Autoren
Monique Eckmann ist emeritierte Professorin der Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Westschweiz, Genf. Monique.eckmann@hesge.ch
Michele Galizia ist Leiter der Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB). Michele.galizia@gs-edi.admin.ch
Das Interview führte Michele Galizia
Monique Eckmann begleitet die Arbeiten der EKR und der FRB seit deren Bestehen. Die Soziologin arbeitet seit Jahrzehnten zu Rassismus und antirassistischer Bildung, sowie zu Identität und Erinnerung. Im Gespräch mit Michele Galizia, Leiter der FRB, blickt Monique Eckmann auf ihre Erfahrungen und kommende Herausforderungen.
Monique Eckmann, wir haben uns 1997 in Dublin kennen gelernt, vor mehr als 20 Jahren. Warum dort und nicht in der Schweiz?
Ich stellte dort die Arbeit mit ACOR SOS-Racisme, dem ersten Beratungsangebot für Rassismusopfer in der Schweiz vor (1). Damals bestanden wenig Kontakte zwischen den Aktivist/innen, den Forschenden und den Behörden. In der Schweiz entwickelte sich das Bewusstsein für das Thema eigentlich erst mit dem Beitritt der Schweiz zum Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (CERD), dem Abstimmungskampf für die Antirassismus-Strafnorm (Art. 261bis StGB), der Einsetzung der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) 1995, und der Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB) 2001.
Sie sind wenige Jahre nach dem 2. Weltkrieg geboren worden und in einer jüdischen Familie in Zürich aufgewachsen. Hat die Auseinandersetzung mit der Shoah Ihr Engagement gegen Rassismus geprägt?
Obwohl ich mich als Jugendliche sehr betroffen fühlte, und wir auch intensiv über den Eichmann-Prozess diskutierten, setzte ich mich damals nicht weiter mit dem auseinander, was man damals noch nicht Shoah/Holocaust, sondern die «6 Millionen Toten» und die «KZs» nannte. Im Gymnasium befasste ich mich mit Antischwarzen-Rassismus, mit Martin Luther King und der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Im Mai 1968, ich war Studentin der Soziologie in Genf, standen für mich Fragen von Ungerechtigkeit und Ungleichheit im Fokus – also «Klasse» eher als «Rasse».
Damals waren Menschenrechte kein Thema, weder in der Forschung noch in der Öffentlichkeit. In einer geteilten Welt kritisierte die Rechte den kommunistischen Block wegen der fehlenden bürgerlichen und politischen Rechte, die Linke setzte sich für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ein. Ihre heute zentrale Bedeutung erlangten die Menschenrechte erst mit dem Ende des Kalten Krieges und der UNO-Konferenz in Wien von 1993, an der die Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte erklärt wurden.
Ihre Forschungs- und Lehrtätigkeiten entwickelten sich zunehmend in Richtung Rassismus und Antisemitismus.
In den 1970/80er-Jahren befasste ich mich mit Armut, Exklusion und der Konstruktion von Devianz, Interkulturalität und Rassismus. In den 1990er-Jahren konnte ich im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 40 «Gewalt im Alltag und organisierte Kriminalität» das erwähnte Projekt zur Wirkung von Rassismus durchführen. Im Gegensatz zur gängigen Forschung über Stereotype und Einstellungen, die das Thema aus der Perspektive der Handelnden anging, konzentrierten wir uns auf die Perspektive der Betroffenen: ausgehend von ihren Erfahrungen mit Rassismus im Alltag, suchten wir Handlungs- und Bildungsoptionen zum Schutz und Wiederherstellen ihrer Würde und Rechte. Dabei ist die Rolle der Bystander, der Zuschauer, zentral: Oft schweigen sie oder sind passiv, ohne einzugreifen. Sie können aber zu einer Veränderung beitragen und mit ihrem Handeln, oder eben Nichthandeln, die Situation neu definieren.
Dieses und nachfolgende Projekte, etwa zu Rechtsextremismus und zu rassistischen Vorfällen im Alltag von Jugendarbeit und Schule (2) haben uns erlaubt, Theorie und Praxis zu verknüpfen und so die Auseinandersetzung mit Rassismus wissenschaftlich zu etablieren.
In Ihrer Jugend haben Sie Antisemitismus eher als Thema der Vergangenheit betrachtet, heute ist es eines Ihrer zentralen Arbeitsbereiche.
Ende der 1990er-Jahre wurde die Schweiz gezwungen, sich mit den «nachrichtenlosen Vermögen» und somit ernsthaft mit ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen. Die unschönen Diskussionen damals waren gespickt mit antisemitischen Untertönen. Auch die Kritik an der israelischen Politik, gerade in linken Kreisen, war zunehmend hasserfüllt. All dies verunsicherte uns, Antisemitismus wurde greifbar. Es zeigte sich, dass in der Schweiz weder das post-nationalsozialistische noch das post-koloniale Erbe genügend aufgearbeitet worden war.
Die Mitwirkung an internationalen Lehrveranstaltungen zu Rassismus und antirassistischer sozialer Arbeit machte uns nicht nur das Ausmass von europäischem Rassismus gegenüber Jenischen, Sinti, Roma, Schwarzen oder Migranten/innen offensichtlich, sondern auch Antisemitismus in Geschichte, Erinnerung und Gegenwart. Das betraf mich – als Lehrtätige, als Frau, als Schweizerin und als Jüdin.
Die bereits damals intensive Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit Europas und einer Black Perspective auf unsere postkoloniale Gesellschaft zwang uns zur einer Hinterfragung der eigenen Position: Woher spreche ich, was sind meine individuellen und kollektiven, tradierten Erfahrungen? «Farbe zu bekennen», [«Farbe bekennen» spielt auf den Titel eines 1986 erschienenen Buchs afro-deutscher Autorinnen an (Katharina Oguntoye, May Opitzund andere) ] so wurde mir klar, ist Voraussetzung dafür, zu Rassismus zu forschen und zu lehren: Ich bin einerseits privilegierte Weisse aus der schweizerischen Mittelschicht, andererseits aber auch Frau und Mitglied des jüdischen Kollektivs im post-nationalsozialistischen Europa, in der Schweiz.
Die Auseinandersetzung mit Geschichte und Erinnerung des Zweiten Weltkriegs hat sich damals europa- und weltweit intensiviert. Dies führte im Jahr 2000 zur Stockholm Declaration (die Schweiz war mit einer von Bundesrätin Ruth Dreifuss geleiteten Delegation mit dabei), die alle beteiligten Staaten zur selbstkritischen Betrachtung der Geschichte aufrief und zu Erinnerung und Bildung über den Holocaust/die Shoah verpflichtete. (3) Aus diesem Forum entstand die heutige International Holocaust Remembrance Alliance IHRA.
Sie haben die Schweiz von 2004-2018 in der pädagogischen Kommission der IHRA vertreten. Diese spielt eine wichtige Rolle bei der Definition einer zeitgemässen Auseinandersetzung mit dem Holocaust.
Die Kommission hat Empfehlungen für Schulen und Gedenkstätten erarbeitet und dabei auch immer mehr andere Genozide und Verbrechen gegen die Menschheit einbezogen. Vor 15 Jahren war etwa der Genozid an den Roma nur ein marginales Thema in der IHRA. Heute jedoch wird von den Bildungsangeboten zur Shoah verlangt, stets auch der Verfolgung von Roma einen Platz einzuräumen.
Eingehend wurde auch diskutiert, ob Vergleiche der Shoah mit anderen Verbrechen zulässig sind. Heute ist die Frage weniger ob, sondern vielmehr wie und warum verglichen wird: Geht es um das Verstehen von Prozessen, Ideologien, Gesetzen, ist das legitim; geht es jedoch um Minimisieren oder Banalisieren vom einen oder anderen Verbrechen, ist das problematisch. Die heutige Devise der IHRA bezeugt so einen Schritt Richtung Universalismus: «A world that remembers the Holocaust. A world without genocide».
Die Forschung zur Vermittlung des Holocaust und die Entwicklung von Lehrmitteln und Ausstellungen zu den Nazi-Verbrechen haben aber auch zur Erkenntnis beigetragen, dass Bildung über die Shoah nicht gegen den heutigen Antisemitismus wirkt. Um diesem zu begegnen, ist eine spezifische antisemitismuskritische Bildung zu entwickeln.
Die Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban von 2001 stellt eine wichtige Zäsur im internationalen Einsatz gegen Rassismus dar. Sie ist aber umstritten. Sie waren Mitglied der namhaften, von Claudia Kaufmann geleiteten Delegation der Schweiz, an der neben staatlichen auch Vertreterinnen der Zivilgesellschaft beteiligt waren.
Trotz aller Polemik hat die Konferenz wichtige Grundsätze etabliert: etwa die Anerkennung von Sklaverei und Sklavenhandel als Verbrechen gegen die Menschheit, oder das Konzept der multiplen Diskriminierung. Leider fand die Debatte über das Aktionsprogramm (4) zur Umsetzung auf nationaler und lokaler Ebene nie statt: Die Konferenz endete zwei Tage vor den Anschlägen von 9/11.
Eine Arbeitsgruppe der Konferenz befasste sich mit dem Begriff «Rasse», bzw. «race». Die Staaten der EU wollten den Begriff streichen oder höchstens in Anführungszeichen erwähnen. Dagegen wandten sich vehement afrikanische und südamerikanische Länder. Sie kritisierten, dass damit ihre Geschichte geleugnet würde; die ersatzlose Streichung stelle eine Verneinung ihrer historischen Erfahrung dar; Europa habe Rassismus praktiziert, ihn mit Rassentheorien zu legitimieren versucht und lehne nun den Begriff ab, aus Betroffenheit über die eigene jüngste Geschichte. Die Schweizer Delegation konnte zu einem Kompromiss beitragen, der Begriff wurde unter Hinweis auf seine soziale Konstruktion beibehalten.
Im Rahmen des NGO-Forums kamen Betroffene mit eindrücklichen Zeugenaussagen zu Wort, jedoch standen die Anliegen der Opfergruppen oft in gegenseitiger Konkurrenz und führten zu konfrontativen und schmerzlichen Debatten. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt kam es immer wieder zu Hass-Sprache. Es war ein Schock, dass ausgerechnet an einer internationalen Konferenz gegen Rassismus handfester Antisemitismus vorkam. Mich hat nicht nur betroffen, dass sich NGOs dazu hinreissen liessen, sondern vor allem, dass sich nur wenige NGOs distanzierten. Die Zivilgesellschaft, auf die ich immer gezählt hatte, erwies sich als nicht immer verlässlich. Die Diskussionen von damals haben die antirassistische Bewegung erheblich gespalten und geschwächt, auch in der Schweiz.
Sie setzen sich sowohl hier in Europa wie auch vor Ort kritisch mit dem Konflikt in Israel-Palästina auseinander.
Bis zum Krieg von 1967 war der Staat Israel für uns Jüdinnen und Juden eine Stütze, er half uns, über das Trauma der Shoah hinwegzukommen. Doch mit der Besetzung des Westjordanlands und dem Libanonkrieg von 1982 wurde das massiv in Frage gestellt. Erst die Friedensbewegung und die Osloer Abkommen von 1993 weckten Hoffnung auf Frieden und Versöhnung, doch erwies sich das leider rasch als Illusion.
Unsere Antwort in friedensbewegten Organisationen war die Schaffung von Dialogräumen, zwischen Juden/Jüdinnen und Arabern/-innen, hier und dort. Dialog heisst Zuhören, Anerkennen der Emotionen, Narrative, Bedürfnisse und Rechte der «Andern», heisst Konflikte austragen mit sich selbst und dem Andern, Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen. Auch der Dialog mit den «Eigenen», hier der innerjüdische Dialog, war mir stets ein Anliegen. Dabei habe ich erlebt, dass die Konflikte mit den «Eigenen» oft härter sein können als diejenigen mit den «Andern».
Wir weigern uns, in pro-israelische oder pro-palästinensische Gruppen aufgespalten zu werden, sondern vertreten, eine pro-beide Perspektive: innerjüdischer Dialog, Dialog mit der palästinensischen Welt und der Dialog mit den «Dritten», den nicht-direkt-Beteiligten sind notwendig und komplementär. Denn so gut ich die Solidarität mit den Palästinensern/-innen und ihren legitimen Forderungen verstehen kann, Pauschalisierungen hier wie dort helfen nicht weiter. Was ich nicht akzeptiere, sind Ressentiments und der Hass auf Juden/Jüdinnen und das Unverständnis für das Bedürfnis auf einen sicheren Staat.
Das Thema Rassismus war in der Schweiz lange tabuisiert. Auf Seiten der Behörden hat man nur zögerlich für dieses gesellschaftliche Thema Verantwortung übernommen, erst langsam wird auch die Auseinandersetzung mit strukturellem Rassismus möglich. Dies auch dank der Arbeit der NGOs.
Rassismus ist immer noch ein schwieriges Thema, insbesondere auch weil sich Rassismus oft latent, unbewusst, äussert. Auch deshalb werden die Rassismuserfahrungen der Betroffenen immer wieder geleugnet. Das gilt für alle Formen von Rassismus, ob Antisemitismus, Antiziganismus oder Anti-Schwarze Rassismus. Es besteht noch immer nicht genügend Bewusstsein dafür, dass Rassismus ein reales gesellschaftliches Problem ist; dass rassistische Vorfälle vorkommen, und dass man sich auch darauf vorbereiten kann, um handlungsfähig zu sein, also die Opfer, ihre Integrität, Rechte und Würde zu schützen. Antirassistische Bildung ist wichtig, genauso aber braucht es institutionelle Massnahmen, insbesondere in den Bereichen Polizei, Justiz, Gesundheit oder Bildung. Hoffentlich hilft die Black Lives Matter-Bewegung, die aktuell den alltäglichen und strukturellen Rassismus öffentlich sichtbar macht, dieses Bewusstsein zu stärken.
Wir lernen erst die Schweiz und Europa sowohl aus post-nationalsozialistischem als auch aus post-kolonialem Kontext heraus zu verstehen. Wie verortet sich vor diesem Hintergrund die Frage des Antisemitismus und seine Beziehung zu anderen Rassismen?
Tatsächlich sind die Nachwirkungen beider Ideologien und Machstrukturen immer noch aktiv. Gerade deshalb gehören alle Rassismen unter ein gemeinsames Dach, und sollten gemeinsam angegangen werden, doch hat jede partikulare Form von Rassismus eine eigene Geschichte, Dynamik und Konstellation, die in ihrer Spezifität und in ihrem Kontext beachtet werden muss, das gilt auch für Antisemitismus. Nun gibt es eine umstrittene Frage in der postkolonialen Diskussion: Sind Juden/Jüdinnen zur dominanten Gruppe oder zu den Verfolgten bzw. Unterdrückten zu zählen, gehören sie also zu den «Weissen» oder zu den «People of Color»? Meines Erachtens trägt die jüdische Erfahrung beides: Seit Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich die jüdische Bevölkerung der weissen Mehrheitsgruppe angenähert und lebt in relativer Sicherheit in Europa; trotzdem haben die jahrhundertelange Verfolgungen Nachwirkungen, auch heute ist sie antisemitischen Angriffen, Rhetorik und Ressentiments ausgesetzt. Der heutige Antisemitismus ist jedoch – im Gegensatz zu anderen Rassismen und zu früher – nicht wesentlich durch Diskriminierung durch staatliche Institutionen geprägt, sondern durch Hass-Verbrechen von Personen und Organisationen.
Diese doppelte Erfahrung, als Teil der Mehrheit wie der Minderheit, sollte es erlauben, Dilemmata und Ambivalenzen beider Seiten zu verstehen, beidseits Selbstkritik zu üben. Dies hat die Entwicklung meiner Bildungs-Perspektive mitgeprägt: das Angehen von Dilemmata der Macht und Privilegien der dominanten Gruppen einerseits, der Umgang mit den Dilemmata der Minderheit, der Erfahrung von Gewalt und Diskriminierung andererseits. (5)
So sehr alle Opfererfahrungen anerkannt werden müssen, sie sollten nicht (allein) als Ausdruck einer Identität verstanden werden. Opfer-Kollektive sind geprägt durch gemeinsame Erfahrung, ein gemeinsam getragenes Schicksal ermöglicht Widerstand und stärkt die Beteiligten. Opfergruppen sind Schicksalsgemeinschaften, in denen gemeinsame Erinnerung eine identitätsstiftende Rolle spielt, jedoch nicht essentialistische ethnische oder nationale Identitäten.
Zum Abschluss: Was ist heute die grösste Herausforderung?
Zwei Aspekte sind dringend: Einerseits braucht es verstärkte Allianzen unter den Minderheiten, Dialog-Räume für gegenseitige Anerkennung und Solidarität, inklusive einem konstruktiven Dialog zwischen postkolonialen Theorien und antisemitismuskritischen Perspektiven. Andererseits braucht es einen inklusiven und multiperspektivischen Erinnerungs-Dialog in der Gesellschaft, der unterschiedliche Narrative zulässt und sowohl eine partikulare wie eine universalistische Perspektive respektiert. Das bedeutet auch, sich von der polarisierenden Entweder-Oder-Sicht zu lösen und zu lernen, Ambivalenzen und Ambiguitäten auszuhalten.
Fussnoten:
(1) Eckmann M., Salberg A.C., Bolzman C., Grünberg K. (2001) De la parole des victimes à l'action contre le racisme. Genève : éd. IES.
(2) Eckmann M., Sebeledi D., Bouhadouza V. & Wicht L. (2009). L’incident raciste au quotidien. Représentations, dilemmes et interventions. Genève : éditions ies.
(3) www.holocaustremembrance.com> about-us> stockholm-declaration
(4) www.frb.admin.ch> Bestellungen und Publikationen> Weltkonferenz gegen Rassismus 2001 Durban
(5) Eckmann, M. (2004) : Identités en conflit, dialogue des mémoires. Enjeux identitaires des rencontres intergroupes. Genève : éd. ies.