Autorin
Denise Traber ist Assistenzprofessorin für politische Soziologie an der Universität Basel. Zu ihren Forschungsgebieten gehört die Polarisierung in Mehrparteiensystemen. denise.traber@unibas.ch
Das Interview führte Theodora Peter
Die Polarisierung hat verschiedene Facetten. Im öffentlichen Diskurs wird der Begriff zunehmend für eine bestimmte Art von Debatte verwendet. Für die Forscherin und Polarisierungs-Expertin Denise Traber gilt es zu unterscheiden zwischen einer vergifteten Debatte und der Frage, ob die Gesellschaft deswegen auseinanderdriftet.
Wie definieren Sie den Begriff Polarisierung im Kontext der öffentlichen Meinung?
Denise Traber: In der Politikwissenschaft wird der Begriff Polarisierung ursprünglich zur Charakterisierung des Parteiensystems verwendet. Dabei geht es um die Frage, wie die Parteien ideologisch aufgestellt sind und wie weit links und rechts sie auseinander stehen. Für die öffentliche Meinung bezieht sich die Definition auf die Frage, ob man eine linke oder eine rechte Partei wählt. Dabei geht es auch darum, wie stark die politischen Meinungen in der Bevölkerung auseinanderdriften. In neuerer Zeit interessiert zudem der Gegensatz zwischen Menschen mit verschiedenen politischen Einstellungen: also, wie stark die Ablehnung von Menschen mit einer anderen Meinung ist. Dies bezeichnet man als affektive Polarisierung. Sie zeigt sich vor allem bei gewissen Fragen, die starke Emotionen hervorrufen, wie dem Klimawandel oder der Migration. Im öffentlichen Diskurs wird der Begriff Polarisierung jedoch auch zunehmend für eine bestimmte Art von Debatte verwendet. Dabei wird betrachtet, wie unvereinbar die Positionen sind und wie emotional die Debatte verläuft. Diese Definition ist zwar nicht wissenschaftlich, aber sehr geläufig, weshalb wir sie nicht auslassen können.
Was ist unter den Begriffen ideologische Polarisierung und affektive Polarisierung konkret zu verstehen? Welche Rolle spielen dabei Identitäten?
Für die Forschung ist die Entwicklung in den USA sehr wichtig. Dort gibt es seit mehreren Jahrzehnten eine ideologische Polarisierung: Die Linke – in den USA die Liberalen oder Demokraten – sind stärker nach links und die Rechten – die Republikaner – eher nach rechts gerückt. Bei der ideologischen Polarisierung geht es um Einstellungen, zum Beispiel in Bezug auf Gleichstellung von Minderheiten oder Abtreibung. Oder anders ausgedrückt: Sogenannt liberale Werte stehen konservativen Werten gegenüber. Wichtig ist die Feststellung, dass es in den USA zu einem sogenannten Social Sorting gekommen ist: Die Wählerschaft der Demokraten und der Republikaner wurde immer homogener. Man weiss aber nicht genau, ob die Leute tatsächlich extremer geworden sind oder ob sich zunehmend Wählende mit ähnlichen Einstellungen in die beiden Parteien hineinsortiert haben. Auch ist nicht klar, ob sich das ideologische Auseinanderdriften der Pole in den letzten Jahren noch verstärkt hat.
Klar ist, dass sich das Zusammengehörigkeitsgefühl in der jeweiligen Gruppe verstärkt hat. Die eigene Identität wird über die Zugehörigkeit zu einer der beiden Parteien definiert. Das führt zu einer positiven Bewertung der eigenen Gruppe, aber gleichzeitig auch zur Ablehnung der anderen Gruppe – sowohl emotional wie auch in Bezug auf Werte und Lebensstil. Mit der affektiven Polarisierung ist diese emotionale Komponente gemeint. Das funktioniert aber nur in einem System mit zwei Parteien wie in den USA, in der auch eine räumliche Segregation möglich ist. Man wohnt in homogenen Nachbarschaften und hat dadurch kaum Kontakt mit Andersdenkenden.
Lässt sich diese affektive Polarisierung auch in Europa und in der Schweiz feststellen?
Die Entwicklung in den Vereinigten Staaten lässt sich nicht einfach auf Europa und die Schweiz übertragen. Erstens gibt es hier nicht zwei Gruppen, die sich gegenüberstehen, und zweitens wird die Identität nicht so stark über eine politische, respektive parteipolitische Zugehörigkeit definiert. Zwar zeigt die Forschung, dass linke Wählende rechte Wählende eher ablehnen und umgekehrt. Aber dabei ist keine starke Veränderung feststellbar. Für die Schweiz lässt sich sagen, dass die Verbindung zu einer eigenen Gruppe oder Partei stärker ist als die Ablehnung der anderen Gruppe. Man spricht dabei von einer starken Ingroup-Zugehörigkeit, im Gegensatz zur Ablehnung der Outgroup. Diese Feststellung bezieht sich ohnehin einzig auf Parteien. Denn politische Zugehörigkeit ist nur eine von möglichen Identitäten. Über andere Gruppen – ausserhalb der Parteien – weiss man viel weniger. Ich arbeite derzeit an einem Forschungsprojekt, in welchem wir die Zugehörigkeit, zu sozialen Klassen anschauen. Erste Resultate dazu werden in ein paar Monaten vorliegen.
Nimmt die gesellschaftliche Polarisierung in der Schweiz im Vergleich mit dem Ausland zu?
Wenn man rein die ideologische Polarisierung betrachtet, ist die Schweiz den umliegenden Ländern voraus. Die relativ starke politische Polarisierung, die wir in der Schweiz kennen, entstand bereits in den 1990er-Jahren. In den 1980er-Jahren waren neue linke Parteien wie die Grünen aufgekommen sowie linke Themen wie die internationale Solidarität, die Gleichstellung der Geschlechter oder liberale Gesellschaftsthemen. Der Aufstieg der Rechten kann zum Teil mit einer Gegenbewegung respektive einem Backlash erklärt werden. In der Folge rückte die SVP nach rechts und die Linke blieb eher links – im Vergleich mit dem Ausland sogar sehr links. In der neueren Forschung gibt es keine Anzeichen dafür, dass sich diese Pole in den letzten 10 bis 20 Jahren nochmals stärker auseinander bewegt haben. In den Nachbarländern Deutschland und Frankreich setzte diese politische, ideologische Polarisierung später ein.
Welchen Einfluss hat der internationale Kontext – wie zum Beispiel der Nahostkonflikt – auf die Polarisierung der Debatte?
Wie eingangs erwähnt, taucht der Begriff der polarisierten Debatte immer stärker in den Medien auf. Gemeint ist damit ein unzivilisierter Austausch oder verhärtete Fronten, was sich auch in den Medien und Online-Foren zeigt. Im Kontext einer Verunsicherung – durch Kriege oder andere Bedrohungen wie den Klimawandel – kommt es durchaus zu gehässigeren Debatten. Die aktuelle Medienlogik, die durch Emotionen Klicks generiert, trägt das Ihre dazu bei. Schockierende und provozierende Aussagen führen zu Aufmerksamkeit, was rechtspopulistischen Messages dienlich ist.
Ich finde es mitunter schwierig, wenn diese Dynamik als Polarisierung bezeichnet wird. Ich würde eher von einer konfliktreichen Debatte sprechen. Doch offensichtlich gibt es die Wahrnehmung einer Polarisierung, was sich auch in Umfragen zeigt. Mir ist jedoch wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die politischen Einstellungen – also das, was wir von der Politik wollen – relativ stabil sind und sich nur über einen sehr langen Zeitraum verändern.
Wie wirkt sich Polarisierung auf den sozialen Zusammenhalt aus?
Als Forscherin müsste ich zuerst analysieren, was sozialen Zusammenhalt ausmacht. Wenn ich die Medien betrachte, fällt mir auf, dass eine nüchterne Diskussion tatsächlich schwieriger geworden ist. Vielleicht ist in der Schweiz der Wunsch nach Harmonie zu gross. Oder wir sind es uns nicht gewohnt, starke Auseinandersetzungen zu führen. Es gilt zu unterscheiden zwischen einer vergifteten Debatte und der Frage, ob die Gesellschaft deswegen auseinanderdriftet. In der kleinräumigen Schweiz läuft man sich immer wieder über den Weg, sei es im Wohnquartier oder in einem Verein. Die soziale Segregation ist in der Schweiz im Vergleich mit anderen Ländern nicht so gross. Insofern stehen wir nicht an einem Kipp-Punkt. Zudem gibt es mehrere Parteien, und die politischen Kräfte der Mitte decken einen Drittel des Wählerspektrums ab. Das politische System, das auf Kompromiss, Ausgleich und Konkordanz ausgerichtet ist, wirkt sehr stabilisierend. Und als Ventil dient die direkte Demokratie. Zwar sind die Debatten jeweils heftig, sie flauen aber nach einer Abstimmung wieder ab. Es gibt keine Anzeichen, dass es Gruppen gibt, welche diese Entscheidungen nicht anerkennen.
Wann wird Polarisierung zu einer Gefahr für die Gesellschaft, insbesondere im Kontext von Rassismus und Ausgrenzung von Minderheiten?
Eine Gefahr besteht dann, wenn demokratisch gefällte Entscheide nicht mehr anerkannt werden. Wenn also beispielsweise nach einer verlorenen Abstimmung die Regeln der Politik infrage gestellt würden. Die demokratischen Institutionen sind wichtig, und sie können ein Gegengewicht bilden. Demokratische Rechte sind auch Minderheitenrechte. Gefährlich wird es auch, wenn Rechte nur noch für eine Gruppe gelten sollen. So plädiert zum Beispiel in Frankreich das Rassemblement National dafür, dass Sozialleistungen nur noch an französische Staatsbürgerinnen und -bürger ausgerichtet werden.
Ob dies nun eine Folge von Polarisierung ist, ist schwer zu sagen. Rassismus oder Formen von Nationalismus, die mit Fremdenfeindlichkeit einhergehen, haben ähnliche Ursachen wie die Polarisierung als Ganzes – nämlich das Erstarken von rechtsradikalen Parteien und eine gewisse Normalisierung eines rechten Diskurses. Ich erachte dies eher als Teil einer Polarisierung und nicht als Folge. Forschungen zeigen, dass es zu gewissen Normverschiebungen kommt, sobald rechtspopulistische Parteien ins Parlament einziehen. Eine breitere Abstützung von rechten Parteien im Parlament sendet das Signal an die Bevölkerung, dass deren Positionen eigentlich ganz akzeptabel sind.
Gibt es auch positive Aspekte von Polarisierung?
Eine gewisse Polarisierung kann der Normalisierung von extremen Positionen auch entgegenwirken. So beinhaltet affektive Polarisierung, wie bereits ausgeführt, eine Ablehnung von anderen Einstellungen. In diesem Sinne kann es einen gewissen Schutz bewirken, wenn sich eine Gegenbewegung formiert. Ein Beispiel: Die Demonstrationen gegen die AfD in Deutschland kann man als Polarisierung verstehen, aber auch als Schutzmechanismus gegen die Verbreitung rechtsextremer Positionen betrachten.
Wenn die Ablehnung von ideologisch Andersdenkenden zunimmt: Welche Folgen hat dies für die Prävention gegen Rassismus?
Wenn man eine Normalisierung von xenophoben Haltungen als Teil der Ideologie sieht, macht dies die Rassismusprävention wohl generell schwieriger. So stelle ich es mir nicht einfach vor, an die Solidarität zu appellieren, wenn gewisse Verhaltensweisen oder Aussagen als «normaler» gelten.
Begünstigt die von gewissen politischen Akteuren und Medien praktizierte politische Instrumentalisierung des Kampfs gegen Rassismus und Antisemitismus die Polarisierung?
Diese Instrumentalisierung ist Teil einer Strategie, die derzeit zu funktionieren scheint. Und sie ist Teil einer polarisierten Debatte, in der es darum geht, wer die Wertehoheit behaupten kann. Welche Folgen dies haben wird, ist heute schwierig zu beantworten.
Gibt es noch weitere Aspekte zur Debatte rund um Polarisierung, die Ihnen wichtig erscheinen?
Ich finde es grundsätzlich wichtig, dass wir mehr über die positiven Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenhaltes reden. Wenn man über Polarisierung spricht, gehen diese Aspekte gerne vergessen. Zum Beispiel haben sich die Schweizerinnen und Schweizer in einer Abstimmung für die Ehe für alle ausgesprochen. Allgemein wird die Debatte zur Gleichstellung sexueller Identitäten liberaler geführt als noch vor ein paar Jahren. Wir verfügen in der Schweiz über viele Gemeinsamkeiten. Die meisten Menschen leben friedlich zusammen. Und wenn es eine aufgeheizte Diskussion gibt, dann beruhigt sich diese auch wieder.