, als es noch sogenannte Parteimedien gab. Doch diese Bindungen zu den politischen Parteien haben sich gelockert – mit ein paar wenigen Ausnahmen wie z. B. «die Weltwoche», deren Herausgeber der SVP angehört.
Wie sieht es auf der Ebene der Inhalte aus?
Hierzu stellt sich die Frage, ob es Medien gibt, die vor allem linke oder rechte Positionen aufgreifen. Das ist in der Schweiz kaum der Fall. In einer Studie haben wir die Abstimmungsberichterstattung unter die Lupe genommen. Im Falle von Abstimmungen könnte man erwarten, dass diese Themen stark aufgeladen sind. Doch summa summarum zeigte sich, dass die Berichterstattung in den allermeisten Medien tatsächlich ausgewogen ist. Ausnahmen sind Titel wie die «WOZ Die Wochenzeitung», die eher linke Positionen oder «Die Weltwoche», die eher rechte Positionen vermitteln.
Grundsätzlich sind Medien aus kommerziellen Gründen interessiert an Themen, die beim Publikum auf Resonanz stossen. Innerhalb der Nachrichtenwerte sind dies konfliktreiche und emotionale Themen, die sich zuspitzen lassen.
Und wie steht es mit der Polarisierung beim Publikum?
Auch auf dieser Ebene lässt sich wenig Polarisierung konstatieren. Das zeigen Resultate aus den jährlichen Umfragen des Reuters Institute Digital News Report, die wir jeweils für die Schweiz auswerten. Dabei ordnen sich die Befragten auf einem Rechts-Links-Skala ein und geben ihre Mediennutzung an. Es zeigt sich, dass die reichweitenstarken Medien über ein Publikum verfügen, das stark dem Schweizer Durchschnitt entspricht. Man kann somit nicht sagen, dass es Medien gibt, die nur von Links- bzw. nur von Rechtsdenkenden genutzt werden. Gegenbeispiel sind die USA: Dort werden gewisse Kanäle eher von Linken oder eher von Rechten genutzt, was auch empirisch messbar ist. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass sich die gesellschaftlichen Phänomene in den USA nicht einfach auf die Schweiz übertragen lassen, weil hier die Grundvoraussetzungen völlig anders sind.
Nimmt in der Schweiz das Misstrauen gegenüber den sogenannten Mainstream-Medien zu? Worin zeigt sich dies allenfalls?
Nehmen wir als Beispiel die Corona-Pandemie: Dies war eine Krisenphase mit grosser Unsicherheit, in der Menschen Orientierung suchten. Generell werden in solchen Phasen häufig gesellschaftliche Institutionen kritisiert. Die Forschung zeigt, dass Medien als Teil dieser Institutionen gesehen werden – respektive als Teil der «Elite». Dabei lässt sich beobachten, dass Menschen, die der Politik misstrauen, oft auch den Medien misstrauen. Deren Argwohn bezieht sich somit nicht per se auf die Medien, sondern auf gesellschaftliche Mehrheitsverhältnisse. Generell ist das Vertrauen bzw. Misstrauen in die Medien schwierig zu messen. Diese vermeintlich einfache Frage lässt sich nicht immer mit Ja oder Nein beantworten. Aus der Forschung weiss man, dass eine gewisse Skepsis durchaus angebracht und wichtig ist. In der Schweiz vertrauen 40–45 Prozent der Bevölkerung dem Grossteil der Medien. Das heisst nicht, dass die übrigen 55 Prozent den Medien misstrauen. Ein Viertel sagt «weder noch» dazu. Ein Misstrauen ist somit lediglich bei einem Viertel vorhanden und geht, wie erwähnt, oft mit einem Unbehagen gegenüber der Politik einher.
Gibt es Tendenzen zur Entstehung von «parteiischen» Medienplattform, die sich auf ein bestimmtes Publikum konzentrieren?
Ein Trend zu einem Revival von parteinahen Medien lässt sich nicht feststellen. Auch sieht man in der Schweiz keine starke Verbreitung von sogenannt «alternativen Medien», die Propaganda, Desinformation und Verschwörungserzählungen einsetzen. Bei einer Umfrage während der Pandemie hat unser Forschungszentrum den Teilnehmenden eine Liste mit solchen «Alternativmedien» vorgelegt. Lediglich 10 Prozent gaben an, ab und zu eines dieser Medien zu nutzen. Weitere 10 Prozent hatten schon von diesen Medien gehört. Anders gesagt: 80 Prozent hatten null Ahnung von der Existenz von Plattformen wie «Breitbart», «Russia Today», «Tichys Einblick», «Compact-Magazin» oder «Les Observateurs».
Immer weniger Menschen konsumieren klassische Nachrichten. Welche Folgen hat dies im Kontext der Polarisierung?
Die sogenannte Newsdeprivation – also die Unterversorgung mit Nachrichten – kann einhergehen mit einem Misstrauen gegenüber Medien. Eine andere Erklärung ist ein generelles Desinteresse an News, das nicht zwingend mit einem Unbehagen gegenüber Politik oder Medien verbunden ist. Man kann somit nicht behaupten, Polarisierung sei ein Haupttreiber abnehmender News-Nutzung. Es ist eher so: Die Norm, dass es wichtig und cool ist, sich zu informieren, ist heute nicht mehr ausgeprägt. Darüber hinaus können gewisse Themen wie der Nahostkonflikt zu einer Themenverdrossenheit führen. In der Forschung wird dies unter dem Stichwort Nachrichtenvermeidung diskutiert. Das betrifft aber nicht nur Menschen, die generell wenig Nachrichten konsumieren, sondern durchaus auch «News-Junkies», die vorübergehend gewisse Themen meiden, weil sie schon viel Inhalt dazu konsumiert haben.
Die Bedeutung von Social Media als Informationsquelle nimmt zu. Welche Gefahren sind damit verbunden?
News haben auf Social Media einen schweren Stand. Sie stehen dort in Konkurrenz mit allen möglichen Themen und Quellen. Vor allem jüngere Menschen gehen davon aus, dass sie via ihren Freundeskreis mitkriegen, wenn etwas Wichtiges passiert – und dafür nicht aktiv Newskanäle abonnieren müssen. Damit ist erstens die Gefahr verbunden ist, dass doch nicht so viele Nachrichten ankommen. Und zweitens, dass diese Auswahl sehr selektiv ist. Wer sich über Instagram oder TikTok informiert, läuft eher Gefahr, auf eine unseriöse Quelle hereinzufallen. Auch sinkt die Bereitschaft, professionellen Journalismus oder eine bestimmte Medienmarke zu unterstützen. Kommt dazu, dass sich Plattformen wie Google immer grössere Stücke vom Werbekuchen sichern. Das ist fatal für die klassischen Medien, denen immer weniger Werbeeinahmen zufliessen, um ihre Leistungen zu finanzieren. Positiv an Social Media ist hingegen, dass es Gruppen, die in den Medien nicht gehört werden, ermöglicht, sich zu vernetzen und Aufmerksamkeit zu erregen. Dadurch erhalten Benachteiligte jedoch nicht zwingend mehr öffentliche Resonanz.
Trotz hoher inhaltlicher Qualität der Medien in der Schweiz nimmt die Vielfalt der Themen in der Berichterstattung ab. Führt dies dazu, dass gewisse Minderheiten gar nicht mehr vorkommen?
Ja und nein. Im Zusammenhang mit dem Ausländerthema, das in den Deutschschweizer Medien einen hohen Stellenwert hat, kommen Minderheiten oft vor. Doch werden sie eher als Problem dargestellt und pauschalisiert. Es wird vor allem über Minderheiten gesprochen, sie selber kommen weniger und selten differenziert zu Wort.
Welche Rolle spielen öffentliche und private Medien in der Schweiz für den Dialog in der Gesellschaft?
Sie sollten eine grosse Rolle spielen, und sie nehmen diese Aufgabe immer noch wahr. Nach wie vor nutzen grosse Teile der Bevölkerung professionelle Medien. Dazu gehören auch Boulevard- und Pendlermedien, die Themen oft zuspitzen, aber über professionelle Standards verfügen und keine Desinformation betreiben. Sie geben den verschiedenen Akteuren eine Bühne und prüfen deren Argumente. In diesem Sinne sind sie ganz wichtig als Arenen, in denen die öffentliche Debatte moderiert wird. Ein Beispiel: Anlässlich der Abstimmung zur Burka-Initiative 2021 verglichen wir die Medienberichterstattung mit den Inhalten auf Twitter, wo die Debatte viel polarisierter verlief. Auf der sozialen Plattform schalteten sich kaum konservativere muslimische Stimmen ein, vor allem keine muslimischen Frauen. Hingegen gingen die Medien für ihre Berichterstattung aktiv auf die muslimische Gemeinschaft zu. Das zeigt, dass sich professionelle Medien darum bemühen, einem gewissen Spektrum von Akteuren Resonanz zu vermitteln und aktiv deren Stimmen einzuholen. In den sozialen Medien hingegen setzen sich nur die lauten Stimmen durch, und die «Normalos» fallen unter den Tisch.
Was können Medien ganz allgemein gegen eine zunehmende gesellschaftliche Polarisierung ausrichten?
Die Medien sind ein Stück weit abhängig von der politischen Kultur und dem politischen System eines Landes. Vieles von dem, was sich in den Medien widerspiegelt, geht daraus hervor. So ist etwa in Frankreich, wo das politische System auf den Präsidenten zugeschnitten ist, die Personalisierung stärker ausgeprägt als in der Schweiz. Wie die Parteien miteinander umgehen, schlägt sich in den Medien nieder. Insofern haben politische Akteure eine grosse Verantwortung dafür, auf welche Art sie Diskussionen führen. Die Medien wiederum müssen genügend stark sein, um der Politik Paroli bieten zu können. Medien sollten nicht aus kommerziellen Gründen gezwungen sein, emotionale Statements zu pushen, um mehr Klicks zu generieren. Dazu braucht es einen Journalismus, der auf wirtschaftlich gesunden Beinen steht. Dies würde ermöglichen, dass Medien noch stärker die Stimme der Vernunft spielen. Wichtig finde ich zudem, dass man versucht, einen gesunden Umgang mit Unsicherheit und Unwissenheit zu finden. Dazu braucht es Medienkompetenz und kritisches Denken – in den Schulen und bei Erwachsenen. Wir sollten noch stärker lernen, dass man nicht immer alles weiss und sich nicht immer für eine Position entscheiden muss.